1 Kunstpostkarte, 1 Woche, 1 Kolumne: Michael Zellers SEH-REISE! Michael Zeller besitzt einen großen Stapel von Kunstkarten, die er bei seinen Galerie- und Museumsbesuchen angesammelt hat. Jede Woche fischt er eine Karte heraus und hängt sie sich in die Wohnung, wo der Blick immer wieder an ihr hängen bleibt. Was darauf zu sehen ist, welche Beziehung sich zwischen Werk und Autor entwickelt, darüber berichtet Michael Zeller wöchentlich in CULTurMAG. Heute: „Der englische Gruß” von Veit Stoß.
Dreihundert Jahre im Sack
Um 1500 erfasst den europäischen Menschen eine Erschütterung, deren Ausmaß wir Heutigen kaum mehr nachvollziehen können. Die Welt gerät – wortwörtlich – aus den Fugen: Sie wird entthront als Zentrum unseres Universums.
Vom Garten seines Klosters an der Ostsee aus beobachtet Nikolaus Kopernikus die Sterne am Himmel und misst ihre Wege aus. Heiliges Erschrecken packt ihn, als er entdecken muss: Nicht die Erde ist es, um die sich unser Kosmos dreht. Die Sonne ist’s, und unser Planet ist ein bloßer Wanderstern, der sich um ihre Feuermassen bewegt – ein Sternlein unter vielen.
Doch ehe der Fund dieses klaren Geistlichen aus Thorn Allgemeingut wird und als die „Kopernikanische Wende“ hingenommen werden muss, hat sich bereits der Seefahrer Kolumbus auf den Weg gemacht, nach Westen – immer westwärts. Indien will er finden – und landet in Amerika.
Mein Gott, was für Erschütterungen! Die Welt ist nicht mehr wie sie war. Geschrumpft ist sie, endlich geworden. Wir Europäer sind nicht mehr unter uns. Wir sind unter anderen.
Und als sei das nicht allemal genug für einen Zeugen dieser Weltenwende um 1500: Jetzt zerbricht auch noch der letzte Halt, die Einheit der christlichen Kirche. In der Höhe des ewigen Raumes thronte bisher der Eine Gott, der alles in seinen Händen hält, Leben und Tod, das Gute wie das Böse. Ab sofort soll ich unter zweien mein Heil suchen dürfen – oder müssen. Schwindel im Kopf. Wie kann ein einzelner Mensch damit je fertig werden?
Wer will es glauben, wenn er den „Englischen Gruß“ des Veit Stoß in den lichten Höhen der Nürnberger Lorenzkirche hängen sieht, dass dieses fromme Schnitzwerk den Kulturschock von 1500 verkörpert wie kaum ein zweites?
Schon mit dem Werk-Auftrag von 1517 und seiner Themenstellung gerät der Bildschnitzer zwischen Gestern und Morgen, ohne auch nur das mindeste zu ahnen. Erteilt wird er ihm von dem Kaufmann Anton Tucher, erster Mann im Rat der Stadt Nürnberg. Noch einmal soll auf seinen Wunsch Maria als Mutter Gottes monumental ins Bild gesetzt werden, strahlend im Rund eines Rosenkranzes, der Gründungsmythos der christlichen Religion: Marias Begegnung mit dem Erzengel Gabriel, der ihr vom Himmel herab die Botschaft überbringt („verkündet“), sie werde nächstens den Heiland gebären, den Sohn Gottes.
In der ungewöhnlich kurzen Zeit von nur fünfzehn Monaten liefert Veit Stoß seine Arbeit ab. Der Auftraggeber ist so zufrieden, dass er sogar einen ganzen Gulden „trinckgelt“ springen lässt für den Meister. Kaum aber ist der gewaltige Rosenkranz in die Höhen des steilen gotischen Chores gezogen, schlägt sich Anton Tucher, der Kaufmann, der Politiker, auf die Seite der Reformation, seit sie in der Freien Reichsstadt immer größeren Zulauf bekommt. Zu einem Hauptpunkt seiner Kritik am Althergebrachten macht der neue Glaube gerade die Marienverehrung und den Rosenkranz-Kult. 1525 erklärt der Rat den Protestantismus zur verbindlichen Religion in Nürnberg. Das Kirchenpersonal wird ausgewechselt. Ein Priester des neuen Glaubens darf in St. Lorenz von der Kanzel aus mit dem Finger hinter sich auf den frisch installierten „Englischen Gruß“ zeigen und die Mutter Gottes als „güldene Grasmagd“ schmähen. Bald verschwindet sie in einer Umhüllung. Für annähernd dreihundert Jahre bleibt der „Englische Gruß“ den Blicken der Menschen entzogen. Veit Stoß selbst konnte in den letzten Lebensjahren sein eigenes Werk schon gar nicht mehr sehen. Dass er im Alter blind wurde, mag ihm ein Trost geworden sein.
Und was hatte er mit seinem Engels-Gruß für ein großartiges Werk geschaffen! Zwei überlebensgroße, vollplastische Figuren (von 2,30 Metern Höhe): frontal gestellt Maria, im Halbprofil der Erzengel Gabriel. Ihre Begegnung, die „Verkündigung“ der Geburt des Gottessohnes, begrenzt die bildhauerischen Möglichkeiten des Schnitzers aufs äußerste. Die leichte Neigung des Kopfes von Maria, die vor die Brust gehaltene Hand zeigen ihre Erregung angesichts dieser nicht nur für sie existentiellen Botschaft. Sie ist so erschrocken, dass ihr das Buch aus der Rechten zu Boden fällt.
Bei Gabriel hatte es Veit Stoß ein wenig leichter. Der erhobene Kopf mit ins Weite gerichtetem Blick und die pathetisch ausgestreckte Schwurhand machen ihn für einen Kirchenbesucher kenntlicher, der ja nur aus der Ferne und in Aufsicht die beiden zu Gesicht bekommt. Stoß, der es in seinen Plastiken meisterhaft versteht, den Gewändern – flatternden Lendentüchern, auffliegenden Mänteln – ein ausdrucksgeladenes Eigenleben mitzugeben, gewinnt für seine Standfiguren durch die vertikal ausschwingenden Stoffbahnen eine zusätzliche Bewegtheit hinzu, wobei er auch hier, wegen der Fern-/Aufsicht, großflächig arbeiten muss. Gerade bei ausgehendem Tageslicht fielen mir auf der Fotografie die ungeheuren Hell-Dunkel-Kontraste auf, die Veit Stoß seinem handlungsarmen Thema abgerungen hat. Im Zusammenspiel mit der farblichen Fassung der Großplastik hat der Bildschnitzer und Maler seinen schwierigen Auftrag auf das Bewundernswerteste erfüllt und sich seinen Gulden „trinckgelt“ redlich verdient.
Mögen die Madonnen von Tilman Riemenschneider, dem Kollegen, der nebenan in Würzburg für den Bischof schnitzte, den Schmelz des Sinnlichen für sich haben, mögen sie weicher und lieblicher sein: Keiner in seiner Zeit hat die meist arg begrenzte Bildhaftigkeit seiner religiösen Themen so exzessiv genutzt, ja überzogen wie Veit Stoß. Diese formale Heftigkeit eröffnete ihm die Möglichkeit, über das Christliche hinauszuführen in die Leidenschaftlichkeit von Gefühlen, von Schmerz und Leid und Wonne, von Hoffnung und Verzweiflung, die für Menschen aller Zeiten gelten. Sogar bis in unsere Gegenwart, für die, in großen Teilen Europas jedenfalls, das Christentum als verbindliche Lebens-Grundlage ausgedient hat.
Längst ist die Verkündigung des Veit Stoß natürlich wieder in ihrer ganzen Schönheit zu bewundern – allein, es fehlt der Glaube.
Michael Zeller
Veit Stoß: Der englische Gruß. Hängende Holzplastik. 3,70 x 3,20 Meter, 1517/18. Lorenzkirche Nürnberg.
Michael Zeller, Schriftsteller mit einem umfangreichen, mehrfach ausgezeichneten literarischen Werk (zuletzt, 2011, Andreas Gryphius-Preis). 2013 sind von ihm erschienen die Gedichte wie es „anfängt: wie es endet” und der Prosaband „ABHAUEN! Protokoll einer Flucht” bei CulturBooks. Im Herbst 2014 ist seine Erzählung „BruderTod” erschienen. Zur Homepage des Autors geht es hier. Copyright des Textes: Michael Zeller.