Der Ausdruck der Hände
Er ist ein junger Fixstern am japanischen Literaturhimmel, jetzt hat Fuminori Nakamura mit „Der Dieb“ den ersten Auftritt im deutschsprachigen Leseraum. Alf Mayer fühlt sich an große Namen des Noir erinnert.
Kühl und präzise wie ein Film von Robert Bresson, minimalistisch, existentialistisch, dabei sinnlich und metaphysisch, mit einem Ende für die Magengrube im Kopf, das ist Fuminori Nakamuras „Der Dieb“. Wir erleben ihn sogleich in Aktion, wie er auf einen Bahnsteig in Tokio mitten im Gewühl einem wohlhabenden Mann die Geldbörse aus der Manteltasche zieht. Wir sind ganz nah dabei, so nah, wie Bresson das 1959 im Aufbruchsjahr der französischen Nouvelle Vague in seinem „Pickpocket“ schockierend-faszinierend vorexerzierte – und wie es dann Nagisha Oshima 1969 mit einem Bücherdieb in „Tagebuch eines Diebes aus Shinjuku“ (Shinjuku Dorobō Nikki) für die damalige Zeit extrem hip paraphrasierte. Deutlich zu sehen sind in dem Film Bücher von Dostojewski.
Fuminori Nakamuras Taschendieb ist ein Ich-Erzähler, er raubt uns Distanz und so manche Sicherheit, zieht hinein in seine nihilistische Welt. Auf dem Bahnsteig dieses Bahnhofs in Tokio, wo wir ihn kennenlernen, ist er der einzige, „der etwas anderes im Sinn hat, als von A nach B zu fahren“. Er beobachtet, taxiert, sucht sich seine Opfer. Eines nach dem anderen. Viele am Tag. Immer wieder erlebt er, immer wieder braucht er diesen einen bestimmten Moment:
„Ein Schauer durchfuhr mich von den Fingerspitzen bis zur Schulter, angenehme Wärme breitete sich in meinem Körper aus. Obwohl viele Menschen um mich herumstanden, war im Wirrwarr der sich kreuzenden Blicke kein Auge auf mich gerichtet; ich schien wie Luft für sie zu sein. Die Spannung in den Fingern durfte jetzt nicht nachlassen. Ich barg die Brieftasche in der Falte der Zeitung, nahm diese in die rechte Hand und steckte sie in die Innentasche meines Mantels. Langsam atmete ich aus. Während ich spürte, wie meine Körpertemperatur wieder anstieg, beobachtete ich aus den Augenwinkeln die Umgebung. Das elektrisierende Gefühl beim Berühren des verbotenen Objekts, die Benommenheit nach dem Eindringen in die Privatsphäre einer fremden Person waren immer noch da.“ (Seite 7)
Ein junger Meister des Noir
Fuminori Nakamura, der bereits 2002 mit seinem Erstlingsroman „Gun“ (Jū; 銃)den Shinchō-Nachwuchspreis gewann und der nun mit „Der Dieb“ seinen ersten deutschen Auftritt hat, ist vielfach preisgekrönt. Er gilt als Wunderkind, als „chotto hen“, ein wenig verrückt, wie Carsten Germis 2013 in seinem Porträt „Ein junger Meister des Noir aus Japan“ herausgearbeitet hat.
Nakamura als Erzähler ist ebenso versiert und ausgebufft wie sein Protagonist. Schon gleich hat er uns in der Tasche, lässt uns in einem fremden Leben blättern wie in einer aufgefächerten Brieftasche. Erinnerungen und Rückblenden verschränken sich in „Der Dieb“ mit Aktion und Introspektion. Da gibt es die education professionnelle, bei der ein Mentor namens Ishikawa maßgeblich war, da gab es einen aus dem Ruder gelaufenen Raubüberfall, zu dem sie gedungen waren, da gab es einen politischen Skandal mit ermordeten Politikern; da ist die Gegenwart mit einem Jungen, den er beim Ladendiebstahl beobachtet, ihm aus der Patschte hilft, schließlich für ihn die Lebensmitteldiebstähle erledigt, ihn anlernt und ein Nicht-Verhältnis mit dessen sich prostituierender Mutter eingeht. Da gibt es viele Einblicke in die geheime Welt der Taschendiebe und ihrer Techniken, wie seit dem in der Union Station von Toronto handelnden kanadischen „City Man“ (2001) von Howard Akler nicht mehr. Etwa so: „Wie bei allem, was sich bewegt, gibt es auch für das Herausfischen eines Portemonnaies eine ideale, harmonisch fließende Bewegung. Nicht nur der Winkel, auch die Geschwindigkeit ist entscheidend.“ (S. 10)
Und da taucht jener Yakuza-Boss von damals wieder auf, der den Dieb zu immer komplizierteren Aktionen zwingt, ihn mehr und mehr unter Druck setzt, Unmögliches verlangt – und schließlich als die dunkelste Figur den Roman ins Rabenschwarze treibt. Dieser Kizaki, ein Dieb von schrankenlosem Ausmaß, wird sagen: „Die Hölle ist überall… Ein einzigartiges Vergnügen… Ich habe noch einiges vor. Appetit auf mehr, viel mehr…“
Ausgerechnet das Wallstreet Journal
„Suri“ (掏摸; Der Dieb) ist Nakamuras sechster Roman, er erhielt dafür 2010 den Kenzabure Ōe-Preis. Die US-Ausgabe „The Thief“ wurde – keine schlechte Metapher für ein Buchs übers Stehlen – vom Wallstreet Journal zu den besten Büchern des Jahres 2012 gezählt und als ein „chilling philosophical thriller“ begrüßt. Vielleicht solcher Sätze wegen: „Wenn ich meine Hände nach dem Eigentum fremder Leute ausstreckte, fühlte ich in der Anspannung des Moments so etwas wie Freiheit. Ich fühlte, dass es möglich war, mich von der beengenden Umgebung zumindest ein ganz klein wenig zu lösen.“ Bei Walter Serner (siehe seine Erzählung „Der Vicomte“ in dieser CrimeMag-Ausgabe), in der Zwischenzeit der beiden Weltkriege, klang das in der Erzählung „Angelisches“ bei einem gerade erfolgreichen Hochstapler so: „Das Leben hatte einen Abend lang wieder einen Sinn bekommen.“
Nakamura ist ein radikaler Erzähler, den die Grenzverletzung reizt, das Gefangensein des Menschen zwischen dem Guten und dem Bösen, die Devianz. „Ich bin an den geheimen Tiefen des Menschlichen interessiert, fokussiere mich gerne auf die Psychologie eines Zustands, so denke ich, kann ich diesen Abgründen näher kommen.“ Er berste vor Ideen, er empfinde das nicht als Talent, mehr als eine Krankheit, sagte er einmal Studenten. Seine Geschichten entstammen einem schwarzen Universum. Noch ins gleißendste Licht kann jederzeit ein Schatten fallen. Als der Dieb einmal durch eine vermüllte Unterführung geht und einen Müllsack streift, springt der „mit einer unfreundlichen Elastizität zurück, wie dunkles Fleisch“. Bei Regen ist ihm, als ob Nadeln vom Himmel fallen und unbarmherzig in die Haut stechen. Die Zeit fühlt sich wie etwas Drückendes. Feuchtes, Warmes an. Weltekel, Ennui, ihr, die ihr heute lebt, lasst eure Hoffnung fahren, das ist die Grundierung von Nakamuras Romanen. Soweit japanische Kritiken mir zugänglich sind, wird dies durchaus als Zeitkommentar verstanden. Wie in Bressons Film „Pickpocket“ ist auch in Nakamuras Welt die Gesellschaft weit krimineller als der Dieb, der ihre Gesetze bricht. Wie bei Bresson ist das auch bei Nakamura spirituell gemeint, herrscht da eine unterschwellige, kühle Ironie. Schwarzdüster. Einmal, dies ein Referenz an Bressons letzten Film „L’Argent“, stellt der Dieb sich vor, welche Wege das von ihm gestohlene und berührte Geld schon gegangen ist und noch gehen wird. Nakamuras aktuellstes Buch, „Kyodan X“ (Cult X), im Dezember 2014 erschienen, erzählt auf 576 Seiten vom Terrorismus eines religiösen Kults, verschränkt Buddhismus, Christentum, Hinduismus, Physik, Kosmologie und Biologie. Die große Frage darin sei: „Hat Gott oder Mensch diese Welt geschaffen?“
„Der Dieb“ ist reinstes Noir, aber noch nicht das Schwärzeste, was Nakamura je geschrieben hat. In „Evil and The Mask“ (Aku to Kamen no Rūru) sagt ein Vater seinem Sohn am elften Geburtstag, „Wenn du 14 bist, werde dir die Hölle zeigen“ und erzieht ihn zu einem Monster, einer japanischen Version von Hitler. 2014 erhielt Nakamura den „David Goodis Award“. Einer seiner literarischen Leitsterne ist Kafka, ihm gemeinsam ist der Fatalismus, mit dem seine Protagonisten die ihnen aus der Hand gleitenden Umstände und ihr Schicksal akzeptieren, ihre Verdammnis. Ein weiteres Vorbild, Fjodor Dostojewski, wird vom Yakuza-Boss Kizaki so zitiert: „Dann braucht es noch etwas fürs Verbrechen – Eier. Kennt ihr den Roman Verbrechen und Strafe? Wohl kaum. Aber ich sage euch: Jener Raskolnikow hatte keine Eier in der Hose.“ (S. 51)
Robin Hood, das greift zu kurz
Der Dieb, das stimmt, stiehlt von den Reichen. Aber das gibt ihm nicht die Mission und Erfüllung eines Robin Hood (wie ihn manche amerikanische Kritiken sehen), es ist schlicht ökonomischer, gut gekleidete Opfer tragen mehr Geld mit sich herum. Es gibt Sätze in dem Roman, hallo „Wallstreet Journal“, wie: „Wenn es keinen Besitz gäbe, gäbe es auch keinen Diebstahl. Logisch, oder? Solange auch nur ein einziges Kind auf der Welt Hunger leiden muss, ist jeder Besitz Diebstahl.“ – Quatsch, sagt der Erzähler zu seinem Mentor Ishikawa: „Damit können wir uns doch nicht rechtfertigen!“
Sie üben eine Profession aus, die sie von allen anderen unterscheidet. Mehr noch: sie ausgrenzt, zu Außenseitern macht. Mit dem, was sie tun und wie sie es tun, und weil sie es immer wieder tun müssen, haben sie die Gefilde und Grenzen normalen menschlichen Zusammenseins überschritten – sie sind Verdammte. Mehr noch: Sie spüren es, wissen es, fordern ihr Schicksal geradezu heraus. Sie sind Fatalisten. Metaphysiker. Und Suchtcharaktere.
„Schon bald empfand ich die Anspannung beim Stehlen als etwas unwiderstehlich Verlockendes, Lustvolles. Ich genoss das Prickeln in meinen Fingern, wenn sie die Dinge fremder Leute berührten, genoss die Wärme danach, die mich jedes Mal durchströmte. Es war ein Akt der Ablehnung jeglicher Werte, jeglicher Bindungen.“ (S. 182)
Der Lehrmeister des Diebs fasst das einmal so zusammen:
„Wenn du zockst oder irgendeinen Investitionsschwindel aufziehst, spürst du die gleiche prickelnde Anspannung. In dem Moment, wo das Gesetz übertrittst, wo du mit einer Frau aus dem Yakuza-Milieu schläft oder sonst mit einer, die total crazy und unberechenbar ist – in dem Moment wird dein Bewusstsein extrem stimuliert, es zieht dich rein, und du hebst ab … Diese verrückte Erfahrung, dieser Rausch gibt sich aber nicht mit dem einen Mal zufrieden. Er verlangt nach Wiederholung, nach Abwechslung, gierig, unersättlich. Er treibt dich an, wie ein zweites Ich in dir. Will noch einmal dieses Gefühl, noch einmal jenes Gefühl auskosten … In meinem Fall ist es die Kunst des Klauens. Das gibt mir den größten Kick.“ (S. 30)
Wenn man alles stehlen kann, anderen Menschen alles fortnehmen, woran will, woran kann oder mag man dann selbst noch festhalten? Wie Bressons Michel (dargestellt von dem Nichtschauspieler Martin LaSalle aus Uruguay) oder Dostojewskis Raskolnikow ist Nakamuras Dieb bindungsunfähig – „anhänglich werden, dümmer geht es nicht“ – geht fatalistisch seinem Schicksal entgegen. Das dräut ihm, schon gleich in einer Eingangsmetapher, mit einem „dunklen Turm“, der immer wieder auftaucht und Schlechtes kündet. Eine Hommage an Stephen King? Ganz hat dieses Bild sich mir nicht erschlossen. Wieder ist der Turm da, am Ende, wenn Kizaki dem Dieb das Allerkostbarste stiehlt. Ein blutverschmiertes Geldstück, hochgeworfen, schiebt sich im Schlussbild vor die Sonne, „leuchtet schwarz am Himmel, als hoffe es auf ein Wunder“.
Studienabschluss mit „Psychologie des Kriminellen“
Der japanische Kriminalroman datiert bis zum Jahr 1689 zurück, zu den 44 Erzählungen Saikaku Iharas von „Japanische Parallelfälle im Schatten eines Kirschbaums“. Als Begründer des modernen japanischen Kriminalromans gilt der Agatha-Christie-Zeitgenosse Hirai Tarō (1894 – 1965), der unter dem phonetisch an Edgar Allen Poe erinnernden Pseudnoym Edogawa Rampo schrieb. Der Mystery Writers Club of Japan hat 600 Mitglieder, keine zehn Prozent sind ins Englische übersetzt, hat Christopher C. Moore hier bei CM einmal ausgeführt, vom Deutschen zu schweigen. Ganze zwei Romane des Hardboiled-Spezialisten Arimasa Osawa etwa haben es bisher zu uns geschafft, davon 2014 wieder aufgelegt: „Der Giftaffe“.
E und U in Japan haben ein entspannteres Verhältnis als bei uns. Nakamura hat kein Problem damit, als Kriminalautor zu gelten, distanziert sich nicht vom Genre. Er sagt: „Es gibt zumindest diese Seite bei mir. Ich will auch einen Thrill vermitteln. Vermutlich gibt es viele Arten, meine Bücher zu lesen, ich finde das sehr interessant. Von mir selbst denke ich, dass ich reine Literatur schreibe.“
Ich weiß zu wenig von Japan, um Nakamura, der 2000 sein Soziologiestudium in Fukushima mit einer Arbeit über die „Psychologie des Kriminellen“ beendete, wirklich gerecht werden zu können, würde mir von Diogenes anstelle einiger Fußnoten in der Übersetzung beim nächsten Buch das Nachwort eines Kundigen wünschen. Nakamura wuchs mit den Übersetzungen von Camus, Kafka und Dostojewski auf. Mir ist unbekannt, wie er zu Mishima steht, ich weiß nur von seiner Bewunderung für Osamu Dazai (1909 – 1948), der wie seine Zeitgenossen Akutagawa Ryûnosuke, Yukio Mishima und Kawabata Yasunari sein Leben durch Selbstmord beendete. Zu Dazais Werken gehören die Erzählbände „Das Gemeine“ und„Einspruch der Dekadenz“ (Besprechung in „Im Erker“ hier) sowie sein Meisterwerk „Gezeichnet“ (人間失格; Ningen Shikkaku), in der wörtlichen Übersetzung müsst es eher heißen, „Disqualifiziert, ein Mensch zu sein“.
PS. Den Titel dieses Textes verdanke ich Harun Farocki, der zu früh und plötzlich im Juli 2014 starb, sich in seinem Film von 1997 ausführlich mit Bresson beschäftigte. „Die Hand steht für Berührung, das Kino aber muß alle Sinneswahrnehmungen in Blicke umformen. Die ersten Großaufnahmen der Filmgeschichte richteten sich auf das menschliche Gesicht, die nächsten auf die Hände. Oft sollen die Hände etwas verraten, was der Ausdruck des Gesichts verbergen will: etwa, wenn die Hand ein Glas zerdrückt ohne daß im Gesicht Erregung abzulesen ist… „, heißt es darin.
PPS. Soweit meine Recherchen es ergaben, ist Nakamura ein Pseudonym und der achthäufigste Familienname in Japan (中村; „Mitteldorf“) …
Alf Mayer
Fuminori Nakamura: Der Dieb (Suri, 2009). Roman. Aus dem Japanischen vonThomas Eggenberg. Diogenes, Zürich 2015. 212 Seiten, 22,00 Euro. Verlagsinformationen zum Buch und zum Autor hier und hier. Internetseite des Autors, Japanisch und Englisch.
Fuminori Nakamura auf Englisch (bei Soho Crime):
The Gun (Ju), 2003
The Thief (Suri), 2009/ 2012
Evil and the Mask (Aku to Kamen no Rūru), 2010/2013
Last Winter, We Parted (Kyonen no fuyu, kimi to wakare), 2013/ 2014.
Weitere Werke:
Shakō (Shield Me from the Light), 2004
Akui no Shuki (A Note of Malice), 2005
Saigo no Inochi (Final Life), 2007
Nani mo ka mo Yūutsuna Yoru ni (In the Night I Feel Everything Melancholy), 2009
Ōkoku (The Kingdom), 2011
Meikyū (The Labyrinth), 2012
Kyōdan X (The Religious Community X), 2014
Anata ga Kieta Yoru ni (In the Night You Disappeared), für 2015 angekündigt.
Kurzgeschichten:
Tsuchi no Naka no Kodomo (Child in the Ground), 2005
Sekai no Hate (The Edge of the World), 2009
Madoi no Mori: 50 Stories (The Woods of a Delusion: 50 Stories), 2012
A, 2014.