Zum empörendsten Fehlurteil Hollands
von Anna Veronica Wutschel
Das Unrecht ist längst geschehen, der Täter überführt und der Gerechtigkeit, also dem Justizsystem überstellt. Da, wo die meisten Whodunnits, all die Serial-Killer-Thriller enden, spinnt das Subgenre des Justizthrillers den Faden weiter. Und auch in diesem der Spannungsunterhaltung untergeordneten Genre ist die Bandbreite weit gefächert. Charismatische, mit allen Wassern gewaschene, skrupellose oder völlig abgehalfterte, verlotterte, aber findige Anwälte steigen in die Kampfarena des Gerichtssaals und taktieren so unverschämt schonungslos mit den Gesetzen, dass der Schuldige am Ende als unschuldig freigesprochen werden muss.
Das hat trotz allen Unrechts zumeist viel Dynamik, und nicht selten genug sympathisiert man mit der Cleverness der Protagonisten, die letztlich ein unzulängliches System zu ihren Gunsten auszubeuten wissen. Dies verweist zugleich auf die Kehrseite, denn ebenso oft wird gezeigt, wie ein hilfloses System, dessen Richtlinien nicht greifen, trotz aller Bemühungen den Schuldigen zuweilen allein wegen eines Formfehlers nicht belangen kann. (Vgl. z. B. “Ein Richter sieht rot”, 1983, in dem sich frustrierte Richter die verlorenen Fälle noch einmal unter Ausschluss der Öffentlichkeit vorknöpfen, um der Gerechtigkeit Genüge zu leisten.)
Dass das System nicht wirklich funktionstüchtig ist und sich fernab von Gerechtigkeit und Moral bewegt, scheint eine Tatsache, die kaum jemanden wirklich zu beunruhigen scheint, solange er nicht selbst in die Mühlen der Justiz gerät. Längst haben jenseits des Genres Autoren wie Kafka in “Der Prozess” oder Camus in “Der Fremde” von den unterjochenden Prozeduren erzählt, die einem widerfahren, wenn man – schuldig oder schuldlos – angeklagt wird.
Doch wie immer man die Thematik angehen oder verhandeln mag, immer umkreist sie essentielle, existentielle Grundfragen, die den Einzelnen ebenso betreffen wie die Gesellschaft. Sidney Lumets grandioser Klassiker “Die zwölf Geschworenen” (“12 Angry Men”, so der Originaltitel, 1957) zeigt in einem wahrhaft packenden Kammerspiel, dass Rechtssprechung im schlimmsten Fall viel mehr mit der Persönlichkeit des Rechtssprechenden, der Dynamik in einer Gruppe zu tun haben könnte als mit dem Täter oder gar der ihm zur Last gelegten Tat.
Für den Auslands-Oscar nominiert
Die niederländische Produktion “Lucia – Engel des Todes?” beruht auf einer wahren Begebenheit und erzählt die Geschichte des “empörendsten Fehlurteils in der jüngeren Justizgeschichte Hollands” auf fast betuliche Weise. 2003 wurde die Krankenschwester Lucia De Berk wegen siebenfachen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt. Dieser erst Jahre und mehrere Prozesse später aufgeklärte Justizirrtum, der auch in den deutschen Medien für Schlagzeilen sorgte – der niederländische Schriftsteller Maarten ´t Hart bezeichnete das Verfahren als Hexen-Prozess – lässt also bezüglich seines Ausgangs keine Frage offen.
Der niederländischen Regisseurin Paula van der Oest – sowohl mit ihrem Film “Zus & Zo” wie auch mit “Lucia” schaffte sie es auf die Shortlist für den Oscar als besten fremdsprachigen Film – schien klar, dass dem niederländischen Publikum der Fall nur allzu präsent sein dürfte. Wenn also nicht ein unbekanntes, überraschendes Ende den Zuschauer in die Kinos treiben kann, sollte zumindest das Gezeigte, die Art des Erzählens mitreißen. Doch auch hier verzichtet van der Oest auf das, was man gemeinhin Spannungselemente nennt, verzichtet auf heftige, entlarvende Wortgefechte vor Gericht, auf überraschende juristische Finten, und erzählt stattdessen nüchtern, sehr geradlinig, dabei zugleich behutsam die Geschichte der Lucia de Berk.
… wie ein Schneeball
Während der Arbeitszeit der Krankenschwester verstarb ein Baby. Die Akten besagten, sein Zustand sei stabil gewesen, doch der Zuschauer weiß bereits, er war in den kritischen Momenten, in denen Lucia um das Leben des kleinen Jungen kämpfte, anwesend, dass das nicht stimmt. Zunächst geht man von einem natürlichen Todesfall aus, dann allerdings beginnt die Krankenhausbehörde nachzuhaken. Die Kolleginnen beschreiben Lucia als sonderbare Einzelgängerin, die sich früher prostituiert habe. In ihrem Appartement findet man einige Bücher über Serienmörder, die Lucia nach abgelaufener Leihfrist nicht zurück in die Bibliothek gebracht hat. Zudem werfen kryptische Tagebucheintragungen Fragen auf – alles in allem scheint Lucia ein sonderbarer, verschlossener Mensch zu sein, dem letztlich alles zuzutrauen ist. Die Krankenhausleitung, die unter enormem finanziellen Druck steht, findet nur allzu gern einen Sündenbock und wendet sich vorschnell an die Öffentlichkeit. So wird die Staatsanwaltschaft, die anfänglich zögert und keinen Ermittlungsbedarf feststellen kann, zum Handeln gezwungen. Und wie die sprichwörtliche Lawine, die sich aus dem harmlosen Schneeball zu unkontrollierter Verwüstung zusammenballt, nimmt das Geschehen seinen verheerenden Lauf.
Wenn die Jagd sich verselbständigt
In dem einen Erzählstrang – die Figur der jungen ehrgeizigen Staatsanwältin Judith Jansen (Sallie Harmsen) scheint fiktiv, ist aber gut gewählt -, wird wie am Rande in kleinen Szenen gezeigt, wie die Interessen der Agierenden ihr Urteil wie auch ihr Handeln beeinflussen. Gerade von der Universität entlassen, ist die neue Assistentin der Staatsanwaltschaft schon frustriert. Anstatt zu ermitteln, soll Jansen staubige Akten archivieren. Da kommt ihr der Tod eines Babys und der plötzliche Medienhype nach einer mit Vorwürfen gespickten anklagenden Rede des Leiters der Klinik nur recht. Schnell findet Jansen Lücken und Widersprüche in den ihr vorliegenden Unterlagen und stachelt die Staatsanwältin (Annet Malherbe) an, den Fall nicht nur zur Anklage zu bringen, sondern auch noch weitere Morde der einen Tat anhängig zu machen.
So gelingt es van der Oest durchaus eindringlich aufzuzeigen, wie durch willkürliche Interessen Einzelner (Frustration, Langeweile, Karrierewunsch) eine Jagd auf einen Menschen beginnen kann, die sich letztlich durch die unkontrollierbare Berichterstattung der Medien verselbstständigt. Dass bei solch einem vermeintlichen Selbstläufer, in dem niemand mehr eigene Fehler oder Versäumnisse einräumen will, sondern im schlimmsten Fall vielmehr mit der Vertuschung eben dieser beschäftigt ist, am Ende niemand mit sauberen Händen davonkommt, ist dann im Falle von “Lucia” immerhin eine Genugtuung.
Und eben auf der Figur der Lucia, auf die formidable Darstellung der Ariane Schluter, setzt die gesamte Inszenierung. Schluter spielt so unglamourös, so zurückhaltend eine gebrochene Seele, die schon im Kindesalter aufs Schlimmste missbraucht wurde, die sich in sich zurückgezogen hat, und nur wenigen Menschen vertraut, dass ihr für diese Darstellung sicherlich ein Preis gebührt. Es ist selten, dass Figuren, die so emotionslos wirken, dem Zuschauer so ans Herz gehen.
Schluter trifft in dieser Distanziertheit mit minimaler Mimik derart viele Zwischentöne, dass man ihrer Lucia sicherlich auch Sympathie entgegengebracht hätte, wenn sie doch schuldig gewesen wäre. Und genau da mag das Manko des Films liegen, die Darstellung der Hauptdarstellerin ist herausragend. Doch letztlich erzählt die zeitweise sich schleppend entwickelnde Handlung, die wie ein Gegenpol zur vorschnellen Medienhetze gedeutet werden könnte, einfach recht konventionell das – im Nachhinein – Vorhersehbare. Und das ist bei der Brisanz des Stoffes bedauerlich.
Anna Veronica Wutschel
Lucia – Engel des Todes? 1 DVD mit Bonus; Making-Of. Studio: Edel Motion. Laufzeit: 103 Minuten + Bonus (17 Minuten). Darsteller: Ariane Schluter; Sallie Harmsen u. a. Erscheinungstermin: 29.01.2016. Produktionsjahr: 2014. Sprache: Niederländisch (DTS HD 5.0), Deutsch (DTS HD 5.0). FSK: 12 Jahre.