Geschrieben am 6. Juni 2015 von für Carlos, Crimemag

Carlos

carlos42

Liebe Ostdeutsche!

Petrus, Paulus und Jakobus und so schrieben Briefe, an die Kolosser, Thessalonicher und Galater und so. Heute schreibt Carlos einen Brief. An seine ostdeutschen Schreibkolleg_innen:

Ja, ich weiß, die Wünsche vom letzten Mal wollen erfüllt werden. Aber das muss noch eine Woche warten.

  1. Ich bin noch mit der statistischen Auswertung befasst.
  2. Mag ich z. B. über den dicken Ex-Kanzler, wenn er denn im Sterben liegt, nicht allzu sehr abledern,
  3. verbietet sich momentan Fußballkram, da einen das Realinferno Fifa sowie links überholt.

Daher nutze ich die Zeit für einen Brief:

Liebe ostdeutsche Schreibkolleginnen und -kollegen,
ich finde, wir aus dem Westen sind nicht alle schlecht.
Wie ich darauf komme? Ich lese gerade einen Kriminalroman, der in einer großen sächsischen Stadt spielt, und zwar zur Wendezeit. Genauer will ich jetzt nicht werden, dafür hat CultMag andere Formate, wenn die Redaktion will, bespreche ich ihn dort mal mit Ross und Reiter. Außerdem bin ich noch nicht durch. Ich bin auf Seite 146 von über dreihundert. Und eben, auf Seite 144, ist ein schieres Wunder geschehen: Zum ersten Mal wird ein Westdeutscher skizziert, der – ein bisschen – sympathisch zu sein scheint. Und ich muss gestehen, bis dahin werden die Bewohner der Bonner Republik so dargestellt, dass man rassistisch sagen würde, wenn das ginge. Aber es geht ja nicht.

Liebe Landsleute, ich bezweifle nicht, dass sich ein beträchtliches Saupack damals gen Osten aufgemacht hat. Ich glaube gern, dass es Knallchargen aus der zweiten Reihe waren, die plötzlich Eure Vorgesetzten wurden, dass Makler und Erben unerträglich aufgetreten sind.
Aber ALLE? Wirklich alle?
Und natürlich sonnengebräunt ist er, der Wessi, ist ja auch immer verreist, ohne Sinn und Verstand!
Laut ist er und unverschämt, schreit sogar einen Volkspolizisten an, der sich das, weil er ein guter Kerl ist, souverän anhört und humorvoll kontert.
Wessis finden eine Leiche, bis zur Vernehmung zu bleiben verweigern sie, weil sie ins Westwochenende wollen. Sie äußern das mit größter Herablassung.
Die einzige Westdeutsche einer studentischen WG, ist auch die einzige, die nicht heldenhaft gegen Skinheads marschiert, Bottroper Primitivlinge fordern gröhlend und randalierend alten Familienbesitz zurück, würdelose Imbissbuden westlicher Provenienz zerstören das Stadtbild, der riesengroße Betrug am tapferen Volk mieft schon aus allen Ecken. Mein Pech, beim Dagegenreden: Ich war nicht dabei, ich habe es nicht erlebt.

Aber zwei Dinge weiß ich tatsächlich:

  1. Es stimmt nicht, dass man sich in Westdeutschland kaum die Hand schüttelt und deshalb in Ostdeutschland zwanghafte Hygienehypochondrien entwickelt. Es stimmte auch vor 25 Jahren nicht.
  2. Der sympathische Westdeutsche ist also gen Osten gezogen, weil er in Baden-Württemberg keine Karrierechancen mehr hatte. Und warum hatte er keine mehr? Weil er zwei Mal gegen Kommunalpolitiker ermittelt hat! Kommunal(!!!)politiker. Daraufhin wurde ihm eine Falle via Alkoholkontrolle gestellt, sein Suff aber nicht dienstrechtlich verfolgt, sondern zur ständigen Erpressbarkeit des Armen genutzt.

Nö.

So war das nicht in der alten Bundesrepublik.
Tut mir leid, aber da war ich ja dabei.
Reihenweise sind Politiker durch Ermittlungen und Enthüllen gestürzt worden. Das mit dem Erpressen und so, das war, es sei gestattet, eher bei euch so, oder?

Wollte ich mal sagen.
Wessicarlos

Carlo Schäfer

Mehr von Carlos gibt es hier. Zu seinen eBooks Das Bimmel ist ein hochloder Diffel. Aus den »Carlos«-Kolumnen. und  Tod dreier Männer bei CulturBooks.

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