Der Führer is amused
– Nehmen wir mal an, das United Kingdom und das Deutsche Reich hätten nach Dünkirchen einen Waffenstillstand zu beider Nutz und Frommen geschlossen … Davon geht Jo Waltons Roman „Die Stunde der Rotkehlchen“ aus. Brillantes Buch, meint Thomas Wörtche.
Ach, Merry Old England – satte, grüne Wiesen, am tiefblauen Himmel die Sonne, die Vögel singen, und „als wäre das alles noch nicht genug, bog die Straße alle paar Meilen in ein kleines Dorf mit einer Kirche, einem Pub, einer Post und reetgedeckten Häusern ab … eines verfügte über ein Herrenhaus, ein anderes über einen Ententeich, ein drittes über einen Dorfanger oder eine große Eiche, unter der auf einer Bank zwei alte Männer saßen“. Und natürlich passt zu dem Idyll in Hampshire, dass auf Castle Farthing, dem Landsitz der Eversleys, ein Wochenendgast, Sir James Thirkie, ermordet worden ist und Inspector Peter Anthony Carmichael mit seinem tüchtigen Sergeant Royston von Scotland Yard aus London herbeigeeilt kommt. Denn das Opfer war ein wichtiger Politiker, vielleicht sogar der Premierminister in spe. Wir sind im Mai des Jahres 1949. Die Insel scheint sich von den Folgen des II. Weltkrieges gut erholt zu haben. Die Klassengesellschaft scheint stabil, die Menschen wissen, wo ihr gesellschaftlicher Platz ist. Würdige Butler und rotwangige Landleute bevölkern das Bild.
So trügerisch beginnt der Roman „Die Stunde der Rotkehlchen“ der walisischen Schriftstellerin Jo Walton. Je weiter man liest, desto mehr Risse tun sich auf, man stolpert bei der Lektüre. Ja, es ist bekannt, dass es auch im United Kingdom massive antisemitische Strömungen gab, aber dass es Juden verboten war, Land zu erwerben, war mir neu. Und so enthüllt sich bald, dass unser Roman in die Kategorie „alternate history“ fällt, eine Literaturform, die sich besonders in Angelsachsien großer Beliebtheit erfreut, vor allem dann, wenn die Zeit um den II. Weltkrieg behandelt wird: Len Deightons „SS/GB“ gehört in diese Richtung oder Robert Harris’ „Vaterland“, die beide von einem anderen Ausgang des Krieges ausgingen und die möglichen Folgen einer solchen Verschiebung auf dem historischen Millimeterpapier hochgerechnet haben.
Jetzt also Jo Walton, die mit einer Trilogie – die nächsten Bände wünschen wir uns möglichst zügig – zu ergründen versucht, wie sich auch auf der Insel der Faschismus breitgemacht haben könnte. Und damit natürlich auch, wie er sich breitmachen könnte – denn egal, ob historischer Roman oder what-if oder Science-Fiction: Im Grunde beschäftigen sich alle diese literarischen Formen mit der Gegenwart.

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In Waltons Universum haben Großdeutschland und das Vereinigte Königreich nach Dünkirchen einen „ehrenhaften Frieden“ geschlossen, dessen Architekt der ermordete Lord Thirkie war. Der Führer erfreut sich großer Beliebtheit in England und kommt gern zu Wagner-Premieren nach Covent Garden, während Kim Philby (der berühmte Sowjetspion, siehe dazu auf CM) Staatssekretär ist. In der Sowjetunion tobt immer noch der Krieg, in einer endlosen Schlacht um Kursk wechselt die Lage täglich. Die USA haben ihre Grenzen für Emigranten hermetisch verschlossen. Juden sind im UK gesellschaftlich geächtet, unterliegen wirtschaftlichen und politischen Restriktionen, sind aber noch nicht an Leib und Leben gefährdet. Das könnte sich ändern, wenn sich herausstellte, dass ein Jude der Mörder von Castle Farthing ist. Denn da ist praktischerweise einer zu Hand: David Kahn, der Mann, den das schwarze Schaf der stockkonservativen und ultrareichen Eversleys, Tochter Lucy, trotz der Missbilligung ihrer Eltern geheiratet hat.
Inspector Carmichael, schwul und deswegen von seinen Vorgesetzten jederzeit steuerbar (das glauben sie zumindest), hat einen klaren politischen Auftrag: David Kahn als Mörder festzunehmen. Was interessierten Kreisen die Möglichkeit bieten wird, das gesellschaftliche Klima noch mehr an das als positiv empfundene des Deutschen Reiches anzugleichen. Denn das UK ist eine hochkapitalistische Klassengesellschaft und der Zugriff auch auf jüdische Vermögen ist verlockend.
Waltons Roman ist intelligent ausgefuchst. Die am Anfang aufgebaute Landhausidylle mit Mord ganz à la Agatha Christie wird durch die politischen Ungeheuerlichkeiten demontiert. Die Lösung des Mordfalles, ganz im Stil des Golden Age der Detektivliteratur geschildert, wird zur Farce. Und so entsteht ein bitterböses Bild der Sorte von Ideologiebildung, für die der klassische britische Landhauskrimi steht: Als ob es „unschuldige“ Mordspiele gäbe, die von a priori integeren Detektiven gelöst werden könnten – während außen herum das Töten und Morden längst ubiquitär und flächendeckend geworden ist. Jo Walton erledigt die cozies mit sarkastischer Süffisanz.

Filmstill aus: Mein Führer mit Helge Schneider (Quelle: Moviepilot, © X Verleih AG)
Unbehaglich
„Die Stunde der Rotkehlchen“ ist kein amüsant-gemütliches Spiel mit Geschichte und Form, sondern ein sehr unbehagliches und unbequemes Projekt. Unter der vergifteten Harmlosigkeit der Form werden Befindlichkeiten und Dispositionen spürbar, die auch ganz aktuell sind: Waltons fiktives Großbritannien ist schon früh „thatcherisiert“, die Schere zwischen arm und reich ist weit offen, die Ressentiments gegen Minderheiten wie Juden schlagen gerade bei der unteren Mittelklasse durch: Es gibt im Roman einen beiläufigen Dialog zwischen der herrschaftlichen Haushälterin und Lucy über deren Gatten David, den die ansonsten im Genre als „schrullig-snobistische Hausangestellte“ für ein paar Lacher zuständige Standardfigur pausenlos als „Judenbengel“ bezeichnet und sich an der Machtlosigkeit der Herrschaftstochter labt, mit der diese für ihre Liebesheirat bezahlt. Das ist noir im fiesesten Sinn. Beiläufig, aber enorm wirkungsvoll. So wie der ganze Roman eine einzige böse Sprengfalle für nette Konsense ist.
Thomas Wörtche
Jo Walton: Die Stunde der Rotkehlchen (Farthing, 2006). Roman. Deutsch von Nora Lachmann. Berlin: Golkonda Verlag 2014. 289 Seiten. 16,90 Euro. Verlagsinformationen zum Buch, zum Blog der Autorin.
Dieser Artikel ist eine leicht veränderte Version der Fassung aus der Jüdischen Allgemeinen.