Geschrieben am 17. Mai 2016 von für Crimemag, Film/Fernsehen

Film: Jonás und Alfonso Cuarón: Desierto

 

 

Desierto

Mitte April ist in den mexikanischen Kinos Desierto angelaufen, der neue Film von Jonás und Alfonso Cuarón (den Machern von Gravity) mit Gael García Bernal und Jeffrey Dean Morgan in den Hauptrollen. Jürgen Neubauer hat ihn gesehen.

Die Handlung ist schnell erzählt: Irgendwo in der Wüste von Sonora überquert eine Handvoll von Migranten zu Fuß die Grenze in die Vereinigten Staaten. Dort wird sie von einem vigilant erwartet, einem selbst ernannten Grenzwächter und Scharfschützen, der Jagd auf sie macht. Acht erschießt er sofort, während sie durch eine Salzpfanne laufen, für die anderen beginnt ein erbarmungsloser Überlebenskampf unter der brennenden Sonne der Wüste. Im Grunde passiert nicht viel, die Figuren entwickeln sich kaum, die Dialoge sind spärlich. In dem Film, der streckenweise beinahe in Echtzeit abläuft, geht es dem Regisseur vor allem darum, die Zuschauer in eine Atmosphäre hineinzuwerfen: den unvorstellbaren Horror, den die Migranten durchleben. Dass das überzeugend gelingt, verdankt er vor allem seinen vier Hauptdarstellern: Gael García Bernal als Migrant Moisés, Jeffrey Dean Morgan als Scharfschütze, seinem grauenerregenden Hund und der Wüste von Sonora.

“Ich konnte mir die Erfahrung der mexikanischen Migranten nur als Horrorfilm vorstellen”, sagte Cuarón in einem Interview mit Radio Fórmula. Der Gedanke zu dem Film sei ihm schon vor zehn Jahren, noch vor Gravity gekommen. Gael García Bernal, dem er vor acht Jahren das Drehbuch zeigte, habe befürchtet, das Thema könne an Aktualität verlieren. Doch angesichts des Vorwahlkampfs von Donald Trump ist der Film mit einem Mal brandaktuell. Nicht nur der Film, auch die ersten Reaktionen darauf geben die aktuelle Stimmung wieder, die heute auf beiden Seiten der Grenze herrscht.

473930.jpg-r_640_600-b_1_D6D6D6-f_jpg-q_x-xxyxx“In Mexiko krallt sich das Publikum in die Sessellehnen und kaut sich die Nägel ab”, erzählt Cuarón. “Aber in den USA hat der Film den Hass noch angeheizt.”

Cuáron hat einige der Reaktionen der nordamerikanischen Zuschauer auf Twitter zusammengestellt: “Bleibt daheim!” war noch die harmloseste. “Genau das sollten die Grenzpatrouillen machen!”, twitterten einige über den Scharfschützen. “Ein Held!” und “Ein echter Amerikaner!” meinten andere, und jemand fand gar: “Der Mann tut Gottes Werk”.

Andere lassen ihrem Hass auf die Mexikaner freien Lauf: “Weg mit den Bohnenfressern!”, “Knallt sie alle ab!” oder “Wenn alle verrecken würden, wäre das ein Happy End”.

Und wieder andere stellen den Bezug zum rassistischen Wahlkampf von Donald Trump her. “Trump muss definitiv Präsident werden!” finden einige. “Wir brauchen die Mauer!” Und mit Anspielung auf Trumps Forderung, die Mexikaner sollten die Mauer selbst bezahlen, twittert einer: “Die Mexikaner sollten auch noch die Kugeln selbst bezahlen.” Der Film ist ein Symbol für genau diesen Rassismus, der den Mexikanern in den USA seit zwei Jahrhunderten entgegenschlägt, und der in Trumps Wahlkampf einen neuen Höhepunkt erreicht.

Der Vergleich mit Gravity drängt sich auf. Gravity wurde hauptsächlich von Vater Alonso Cuarón gedreht, bei Desierto übernahm Sohn Jonás die Federführung. Beide Filme schaffen in erster Linie eine Atmosphäre, aber die Ähnlichkeit geht weit über die Ästhetik hinaus. Beide Filme sind existenzialistische Dramen: Hier wie da werden die Protagonisten hineingeworfen in eine gleichgültige und grausame Natur, und müssen um ihr Überleben kämpfen. Mit dem Unterschied, dass es in Gravity das All ist, das den Menschen zu vernichten droht, und in Desierto nicht nur die Wüste, sondern auch ein Scharfschütze, der so gleichgültig und grausam handelt wie eine Naturgewalt. Vor allem aber geht es im Subtext beider Filme um den amerikanischen Traum. Die Sicht auf diesen Traum könnte allerdings nicht unterschiedlicher ausfallen: In Gravity ist es der amerikanische Traum von der frontier, der Grenze, die ins Weltall hinausgeschoben wird, und vom Pionier, der sich gegen alle Widrigkeiten behauptet – der Mythos, der das amerikanische Selbstverständnis bis heute prägt. In Desierto geht es dagegen um einen sehr viel konkreteren amerikanischen Traum vom besseren Leben, das sich die Mexikaner in den USA erhoffen. Und es geht um den Rassismus, der untrennbar mit diesem Traum verbunden ist: Kein anderer soll an diesem Traum teilhaben dürfen, schon gar keine “dreckigen mexikanischen Diebe”, wie der Scharfschütze sie nennt.

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Man muss Gravity und Desierto zusammen sehen, weil sie die dieselben Motive aufgreifen und aus unterschiedlichen Perspektiven erzählen. Aber es gibt einen großen Unterschied: Wenn Gravity sieben Oscars bekam und in den USA zum Kassenschlager wurde, dann auch, weil der mexikanische Regisseur Alonso Cuarón den amerikanischen Traum so gekonnt eingefangen hat und seinen amerikanischen Zuschauern ein verführerisches Märchen vorgeführt hat. Sein Sohn Jonás fängt diesen Traum in Desierto mindestens genauso gekonnt ein, aber weil er ihn von der anderen Seite der Mauer sieht und dessen finstere und rassistische Abgründe aufzeigt, würde es mich wundern, wenn die Academy ihn auch nur für einen einzigen Oscar nominiert. Die Traumfabrik ist genauso rassistisch wie der amerikanische Traum selbst.

Jürgen Neubauer

Desierto, Mexiko/Frankreich 2015, Regie: Jonás und Alfonso Cuarón, Darsteller: Gael García Bernal, Jeffrey Dean Morgan, Alondra Hidalgo u.v.m., Dauer: 1 Std. 34 Min.

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