Der Wind der Schritte, der Atem des Seils
Selten noch ist ein 3 D-Film seinem Metier so gerecht geworden, wie Robert Zemeckis das in „The Walk“ auf die Leinwand bringt. Fast geniert man sich, welche Gefühle dieser leichtfüßige, feinsinnig anarchistische Film über die schönste und sinnloseste Kunstaktion des 20. Jahrhunderts in einem auszulösen vermag, wie man sich hier über ein Wagnis – dessen Ausgang wir ja eigentlich kennen – sorgt und sich über sein Gelingen freut: Am Morgen des 7. August 1974 balanciert der Franzose Philippe Petit illegal zwischen den Türmen des World Trade Centers, läuft auf dem ein Zoll dicken Drahtseil insgesamt acht Mal hin und her, legt sich sogar dort oben auf das Seil, salutiert sein Publikum, brennt sich den New Yorkern auf immer in den Himmel ein. Das schönste Foto von damals: der Blick von unten auf eine winzige, ausgestreckte Figur in 417 Metern Höhe, mitten zwischen den Türmen, und über ihm am Himmel ein Düsenflugzeug. Von Alf Mayer
Reinheit der Gefühle, wenn deren Herstellung in einem Film möglich ist, dann ist „The Walk“ dessen Beweis. Seine Anziehungskraft besteht letztlich aus ihrer völligen Zwecklosigkeit, hat Paul Auster diesen Film 1982 beschrieben (sein Essay ist nebenan zu lesen). Keine andere Kunstform betone „so deutlich den tiefen ästhetischen Impuls in uns allen. Immer, wenn wir einen Menschen auf einem Hochseil laufen sehen, ist ein Teil von uns dort oben mit ihm. Anders als Darbietungen anderer Künste ist das Erleben des Hochseillaufens unzweideutig, unmittelbar, einfach, braucht keine Erklärung. Die Kunst ist die Sache selbst, das Leben in der allernacktesten Form. Wenn darin Schönheit liegt, dann wegen der Schönheit, die wir in uns fühlen.“
Ich habe Philippe Petit 1994 bei seinem Hochseillauf in Frankfurt anlässlich der 1200-Jahr-Feier live erlebt, wie er abends um 17.15 Uhr zwischen Paulskirche und Dom balancierte. 45 Minuten lang. Vor einer vom Taunus her aufziehenden schwarzen Wand. Der Hessische Rundfunk (HR) filmte damals, die „Dokumentation“ war der pure Schrott, weil sie kein Gefühl für Höhe, Gefahr und Dimension des Vorhabens, für Wagnis und Selbstvertrauen des Artisten hatte. Erst „The Walk“ beweist, dass man sehr wohl die Kunst des Hochseillaufs im Film sichtbar machen kann. Joseph Gordon-Lewitt gibt einen guten Philippe Petit, alle Achtung vor dieser Leistung. Und dann dieser Film eben zusätzlich auch noch ein Denkmal für die bei 9/11 eingestürzten und verschwundenen Türme. Es ist einfach nur schön, wie Petit im Film auf dem Kopf der Freiheitsstatue sitzt, die Silhouette New Yorks gegenüber, und er uns von seinem Vorhaben erzählt. Schindelerregend bereits, wie er da auf der Statue steht. Und das ist noch gar nichts. Ein wunderbarer Film, ein Fest des Lebens, um es mit Paul Auster zu sagen.
Petit war 1994 einige Wochen in Frankfurt, ich hatte mehrfach Gelegenheit, ihn bei seinem Training zu beobachten, ihn zu sprechen, werde nie seinen „Thousand-Miles-Stare“ vergessen, wie er nach seinem Lauf im Frankfurter Kaisersaal stand, sich ins Goldene Buch eintrug und Autogramme gab. Auf dem Seil hatte er, 1200 Jahre Stadtgeschichte in Schicht um Schicht abgeworfenen Kostümen darstellend, in der Mitte aufs Seil gesetzt, mit einem Federkiel Blätter signiert und herunterrieseln lassen – mit der Unterschrift Goethes. Ich hatte auch mitbekommen, dass er in Vorbereitung des Hochseillaufs AUF dem Seil geschlafen hatte. „Ich werde das Seil. Ich bin das Seil“, sagte er mir damals.
Aus alten Notizen und Erinnerungen ist dieses Porträt von Philippe Petit entstanden.
In den Städten, die er bereist, versäumt er es nie, das höchste Bauwerk aufzusuchen. Viele Stunden bleibt er dort oben, schaut in den leeren Luftraum, lauscht dem Wind. Dem Himmel fernbleiben kann er nicht lange. Sei es in Frankfurt, New York, Paris, Sydney oder wo immer.
Geboren am 13. August 1949 im französischen Nemours, 1966 das Hochseil entdeckt und ihm verfallen, seitdem durch die ganze Welt gezogen, war Frankfurt nicht der erste Ort, an dem er die Menschen in Bann schlug, ja sich „ins Herz brannte“, wie es 1982 dem amerikanischen Schriftsteller Paul Auster geschah. Fasziniert war Paul Auster bereits gewesen, als er 1971 in Paris bei einem Spaziergang entlang des Boulevards Montparnasse Philippe Petit inmitten einer stillschweigenden Menschenmenge jonglierend erstmals getroffen hatte. „Seine Darbietung war von solcher Wildheit und Intelligenz, dass ein Wegschauen unmöglich war.“ Jeder, aber wirklich jeder legte damals Geld in Petits Hut. Auster hatte so etwas noch nie erlebt.
Wochen später, bei der Morgenlektüre, wurde im aus der Zeitung klar, dass sein Jongleur jener Philippe Petit war, der die Nacht zuvor zwischen den Türmen der Kathedrale von Notre-Dame auf einem Hochseil getanzt und jongliert hatte, illegal, ohne Genehmigung der Behörden, ohne den Verkauf von Eintrittskarten. Paris veränderte sich dadurch für den frankophilen Dichter, der seine Vorliebe für existenzialistische, für dadaistische und am Abgrund schreibende Autoren in einer Reihe einfühlsamer Porträts dokumentierte (betitelt „The Art of Hunger“). Auf immer sah Auster nun zwischen den Kathedraltürmen von Notre-Dame jenes dünne Stahlseil und darauf eine winzige menschliche Figur, „ein Pünktchen von Leben gegen den Himmel“.
1980 schließlich lernten sich die beiden kennen. Und Paul Auster, damals selbst so gut wie unveröffentlicht, fand seinem neuen Freund – beinahe zeitgleich mit dem Erscheinen seiner eigenen „New York Trilogie“ im Kleinverlag Sun & Moon Press – einen Verleger. Ins Amerikanische übersetzt von Paul Auster und mit einem Vorwort des großen Pantomimen Marcel Marceau erschien 1985 in New York Philippe Petits Buch-Kleinod „On the High Wire“.
Schon das Titelbild ist ungewöhnlich, zeigt ein ganz und gar unheroisches, vielmehr ein verblüffend entspanntes Bildmotiv: der Länge nach, spielerisch ein Bein und einen Arm in der Luft baumelnd, liegt der Autor ausgestreckt auf einem Seil, ziemlich hoch in der Luft. Dicke, grobe Hanfseile mit üppigen Fasern ziehen sich dichtgedrängt über die vorderen und hinteren Innendeckel. Dazwischen spannt sich ein Buch, das nur vom Himmel kommen kann.
Zuerst bedankt sich Philippe Petit bei jenen 27 Verlegern, die sein Buch abgelehnt und damit, die vorliegende, endgültige Version ermöglicht hätten. Dann verrät er, dass er, wäre es nach ihm gegangen, Druckstock und Lettern selbst entworfen und geschnitzt, die passende Farbe erfunden und dann mit seinem Einrad die Buchhandlungen mit dem handgebundenen Buch selbst beliefert hätte. Definiert wird anschließend, der Hochseilläufer zum „voleur“ des Mittelalters, zu den „Ascensionisten“ und „Funambules“ gestellt. Wer nicht stolz auf seine Furcht sei, nicht bereit, „gegen Versagen und Gefahr zu kämpfen, wer nicht bereit ist, alles zu geben, um sich lebendig zu fühlen, braucht kein Hochseilläufer zu werden. Er könnte es nie werden.“
Das eigentliche Buch, das auch ein Handwerker-, ein Photo-, ein Gedicht- und ein Philosophiebuch ist, teils mit schwieligen Händen und müden Armen geschrieben, aber auch federleicht, graziös, tiefgründig wie eine Schlucht und erhebend wie ein wolkenloser Himmel, von einer Reinheit wie die Gedanken eines Zen-Meisters, beginnt dann mit „Setting up the wire/The first steps/Walking“:
Es gibt eine unendliche Art von Seilen. Wer immer die Kunst erlernen will, darauf zu laufen, muss zuerst die Suche nach dem richtigen bewältigen. Muss sie vergleichen. Muss die behalten, deren Eigenheiten mit seinen Vorgaben korrespondieren. Muss lernen, wie sie zu knoten sind. Muss wissen, wie sie zu spannen sind.
Sich dieses Wissen anzueignen, ist eine Lebensaufgabe.
Diesmal ist es ein Drahtseil aus reinem Stahl, gedreht aus sechs, sieben oder acht Litzen, mit einem Durchmesser von zwölf bis sechsundzwanzig Millimetern.
Mit einem Kern, einer ‚Seele‘ aus Hanf.
Heute finden sich keine Hochseilläufer mehr, die dicke Taue aus italienischem Hanf benutzen. Das Drahtseil hat das Tau abgelöst.
Dieses Seil muss frei sein von jeder Spur von Fett.
Jedes Stahlseil wird bei der Herstellung gleitfähig gemacht. Die erste Arbeit besteht daher darin, dieses Schmierfett zu entfernen. Die beste Methode ist, das Seil in einer Gartenecke auszulegen und es dort für mehrere Jahre zu lassen. Nach Ablauf dieser Zeit wirst du durch das hohe Gras jagen, um das „alte“ Seil wiederzufinden. Um es wieder neu zu machen, nicht in der Lage bist, ein neues Seil auf diese Art zu altern, bleibt die Alternative, den Reinigungsprozess so oft wie möglich zu wiederholen – jede Litze, eine nach dem anderen zu wischen, wieder und wieder, bis das Seil absolut trocken ist. Diese Methode ist freilich nicht ganz zufriedenstellend, denn die Schmiere, die in der ‚Seele‘ schlummert, kann manchmal reichlich herausquellen, wenn das straff gespannte Seil längere Zeit der Sonne ausgesetzt wird. Ein verrostetes Drahtseil kann perfekt werden, sobald es gebürstet und gewischt wurde.
Ein Seil muss in gutem Zustand sein. Ohne Kinks oder Fleischerhaken. Kinks sind die Spuren, die eine alte Schlinge oder eine Öse hinterlassen; das Seil ist gebogen worden, und wenn man es streckt, bleibt eine kaum wahrnehmbare Unebenheit, die selbst durch die stärkste Spannung nicht mehr eliminiert werden kann. Fleischerhakten sind die Drähte einer gebrochenen Litze, sie richten sich auf wie Splitter. Um sicherzugehen, dass das Drahtseil keine Fleischerhaken verbirgt, wischt man mit einem Tuch über die ganze Länge, und das in beiden Richtungen.
Zeit braucht es, viel Zeit. Jedes Seil hat seine eigene. Langsam, bewusst und konzentriert in jeder Pore, geht es Schritt vor Schritt. „Auch der Reiter kennt das Vergnügen, sich im langsamen Gang zu bewegen“, weiß Petit.
‚Rück‘ näher. Fühle, wie es ein Gleichgewicht nicht länger gibt. Achte auf den Moment, wenn du plötzlich mit dem Atmen aufhörst. Eine außerirdische Schwere wird dich am Seil verankern. An ihm entlang wirst du atmen: vom Ende des Seils her wird die Luft strömen, ihm sich entlang langsam den Weg bahnen, deine Fußsohlen durchdringen, deine Beine hochkriechen, deinen Körper überschwemmen und zuletzt deine Nasenlöcher erreichen. Du wirst ohne jede Pause ausatmen, und dein Atem wird auf dem gleichen Weg zurückreisen: weich wirst du die Luft aus deinen Lippen stoßen, und sie wird niedersinken, aus jedem Muskel fließen, die Außenlinie deiner Füße nachziehen und dann wieder im Seil verschwinden. Lasse deinen Atem nicht auf halbem Wege alleine. Folge ihm, bis er durch das Ende des Seils entweicht, auf dieselbe Art, wie er gekommen ist. Deine Atmung wird langsam werden, lang wie ein Faden. Du und die Verankerung werdet ein einziger Körper, solide wie ein Fels. Du selbst wirst dich ein Ding des Gleichgewichts fühlen. Du wirst das Seil.“
Auf der rechten Fußsohle trägt Philippe Petit zwei durch ein Seil verbundene Planeten als Tätowierung. Die Spur, die das Barfuß laufen – so lange, bis das Fleisch es versteht – auf dem Stahlseil hinterlässt, verläuft entlang der ‚Linie des Lächelns‘.
„Deinen ganzen Fuß auf einmal auf das Seil zu setzen, gibt eine sichere, wenn auch schwerfällige Art des Gehens; lässt du aber zuerst deinen Zehen, dann die Fußsohle und schließlich deine Ferse auf das Seil gleiten, wird es dir möglich sein, jene berauschende Leichtigkeit zu erfahren, die so herrlich ist in großen Höhen. Und die Leute werden dann über dich sagen: ‚Er macht einen Spaziergang auf seinem Seil‘.
Gehen ist die Seele des Seils. Es gibt eine unendliche Anzahl von Stilen. Da gibt es Gang, der gleitet, wie der eines Stierkämpfers, der sich langsam seinem Gegner nähert, die Gefahr mit jedem neuen Schritt wachsend, der Körper ungewöhnlich gekrümmt, hypnotisiert.
Da ist der ungebrochene, fortwährende Gang, ohne die geringste Sorge um Balance, den Stab auf deiner Schulter, den Arm schwingend, und deine Augen aufwärts gerichtet, als ob du im Himmel nach Gedanken schaust; dies ist der solide Gang eines Mannes der Erde, ein Werkzeug auf der Schulter und zufrieden mit seiner Tagesarbeit. Dieser Gang ist meiner.“
Petit, der gelernt hat, „der Polizei auf meinem Einrad zu entkommen“, tut, so sagt Paul Auster, ganz einfach das, wozu er fähig ist. „Wer jemals versucht hat, etwas wirklich gut zu tun, wer je Opfer brachte für eine Idee oder einen Vorsatz, wird kein Problem haben zu verstehen, worum es beim Hochseillaufen geht“, schreibt Auster.
„Das Hochseil ist eine Kunst der Einsamkeit, ein Weg, mit sich selbst ins Reine zu kommen im dunkelsten, allergeheimsten Winkel des Selbst.“ Lehren kann man das nicht, nur selbst sich beibringen. Das heißt, so Petit, „seinen Körper zu verstehen“ und „Bewegungen, die keine Spuren lassen“. Der Wind der Schritte muss mit dem Atem des Seils im Gleichklang sein. Der Wind der eigenen Gedanken ist dabei gewalttätiger als der wirkliche.
„Jeder Gedanken auf dem Seil“, weiß Petit, „führt zu einem Fall… Du darfst nicht fallen. Widerstehe eine lange Zeit, wenn du dein Gleichgewicht verlierst, bevor du dich der Erde zuwendest. Dann springe. Du darfst dich nicht zwingen, still zu stehen. Bewege dich vorwärts. Du musst gewinnen. Das Drahtseil vibriert. Die Versuchung besteht darin, es mit Gewalt ruhig zu halten. Tatsächlich muss man sich mit Grazie und Geschmeidigkeit bewegen, um nicht das Lied des Seils zu stören.“
Eines Tages wird Philippe Petit – dessen größte Angst es ist, vor der Angst so sehr Angst zu bekommen, dass er für immer unten auf der Erde bleibt – geradewegs in den Himmel laufen und die Sterne erreichen. Wer ihn, in welcher Stadt auch immer, dort oben am Himmel sieht, muss nicht gleich erschrecken, auch nicht, sollte er sich zu schnell bewegen: „Das Rennen ist das Gelächter des Akrobaten“, beruhigt er uns. Und: „Grenzen gibt es nur in der Seele derer, die nicht träumen.“
Alf Mayer
Philippe Petit: On the High Wire. Translated by Paul Auster, with a preface by Marcel Marcau. New York, 1985.
Philippe Petit: To Reach the Clouds. My High Wire Walk Between the Twin Towers. North Point Press, New York 2002.
Philippe Petit: Creativity. The Perfect Crime. Riverhead Books, New York 2015.