Auf der Suche nach dem größeren Sinn
-Stefan Slupetzkys neuester Roman bringt uns den Autor näher als jemals zuvor – und damit einen ungeahnt großen Gewinn. Von Andreas P. Pittler
Eigentlich könnte Daniel Kowalski friedlich seine Tage zubringen. Genug verdienen, um sorgenfrei leben zu können, abends in die Kneipe gehen und danach den Schlaf des Gerechten schlafen. Doch kann, wir ahnen es, der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen – nun, in diesem Fall – Schicksal nicht gefällt. Ein Brief seiner Großtante aus Israel erschüttert Daniels mühsam auf normal getrimmtes Leben in seinen Grundfesten. Mit einem Mal will – ja muss – er sich mit seiner Familiengeschichte befassen, und da birgt jede vermeintliche Erkenntnis nur neue Fragen.
Seine ganze Existenz, so wird Daniel bewusst, ist eigentlich eine Contradictio in adiecto. Die Familie seiner Mutter ist jüdisch, die seines Vaters weist eine erkleckliche Zahl erschreckender Nazis auf, von denen einer, Daniels Großvater Johann, das berüchtigte „Zyklon B“ erfand, mit dem Hitlers Schergen Millionen Juden grauenvoll ermordeten. Allein diese Erkenntnis will einmal verdaut sein, doch für Daniel tun sich angesichts dieser Tatsache gleich noch weitere Fragen auf. So vor allem die, weshalb sein Vater, der mit der braunen Vergangenheit der Ahnen so radikal gebrochen hatte, so früh sterben musste.
Daniel lässt buchstäblich alles liegen und stehen, auch seine eigene Familie, über die er mittlerweile verfügt, um hinter das Geheimnis des Todes seines Vaters zu kommen. Und im Zuge dieser Spurensuche ertappt er sich plötzlich bei der Frage, ob der Vater nicht den eigenen Tod nur inszeniert haben könnte, um den Unbilden der ihm Fesseln anlegenden Existenz zu entrinnen.
So abwegig, wie dieser Gedanke auf den ersten Blick erscheint, ist er für Daniel gar nicht. Denn, ohne es sich wirklich eingestehen zu können, in Wirklichkeit ist nämlich er, Daniel, es, der sich gefesselt sieht, der fliehen will. Was eben noch richtig erschien an seinem Sein, das wird mehr und mehr zum Leben im Falschen, zum Irrweg, zum psychischen Terror, der überwunden sein will, überwunden werden muss.
Daniel geht auf der Suche nach dem „letzten großen Trost“ bis an die Grenzen seiner selbst und der seiner Umwelt. Sein Verhalten wird zur Belastung für seine Beziehung, und doch kann er nicht anders. Indem er gleichsam seine eigene Familie aufstellt – denn auch das Verhältnis zu seiner Mutter und zu seinem etwas leichtlebigen Bruder bedarf einer neuen Definition -, stellt Daniel sich selbst neu auf, um am Ende auf neuen, eigenen Beinen zu stehen. Sich selbst endlich gewiss. Und dass auch seine Partnerin Marion zu ihm steht, wirkt wie der verdiente Lohn für jemanden, dessen Geschichte uns allen ein großer Trost ist – allen Zweifels, aller Verzweiflung zum Trotz.
Der geniale Wiener
Denkt man an Wiener Gegenwartsliteratur, so müssen zwangsläufig zwei Namen fallen. Ernst Molden, dessen vertonte Poeme dem Wienerlied erst literarischen Ruhm verleihen, und Stefan Slupetzky, der wie kaum ein anderer die Geschichte der Wiener Literatur von Zweig bis Werfel fortschreibt. Seine Lemming-Romane waren literarische Kleinodien, verpackt in eine Krimihandlung, die auf den ersten Blick gar nicht erahnen ließ, was für ein einzigartiger Sprachkünstler hier am Werk ist. Seine Kurzgeschichten sind Miniaturen, in denen sich das große Ganze auf wenige Striche zusammengefasst sieht, ein Mikrokosmos, in dem das Universum auf den Punkt gebracht ist. Doch so spielerisch Slupetzky vermeintlich daherkommt, wenn er uns mit einem klassisch charmanten Wienerisch den Spiegel vor Augen hält, so sehr zwingt uns die Lektüre seiner Werke zur Aufmerksamkeit. Seine Sätze sind nämlich, aller vermeintlichen Leichtigkeit zum Trotz, sorgfältigst durchkomponiert. Da stimmt jedes Wort, passt jede Metapher, wird jede Paraphrase solange durchdacht, bis sie jene Qualität erreicht, die Slupetzky keinesfalls zu unterschreiten bereit ist.
Diesmal aber braucht es keinen Wallisch vulgo „Lemming“ oder Polivka, durch deren Filter wir Slupetzkys Gedankenwelt erahnen können, diesmal ist es die Person des Autors selbst, die uns, kaum camoufliert, in Daniel Kowalski gegenübertritt. Die Krisen, die Kowalski durchstehen muss, die Prüfungen, denen er sich ausgesetzt sieht, sind jene des Schriftstellers selbst. Und gerade, weil dieser Text so schonungslos ehrlich und so zutiefst menschlich daherkommt, können wir uns in dem Protagonisten auch selbst erkennen. Was bekanntlich seit jeher das Kennzeichen großartiger Literatur ausmacht.
Würde Slupetzky heute sein Schreibgerät aus der Hand legen, er hätte sich unzweifelhaft bereits jetzt seinen fixen Platz in der österreichischen Literaturgeschichte erarbeitet. Werke wie „Der letzte große Trost“ aber lassen hoffen, dass Slupetzky noch lange weiterschreibt und seinem Oeuvre noch weitere großartige Texte hinzufügt, die, gleich dem vorliegenden, den Kanon heimischen Schrifttums fraglos bereichern werden.
Andreas Pittler
Stefan Slupetzky: Der letzte große Trost. Rowohlt, Reinbek bei Hamburg 2016. 251 Seiten. 19,95 Euro