Geschrieben am 4. November 2015 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Primärtext: Brigitte Helbling: Die Mädchen (Auszug)

bhelbling-FOTO-marcus-renkenKLEIN_350Nach dem Verschwinden

— Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Im November ist es ein Ausschnitt aus dem Roman »Die Mädchen« der CM-Autorin Brigitte Helbling, der bei CulturBooks erschienen ist.

Zürich Ende der 1970er. Vier 17-Jährige sind verschwunden, alle vier waren Schülerinnen am städtischen Mädchengymnasium. Wurden sie entführt? Sind sie verunfallt? Haben sie sich einer revolutionären Bewegung angeschlossen? Ein Polizist ermittelt. Eltern sorgen sich. Ein jüngerer Bruder wird zum Detektiv, ein Schriftsteller sucht Material für seinen nächsten Roman, und ein Lehrer verzweifelt an seinem Beruf. Nur die Klassenkameradinnen, eine enge Gemeinschaft, scheinen mehr zu wissen, als sie zugeben wollen. Vor allem um sie kreist die Erzählung. Wer weg ist, ist weg. Was aber bedeutet das für diejenigen, die zurückgelassen werden?

Vielleicht handelt der Roman von einer bestimmten Stadt in einer bestimmten Zeit. Ganz sicher aber handelt er von Mädchen in einem Alter, in dem alles möglich scheint – und von dem, was passiert, wenn einige beschließen, dieser Verheißung zu folgen.

Helbling_Mädchen_Cover_240Brigitte Helbling: Die Mädchen. Roman

Doppelstunde mit Rimbaud

An diesem warmen Augustnachmittag also, als Ziegler am Fenster seines Arbeitszimmers stand und in den Garten hinunter sah, als Robin den Hügel hoch rannte und Schwarzenbach schließlich die Uhrzeit für richtig befunden hatte, um sich im Felsenkeller dem Kartoffelsalat und den Würsten zu widmen, war Kern unterwegs zu einer Doppelstunde Französisch mit der 6a, die vom Lehrplan her so unsinnig angesetzt war, dass man darin einen Sabotageakt gegen seinen Unterricht hätte vermuten können.
Die Konferenz mit Meier war eine Woche her.
Kern war spät dran.
Er war seit den Ferien oft zu spät, es fiel ihm immer schwerer, die Zeiten einzuhalten, genauso wie es ihm schwer fiel, sich an seine Ansagen an die einzelnen Klassen zu erinnern. Als er mit seiner Schachtel und den großen Pappen unter dem Arm in den Klassenraum kam, fand er die 6a vollzählig versammelt vor, obwohl diese Doppelstunde zu den Unterrichtseinheiten gehörte, in denen kaum je alle Schülerinnen anwesend waren.
Hatte er eine Prüfungsarbeit angesetzt?
Natürlich hatte er das, jetzt fiel es ihm wieder ein, er hatte sie angesetzt und dann vergessen und er hatte auch die entsprechenden Unterlagen nicht dabei. Das war beunruhigend, aber das hieß nicht, dass er um eine Ausrede verlegen gewesen wäre.
Es sei zu heiß für eine Prüfung, erklärte er.
Das war es ja auch tatsächlich. Der Raum lag gen Süden, und nachmittags stand die Luft darin, selbst wenn die Schülerinnen die Stoffjalousien schon ab dem Mittag herunterließen.
Bravo, kam vom hinteren Teil des Raums, Miriam vermutlich. Ein oder zwei Schülerinnen schienen sich zu überlegen, ob sie Einspruch erheben sollten, immerhin hatten sie für die Arbeit gelernt, aber Kern wusste, dass der Wille der Mehrheit der Klasse gegen sie stand.
Er stellte die Schachtel, in denen Malkästen waren, auf eine vordere Bank und bat die Schülerin, die dort saß, sie an alle zu verteilen.
Clarissa lächelte und stand auf. Ihr Rock war dunkelgrün mit kleinen gelben Blumen, was Kern normalerweise nicht aufgefallen wäre, aber etwas an der Art, wie der Rock beim Gang durch die Reihen hin und her schwang, zog seine Aufmerksamkeit auf sich. Er löste den Blick mit Mühe, nahm die Papierbögen, die er unten im Kunstraum geholt hatte, und ließ sie ebenfalls durch die Reihen gehen. Die gestapelten Joghurtbecher aus Plastik stellte er neben das Waschbecken. Nehmt euch ruhig zwei oder drei Blätter, sagte er, wir machen heute ein Experiment.
Die Kassette hatte er von einem Kollegen.
Du bist doch der Rimbaud-Verehrer, hatte der gemeint, hier, hör dir das mal an.
Kern hatte seine Abschlussarbeit über Un Saison en Enfer geschrieben, das war richtig, und dem kleinen Jazz-Trio aus Toulouse war tatsächlich eine stimmige Umsetzung des Trunkenen Schiffs gelungen. Man muss nicht immer alles verstehen, um zu verstehen, hatte einer seiner Professoren an der Universität gerne gesagt. Darum ging es Kern, wie er der Klasse jetzt auseinandersetzte: den Klang der Sprache auf sich einwirken zu lassen, um darüber dem Inhalt der Worte auf die Spur zu kommen. Und natürlich eignete sich kaum ein Textstück für ein solches Unternehmen besser als Le Bateau Ivre, fügte er hinzu, ein Gedicht, das letztendlich mehr Sprachrausch als Inhalt war.
Damit sich die Schülerinnen beim Hinhören auch wirklich entspannen konnten, hatte er die Malsachen mitgebracht.
Während die Mädchen zum Waschbecken gingen, um die Joghurtbecher mit Wasser zu füllen, stellte Kern fest, dass der Kassettenrekorder, den er aus dem Lehrerzimmer mitgenommen hatte, kaputt war. Die Interpretation des Trunkenen Schiffs ließ sich darauf jedenfalls nicht abspielen.
Dann les ich’s eben selber, dachte er. Er traute sich zu, ihnen einen Eindruck der Verse zu vermitteln, auch wenn die Jazzklänge natürlich fehlen würden. Brauchte es die Musik überhaupt? Das Gedicht sprach für sich, dachte Kern, das Gedicht ist Jazz. Dazu kam, dass ihm keine Alternative einfiel, außer den Klassenraum einfach wieder zu verlassen und in eklatanter Nichterfüllung seiner Pflichten nach Hause zu gehen.
Verlockend, aber so weit war er noch nicht, dachte Kern mit einem Anflug von Bedauern. Das war etwas für die Kollegen, die wirklich am Ende waren.
Rimbaud, der Dichter der Trance, begann er seine kurze Einführung zum Autor, die er beschloss mit: Der Kassettenrekorder ist kaputt, ihr müsst mit mir Vorlieb nehmen.
Clarissa strahlte ihn von ihrem Platz aus an, als sei damit ihr sehnlichster Wunsch in Erfüllung gegangen. Irritiert und erfreut nahm er das Buch und begann zu lesen.

Fluss der Bilder, Fluss der Worte. Man konnte sich von dieser Sprache tragen lassen, so kam es Kern jedenfalls vor, und als er das Ende des Gedichts erreicht hatte, fing er gleich nochmal von vorne an. Ob seine Schülerinnen irgendetwas davon, oder von dem Inhalt der Gedichtzeilen an sich mitbekamen, war ihnen nicht anzumerken. Sie saßen da und malten und ließen sich von Rimbaud umspülen, und er hätte ihnen vermutlich mit gleichem Ergebnis auch aus dem Telefonbuch von Paris vorlesen können. Diese Einsicht ließ Kern kurz bitter werden, aber dann verlor er sich wieder in den Früchten und Farben und satten Bildern der Verse, als gäbe es keine Regeln, als stünde es jedermann frei, zu tun, zu denken, zu schreiben was er wolle. Und warum nicht? Warum sollte Kern sein Trunkenes Schiff nicht wieder und wieder vortragen, bis seine Klasse keine andere Möglichkeit sah, als ihn gewaltsam daran zu hindern. Auch eine Art Experiment – vielleicht das inoffizielle, das sich hinter dem offiziellen verbarg.

Vor ihm saßen die Mädchen wie eine Herde Schafe und malten ihre Bögen voll. Die Sonne schien durch die hellen Stoffjalousien, ein dumpfes, gelbes Licht im Raum, in dem Staubkörner tanzten. Friedlich, so kam Kern die Stimmung vor, unwirklich. Unheilschwanger, das vielleicht auch. Die aufgestaute Hitze im Raum unterstrich aber doch mehr den Eindruck von Stillstand, von glücklicher Trance, durchzogen von der Hoffnung, dass selbst Schafe sich der Wirkung großer Dichtung nicht ewig würden entziehen können.

Comme je descendais des Fleuves impassibles, je ne me sentis plus guidé par les haleurs…

Yvonne legte ein Bild beiseite und nahm sich ein neues Blatt. Sie stellte den Pinsel ins Wasser und studierte die Farben im Malkasten. Sie beschloss, ein Rostbraun zu mischen, die Farbe der Ashkenazi-Felsendörfer in den USA, die sie im Sommer besucht hatten. Eine letzte große Reise mit der Familie, bevor du dich in die Maturavorbereitungen stürzt, hatte ihr Vater gesagt. Sie hatten in Denver ein Auto gemietet und waren durch die Nationalparks gefahren, dann weiter nach Los Angeles, zu einer Besichtigung von Hollywood und den Universal Studios. Es war Yvonne ein wenig eigenartig vorgekommen, mit Bruder und Schwester die Rückbank des Familienwagens zu teilen, während Beatrice und Helene auf eigene Faust die Welt erkundeten, aber als sie versuchte, ihrer Mutter diesen Gedanken zu erklären, meinte die nur, sie sollte Papa dankbar sein, dass er eine solche Ausgabe auf sich genommen hatte, die das Familienbudget doch ziemlich belaste. Das tun wir für dich, Yvonne, hatte sie gesagt. Und natürlich war Yvonne dankbar, aber eigenartig war es trotzdem.

Ocker, Rost und Gelb. Mit graden Vertikalen entstanden die Wüsten von Arizona, während Kerns Stimme dazu eine Klangkulisse schuf, les Péninsules démarrés n’ont pas subi tohu-bohu plus triomphants … das staubige Grün der Kakteen. In den USA war es auch heiß gewesen, eine andere Hitze als hier, trocken, erfrischender. Yvonne hätte sich vorstellen können, in Arizona zu bleiben. Sie hatte sich die Mädchen angeschaut, die in den Diners oder Drugstores bedienten, und an Beatrice und Helene gedacht. Man brauchte nicht ans Ende der Welt zu fahren, um unsichtbar zu werden. Diese Mädchen hinter den Tresen waren so anonym, wie man es sich nur wünschen konnte. Jede von ihnen hätte eine der beiden sein können, und wenn sie es tatsächlich gewesen wäre, dann – das hatte sich Yvonne schon vorher überlegt – hätte sie so getan, als kenne sie sie nicht.
Wenn jemand verschwinden will, dann sollte man ihn nicht daran hindern, das war ihre Meinung.
Vielleicht dachten die andern auch so, vielleicht redete man deswegen nicht mehr von ihnen, seitdem ihre Tische weggeräumt worden waren. Beatrice? Helene? Nie gehört. Anouschka war angekommen. Und Lili …

Die prominenteste Klasse der Schule, so hatte Rektor Meier sie kurz vor den Ferien genannt. Er war in der Klassenlehrerstunde erschienen, um die Schülerinnen zu ermuntern, ihre eigentliche Aufgabe – das Lernen für den Abschluss – über der ganzen Aufregung nicht zu vernachlässigen. Natürlich hing das mit den Berichten in den Zeitungen zusammen, auch wenn niemand in der Klasse verstand, warum sich die Presse erst zwei Monate, nachdem die Mädchen verschwunden waren, für die ganze Angelegenheit zu interessieren begann.
Vielleicht denken die Journalisten, die Leute, die in die Ferien fahren, sollten Bescheid wissen, falls ihnen die drei über den Weg laufen.
Das war Sibylles Vermutung gewesen.

In der Schule wurde viel über die Sache geredet, in der Klasse selbst hingegen kaum, und irgendwann, zehn Tage vor den Ferien, hatte Miriam, die sich über das ständige Fragen der andern Schülerinnen ärgerte, sogar einen Zettel an die Tür gehängt: „Wir wissen noch immer nicht, wo Anouschka, Beatrice und Helene sind, und von Lili gibt es nichts Neues zu vermelden.“
Der Zettel hing da wie eine Verschriftlichung des dringenden Bedürfnisses der 6a, zur Tagesordnung überzugehen, worin immer die bestehen mochte. Ob sie sich auch wirklich lohnte, diese sogenannte Tagesordnung, war eine Frage, die man sich lieber nicht stellte.
Rektor Meier fand den Zettel unmöglich. Kern setzte sich für die Klasse ein. Die Schülerinnen geben damit zu verstehen, dass sie die Schule ernst nehmen, behauptete er. Sie schützen den Raum, den sie brauchen, um sich um ihre eigentliche ‚Arbeit’ – Kern betonte das Wort ganz leicht – als Schülerinnen zu kümmern.
Meier, der die Schule gerne als eine Form von Arbeit, beinah eine Art Job, definierte, ließ sich überzeugen, und nach den Ferien war der Zettel ohnehin verschwunden, abgehängt vom Putzpersonal, das vermutlich auf Anweisung des Hausmeisters auch die beiden freien Tische entfernt hatten.
Plus douce qu’aux enfants la chair des pommes sûres, l’eau verte pénétra ma coque de sapin, las Kern. Er war inzwischen beim dritten Durchgang angelangt, und zum dritten Mal kam aus dem hinteren Teil des Raumes ein Kichern.
Miriams Banknachbarin flüsterte ihr etwas zu, und Miriam unterbrach die Arbeit an einem Bild ihres Pferdes, um aus ihrer Bank das kleine französische Wörterbuch zu holen. Sie reichte es hinüber, nahm dann wieder den Pinsel und begann, sich selbst in den neuen Reitstiefeln vor dem Zaun zu porträtieren.

J’ai vu le soleil bas, taché d’horreurs mystiques …

Donna hatte den Kopf auf die Arme gelegt, die Augen geschlossen. Auf dem Tisch vor ihr lag ein Blatt voller blauer und grüner Spiralformen. Neben sich hörte sie Yvonne, die leise mit den Lippen schnalzte, während sie an ihren rotbraunen Querstrichen malte. Kern, dachte Donna, trägt hier Dinge vor, von denen er garantiert nichts versteht – der mystische Schrecken? Der Schrecken des Mystischen?
Noch etwas anderes war zu hören, neben Kerns Stimme, neben dem Geräusch von Pinseln in Wasserbechern, neben dem Klacken von Renates Stricknadeln, neben Yvonnes leisem Schnalzen, das Donna zunehmend auf die Nerven ging.
Ein unregelmäßiges Summen im Hintergrund.
Donna öffnete ein Auge halb und entdeckte eine Hummel, die immer wieder gegen die Fensterscheibe flog. Blödes Viech. Lili wäre jetzt aufgestanden und hätte das Tier in die Höhlung ihrer beiden Hände genommen und nach draußen befördert.
Die dumme Kuh.
Donnas Ärger über Beatrice und Helene hatte sich ganz auf Lili verlagert, die ihr nicht wirklich erklären konnte, warum sie einfach weggegangen war. Als Donna sie nach ihrer Rückkehr aus Lissabon besucht hatte, hatte sich Lilis Mutter mehr darüber gefreut als Lili selbst. Und dabei hatte Donna Lili keinen Vorwurf gemacht, nicht einen einzigen.
Sie hatte danach fünf Tage gewartet, um sich wieder bei Lili zu melden, und die Freundin hatte nicht ein Mal versucht, bei ihr anzurufen. Schließlich rief Donna selbst an, und als Lili ans Telefon kam – auch das hatte eine Weile gedauert – hatte sie ziemlich bald angefangen, sie anzuschreien. Donna solle sie endlich in Ruhe lassen, und: Verstehst du denn nicht, dass ich so nicht weiterleben kann?
Donna verstand überhaupt nichts. Aber bitte.
Wenn es das war, was Lili wollte?
Lili kehrte nicht wieder in die Schule zurück. Erst hieß es, sie sei krank. Und dann –
Es hat nichts mit dir zu tun, erklärte ihr Lilis Mutter am Telefon. Mach dir keine Vorwürfe. Wir können jetzt auch nichts weiter tun als abwarten, was passiert.
Weswegen hätte sich Donna Vorwürfe machen sollen? Sie hoffte noch, als Lili schon ganz aufgehört hatte zu reden. Es gibt nichts mehr zu sagen, hatte sie ihrer Mutter erklärt, und daraufhin ganz einfach nichts mehr gesagt. Das behauptete zumindest Lilis kleine Schwester, die Donna auch erzählte, dass Lili nach Norddeutschland, zu Bekannten der Eltern geschickt worden war.
Eine adoleszente Depression, so nennt es der Arzt. Sie braucht eine Betreuung, die wir ihr nicht geben können.
Das kam von Frau Bachmann, sie wirkte beinah erleichtert, als sie Donna das erzählte. Bestimmt war sie froh, dass sich nun andere um Lili kümmerten.
Donna hätte sich gekümmert. Aber wenn Lili nicht wollte?
Natürlich ließ Donna durch die Mutter Grüße ausrichten.
Am Ende jedoch meldete sich Lili nicht bei ihr, sondern mit einem Brief bei Sibylle, die das Schreiben mit in die Schule brachte und meinte, keine Ahnung, warum sie mir schreibt. Wir sind ja schließlich nicht befreundet oder so.
Sie bestand auch darauf, dass Donna den Brief las, der geht dich mehr an als mich, sagte sie. Und genauso sah das Donna dann auch, obwohl sie auch weiterhin nicht begriff, warum Lili mit ihr keinen Kontakt mehr haben wollte. Vielleicht hat sie ein schlechtes Gewissen, meinte Yvonne. Vielleicht will sie dich kränken und benutzt mich dazu, schlug Sibylle vor, was keine schöne Vorstellung war. Donna nahm es Sibylle übel, dass sie so etwas überhaupt aussprach. Warum hätte Lili sie kränken wollen? Es gab darauf genauso wenig eine Antwort, wie auf alles andere auch.
Und jetzt saß auf Lilis Platz Yvonne und schnalzte mit den Lippen. Normalerweise hätte sich Donna beschwert, aber an diesem Nachmittag war es ganz einfach zu heiß dazu, zumal sie die halbe Nacht aufgeblieben war, um für eine Arbeit zu lernen, die nun doch nicht geschrieben wurde. Sie schloss die Augen wieder und versuchte, sich auf Kern zu konzentrieren. In dem Vers, den er vorlas, hatte sich gerade „violet“ auf „volet“ gereimt. War so etwas reimtechnisch überhaupt erlaubt? Violet. Volet. Wenn ein Gedicht ein Handballspiel wäre, hätte sie den Dichter jetzt gefoult.

Nach dem vierten Durchgang machte Kern eine kurze Pause und sah sich im Raum um. Niemand schien zu bemerken, dass er aufgehört hatte zu lesen. Die Hälfte schlief ohnehin, Renate und Barbara strickten, weil sie sich so angeblich besser entspannen konnten als beim Malen, und Miriam reichte gerade etwas an die Schülerin in der Bank vor ihr weiter. Er könnte sie jetzt doch eine Arbeit schreiben lassen, schoss Kern durch den Kopf, zur Frage, was sie von dem Gedicht verstanden hatten. Der Gedanke an den Aufschrei, mit dem der Vorschlag begrüßt werden würde, hielt ihn davon ab.
Schafe, Schafe, Schafe, dachte er und fragte sich dann plötzlich, ob er in Wirklichkeit vielleicht gar nicht aufgehört hatte zu lesen. Vielleicht las seine Stimme immer weiter, und er selbst hörte sie gar nicht mehr. Wenn er aufgehört hätte zu lesen, dann müsste doch eine der Schülerinnen vor ihm reagieren? Es sei denn, sie waren alle gestorben und er hatte es nicht bemerkt. Oder sie hatten sich in Zombies verwandelt, wie in diesem Film, den er sich damals mit Régine im Kino angeschaut hatte, als sie sich noch nicht lange kannten. Küss mich, ich will das nicht sehen. Zombieschafe, er sah sie noch vor sich, Zombieschafe mit roten Augen, und dann las er doch weiter, baiser, ohne zu merken, dass er mitten im Text war, nicht am Anfang des Gedichts, baiser montant aux yeux des mers…

In der zweiten Reihe fragte sich Sibylle ebenfalls gerade, ob alle um sie herum vielleicht unbemerkt gestorben waren, inklusive Kern. Ein einfacher Dualismus. Entweder die waren tot, oder sie. Es sei denn, es existierte ohnehin nichts um sie herum, eine Vorstellung, die Sibylle hin und wieder beschäftigte. Wer konnte schon beweisen, dass die Welt tatsächlich da war? Sibylle sah sich im Klassenraum um. Zwei Bänke weiter blickte Nanni mit ihren dunklen Hamsteraugen von ihrem Blatt hoch, sah Sibylle und hielt kurz den Daumen hoch. Das konnte ein Beweis für die Wirklichkeit sein, oder auch gerade nicht, überlegte Sibylle, nahm die Brille ab und putzte die Gläser an ihrem grünen Fußballtrikot. Sie spürte den Stoff auf ihrer Haut, was beruhigend war, wenn auch kein endgültiger Existenzbeweis – zumindest nicht für die Welt um sie herum.
Donnas finstere Blicke waren kein Spaß, da machte sich Sibylle nichts vor, selbst wenn Donna vielleicht nicht wirklich existierte. Und eine wütende Donna war unberechenbar. Vielleicht war es das, wovor Lili sich gefürchtet hatte? Was Sibylle nicht verstand, war, warum Lili ausgerechnet ihr geschrieben hatte. Der Brief sprach vom reinen Elend und davon, dass Lili sich auf die Suche nach sich selbst begeben wolle. Für Sibylle las er sich wie ungesunde Naivität, die auf eine Überdosis Therapie getroffen war. Damit kannte sie sich aus, das Ergebnis hatte sie jeden Tag vor Augen, aber einen verkitschten Stil rechtfertigte das noch nicht, fand sie.
Und was wusste Lili schon von Sibylles Mutter?

J’ai suivi, des mois pleins, pareilles aux vacheries hystériques, la houle à l’assaut des récifs …

In der ersten Reihe hielt Clarissa mit dem Malen kurz inne und fragte sich, ob sie richtig gehört hatte. Hysterische Kühe, war es das, wovon die Zeile handelte? Sie mochte Kerns Stimme, die tief war und sexy, fand jedenfalls Clarissa. Inzwischen schien er das Gedicht halb auswendig zu kennen. Er sah kaum noch in die Buchseiten, nur vorhin hatte er kurz die Stelle verloren, vielleicht, weil die Hummel es in diesem Moment geschafft hatte, aus dem Fenster zu fliegen.
Der arme Kerl, dachte Clarissa. Er war dabei, sich in eine Vortragsmaschine zu verwandeln, die ihrem eigenen Trancevorhaben zum Opfer gefallen war. Eine Art Selbsthypnose, weil ihm aus seiner Misere kein anderer Ausweg mehr einfiel. Die Misere war offensichtlich, aber dem Mann musste doch zu helfen sein? Clarissa schlug die Beine übereinander, streckte den einen braunen Fuß in der Sandale ganz vor, und wackelte mit den grün lackierten Zehennägeln direkt vor Kerns Augen herum.
Ganz kurz stockte sein Vortrag, vollkommen weggetreten war er also noch nicht. Clarissa ließ den Fuß vorgestreckt unter dem Tisch hervorragen, beugte sich wieder über ihr Blatt, und während sie mit einer Hand weitermalte, holte sie mit der andern das Silberkreuz aus dem Ausschnitt und fing an, damit zu spielen.

Yvonne hatte ihre Wüstenlandschaft fertig gemalt, legte sie zur Seite und nahm ein neues Blatt Papier. J’aurais voulu montrer aux enfants ces dorades du flot bleu, kam von Kern, mit einer merkwürdigen Inbrunst, dachte Yvonne, der Mann hatte doch gar keine Kinder. Vielleicht gerade deswegen. Beatrice’ Mutter fiel ihr ein, die sie vor zwei Tagen zufällig auf der Bahnhofstraße getroffen hatte. Frau Rohr hatte inzwischen einen richtigen kleinen Bauch, fünfter Monat, hatte sie gesagt, als sie Yvonnes Blick bemerkte. Ich bin so glücklich, sagte sie noch, was Yvonne etwas verwunderte. Immerhin war Beatrice noch immer nicht zurück. Das liegt an den Hormonen, meinte Yvonnes Mutter, als sie zu Hause von der Begegnung erzählte. Das Glück, ein gesundes Kind auszutragen, kann manches Unglück wettmachen. Yvonne sah ihre Mutter misstrauisch an, die gedankenverloren und leicht melancholisch lächelte, einem hormonell verwischten Unglück nachhängend, von dem die Tochter lieber nichts wissen wolle.

Et je restais ainsi, comme une femme à genoux…

Nanni blickte neben sich auf das Blatt von Bettina, blutrote Kreise, Feuerblumen. Ihr eigenes Blatt war ganz schwarz, kein heller Flecken mehr zu sehen. Sie nahm den Pinsel, tauchte ihn ins Blau, malte dunkle Staubpollen ins Herz von Bettinas Feuerblüten. Die Freundin lehnte sich zurück und sah ihr zu. Dann schob sie eine lange blonde Strähne hinters Ohr, legte den Kopf zur Seite, nahm ihren Pinsel und tauchte ihn in die weiße Deckfarbe, die sie aus der kleinen Tube in den Deckel des Malkastens gedrückt hatte.
Jemand tippte ihr von hinten auf die Schulter und reichte einen kleinen Zettel nach vorn.
Eine Botschaft von Miriam: An alle. Die Botschaft war einfach: Jetzt ist er endgültig durchgedreht.
Bettina zeigte Nanni die Meldung, faltete dann den Zettel wieder zusammen und reichte ihn an die nächste Bank weiter.
Rimbaud war mit seinem Freund, dem Dichter Verlaine, nach Belgien gefahren, auf der Suche nach einer neuen Welt, so hatte es Kern erzählt. In Brüssel hatten sie sich gestritten, Verlaine hatte auf Rimbaud geschossen und war dafür ins Gefängnis gekommen.

J’ai vu des archipels sidéraux! et des îles dont les cieux délirants sont ouverts au vogeurs…

Es war eine einfache Lösung für ein kompliziertes Problem, dachte Donna. Sie kam sich selbst vor wie angeschossen, und sie wünschte Lili eine winzige Zelle in dem Landschulheim, in dem sie jetzt war. Das Internat lag an einem See.
Hoffentlich redet keiner mit dir, dachte Donna. Hoffentlich spielen sie dir all die Streiche, die in den Internatsromanen vorkommen, aber ohne versöhnlichen Ausgang.
Miriams Zettel war bei Yvonne angelangt. In den vorderen Reihen verfolgten mehrere Schülerinnen gebannt die Blicke Kerns, die immer häufiger vom Buch weg zu Clarissas Fuß direkt vor ihm gingen. Clarissas grün lackierte Zehennägel wippten sanft im Takt zu den Versen… Im hinteren Teil des Raums waren mindestens drei Schülerinnen eingeschlafen, ein sanftes Schnarchen kam aus der Ecke. Renate und Barbaras Stricknadeln klapperten im selben Takt wie die wippenden Zehen, eigentlich bemerkenswert, wenn man darüber nachdachte, wozu es aber zu heiß war. Die Unruhe um Miriam herum hatte sich gelegt, ihr Zettel war bei Yvonne stecken geblieben, Rimbaud zog blaugrüne Spiralen durch den hitzeschweren Raum. Einzig Sibylle starrte aus dem Fenster und bekam von Rimbaud nichts mit, crépuscule embaumé un enfant accroupi, weil die Welt um sie herum ohnehin nur eine Einbildung war, genau wie die Weinflaschen, die sich in der Küche ansammelten, wenn Sibylle sie frühmorgens vor der Schule nicht wegbrachte, und dabei ihre Mutter daran erinnerte, dass es angenehmer war, in einem Bett zu schlafen als am Küchentisch.
Erzähl deinem Vater nichts davon.
Als ob ihr Vater auch nur einen Gedanken an sie beide verschwendete, dort unten in Biel, mit seiner neuen Frau, die jünger war und vermutlich nicht trank.
Noch nicht.
Am Ende holte ein Klopfen an der Tür Kern aus seinem Zustand der Versenkung. Er war nicht der einzige, der zusammenschrak.
Das Klopfen wiederholte sich, und dann ging die Tür auf, und ein Mann im Panamahut betrat den Raum.
Er hatte halblanges, dichtes Haar, er trug Jeans und eine Lederjacke. Er war nicht wirklich jung, aber so, wie er sich kleidete, war sein Alter schwer einzuschätzen. Er war korpulent, ohne wirklich dick zu sein. Die Stimme war laut, sie weckte auch diejenigen Schülerinnen, die von Rimbaud in Tiefschlaf versetzt worden waren.
Hallo Robert, sagte der Mann. Genauso habe ich mir deine progressiven Lehrmethoden vorgestellt. Die Töchter Helvetias! Junge Damen, die sich den schönen Künsten hingeben, während ihnen die französische Sprache wie Honig ins Ohr geträufelt wird.
Er lächelte breit.
Hallo Walti, sagte Kern ohne viel Begeisterung. Wir sind gerade mitten in der Stunde.
So ist es, so ist es!, sagte der Mann begeistert. Ich will auch gar nicht weiter stören. Was lest ihr denn da? – Er spähte nach dem Buch in Kerns Hand. – Rimbaud? Der alte Teufelsanbeter, sag mal, Robert, ist so etwas in einer ordentlichen Zürcher Mädchenklasse überhaupt erlaubt?
Was willst du hier, Walti?, sagte Kern gereizt.
Du wolltest mir doch deine jungen Damen vorstellen, sagte Walti. Und hier bin ich nun. Walter Schmidlin, hoch erfreut, Sie alle kennen zu lernen!

ENDE DER LESEPROBE

Brigitte Helbling: Die Mädchen. Roman. Digitales Original. CulturBooks Longplayer, Mai 2015. 220 Seiten. 7,99 Euro. Foto: Marcus Renken

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