Viv Albertine – A Typical Girl?
Von Christina Morh
Viv Albertine ist eine echte Legende: Die 1954 in Sydney geborene Künstlerin war Gitarristin der Londoner Postpunkband The Slits, eine der wenigen reinen Frauenbands dieser Zeit. The Slits existierten von 1977 bis 1982 und waren in vielerlei Hinsicht eine der wichtigsten und einflussreichsten Acts der Ära – wobei Albertine vehement darauf besteht, dass The Slits keine Punkband waren! Im popkulturellen Gedächtnis geblieben ist zum Beispiel das Cover ihres Albums „Cut“ von 1979, auf dem die Band nackt und mit Matsch beschmiert posiert.
Die Nacktheit der Slits war weniger Ausdruck von Sexyness als von Protest: The Slits wehrten sich gegen das Establishment und das männlich dominierte Popgeschäft. Die vier Frauen (prominenteste Besetzung: Albertine, Ari Up, Tessa Pollitt, Palmolive) experimentierten mit afrikanischen und jamaikanischen Rhythmen und machten jedes ihrer Konzerte zum Happening. The Slits kombinierten Tutus mit Doc Martens und begründeten damit einen ikonischen femininen Punk-Style, der millionenmal kopiert wurde. Mit Songs wie „Typical Girls“ machten sie sich über ihre Geschlechtsgenossinnen (und sich selbst) lustig und waren Wegbereiterinnen für unzählige Frauenbands und die Riot Grrrl-Bewegung.
Vor zwei Jahren veröffentlichte Viv Albertine ihre Autobiographie „Clothes, clothes, clothes, music, music, music, boys, boys, boys“ – der Titel spielt auf den Stoßseufzer ihrer Mutter an, die sich darüber beklagte, dass Viv eben nur diese Dinge im Kopf habe; der Titel der deutschen Übersetzung variiert den bekanntesten Song der Slits, „Typical Girls“. Im Buch geht es natürlich auch um Musik und Vivs Rolle in der Punk-Bewegung, aber es sind nicht die typischen Memoiren einer Musikerin. Albertine schont weder sich noch ihre LeserInnen, wenn sie von den vielen Versuchen, schwanger zu werden berichtet, oder von den schrecklichen Details ihrer zum Glück überstandenen Krebserkrankung. Das äußerst lesenswerte Werk ist jetzt in großartiger deutscher Übersetzung von Conny Lösch im Suhrkamp Verlag erschienen – Anlass für ein Interview mit Viv Albertine, die Ende Mai auf Lesereise zu erleben ist!
MO: Als Sie mit den Slits spielten, oder auch zu anderen Zeiten: War Ihnen jemals bewusst, dass Sie etwas Besonderes machten – Geschichte schrieben, sozusagen?
Viv Albertine: Meine Bandkolleginnen und ich wussten, dass wir mit den Slits etwas Bahnbrechendes taten – uns war klar, dass unsere Musik aufregend und kompromisslos war. Die Rhythmik, die Lyrics, unser Zusammenspiel war stringent ausgearbeitet und durchdacht, und war auf gar keinen Fall klischeehafter Rock. Deswegen hat es damals auch so lange gedauert, bis „Cut“ 1979 endlich fertig war. Wir wollten ein Werk abliefern, das nicht veralten, sondern ein Klassiker werden würde. Jede kreative Arbeit, die ehrlich ist und nicht nur „nachgemacht“, sollte über die Jahre Gültigkeit behalten: Von den Höhlenmalereien über Robert Johnson bis zu The Slits.
Uns war außerdem bewusst, dass das, was wir machten, sich sehr von dem unterschied, wie sich Frauen früher benahmen oder aussahen. Wir dachten, dass wir die Welt für Mädchen ein bisschen verändern könnten. Ich weiß nicht, ob uns das gelungen ist, aber wir glaubten sehr daran!
Ich habe Ihr Buch „A Typical Girl“ zweimal gelesen, auf Englisch und jetzt in der deutschen Übersetzung, und ich war auch beim zweiten Mal sehr beeindruckt von der schonunglosen Offenheit, wie Sie über Ihren Kinderwunsch, Krankheiten, Schmerzen, Angst, Beziehungen schreiben – fiel Ihnen das leicht oder schwer? Dachten Sie je darüber nach, das Buchprojekt zu stoppen?
Es war sehr schwer für mich, wobei es mir leichter fiel, über all die physischen Einzelheiten während meiner Erkrankungen zu schreiben – weil ich so von Emotionen überwältigt wurde, lief das flüssiger als die historischen Teile über Punk. Mir war klar, dass ich über andere Leute schrieb, was eine Menge Verantwortung mit sich bringt. Das viele Blut und die Beschäftigung mit den eigenen Eingeweiden ist überdies auch im Nachhinein sehr dramatisch, es treibt das Schreiben geradezu an. Der beängstigende Teil kam dann, als ich das fertige Manuskript dem Verlag geben musste – es also buchstäblich loszulassen. Ich hatte einen kleinen Nervenzusammenbruch, als ich realisierte, dass alles, was ich von mir offenbart hatte, nun nicht mehr in meinen Händen lag.
„A Typcial Girl“ ist keine übliche Rock-Autobiographie: War das Ihre Intention oder entwickelte sich Ihre Haltung beim Schreiben?
Ich wollte auf keinen Fall eine „Rock-Biographie“ schreiben, diese Idee langweilte mich. Mein Plan war, einen Bogen zu spannen von meinen ersten Versuchen auf der E-Gitarre als Teenager, bis zu dem Zeitpunkt, als ich die Gitarre wieder in die Hand nahm – als fünfzigjährige Hausfrau. Dazwischen liegen alle Schwierigkeiten und Herausforderungen, denen sich eine Frau im Leben stellen muss. Ich habe versucht, alle Facetten zu zeigen: Kreative Prozesse, mangelndes Selbstbewusstsein, Hindernisse, die Familie, Sabotage. Ich hoffte sehr, dass mein Buch Leute erreichen würde, die überhaupt nichts über Punk und The Slits wissen – das war wirklich mein größter Wunsch, und zu meinem großen Erstaunen trat genau das ein. In gewisser Weise wollte ich, dass mein Buch ein als Autobiografie getarnter Ratgeber ist.
Sie schreiben, dass es für Sie als junges Mädchen sehr wichtig war, was andere über Sie dachten, wie Sie in der Öffentlichkeit erschienen. Hat sich das im Lauf der Jahre geändert?
Als ich jung war, wurden Mädchen dazu erzogen, anderen zu gefallen und immer lieb und freundlich zu sein. Es kam vor allem darauf an, dass wir lächelten, nett aussahen, heirateten und Kinder bekamen. Ich war für dieses Modell genauso empfänglich wie jedes andere Mädchen meiner Generation – schließlich durchdrang diese Haltung die gesamte westliche Gesellschaft. Warum ich nicht komplett in dieser Denkweise versank, lag an meiner sehr freigeistigen, unabhängig denkenden, starken Mutter, die sich dem Patriarchat aus verschiedenen Gründen widersetzte und mich entsprechend indoktrinierte. Dazu kam die Gegenkultur der 1960er-Jahre, die sich durch permanentes In-Frage-Stellen der Verhältnisse sehr befreiend auswirkte. In der Gegenkultur war es total okay, anders zu sein.
Sie und Ihre Zeitgenossinnen – ich denke an Punk-Ikonen wie Ari Up, Tessa Pollitt, Vivienne Westwood, Poly Styrene und Jordan – wirken auch von heute aus betrachtet sehr überzeugt von dem, was sie taten und tun. War die Punk-/Postpunk-Ära eine gute Zeit für KünstlerINNEN?
Innerhalb der Gruppe von Frauen, die „Punk“ maßgeblich prägten, beurteilten wir uns nicht gegenseitig danach, ob wir hübsche Klamotten anhatten und gut aussahen – wir hatten ganz andere Kriterien. Unter den Frauen, die Sie erwähnen, herrschte großer Respekt füreinander. Wir strebten nach Originalität, Kreativität, Anregungen und Mut in Ideen und Taten! Damals war mir nicht klar, wie außergewöhnlich – und viel radikaler als die Männer, ganz nebenbei – all diese Frauen waren, die durch Punk zusammengebracht wurden. Und es ja auch heute noch sind.
Vor drei Jahren veröffentlichten Sie das Album „The Vermilion Border“ – nachdem Sie für Jahrzehnte mit dem Musikmachen aufgehört hatten. Wie fühlt es sich an, auch wieder als Musikerin auf der Bühne zu stehen?
Dieses Album aufzunehmen, war für mich eine sehr leidenschaftliche Angelegenheit. Jeder Song hat eine besondere Bedeutung für mich, ich habe über Themen geschrieben, die sonst nicht in der Rockmusik auftauchen: In-Vitro-Fertilisation, Mutterschaft, Scheidung, Sex und Liebe vom Standpunkt einer älteren Frau. Ich dachte, wenn das Album gut ankommt, wäre das sehr aufregend – auch als Weiterführung des Punk-Ethos. Ich bin sehr stolz auf diese Platte und schätze, dass sie auch in dreißig Jahren noch Erwähnung finden wird, genauso wie die Musik der Slits. Im Moment habe ich aber nichts Musikalisches beizutragen und habe das Unterfangen zunächst wieder beiseite gelegt.
Viv Albertine: A Typical Girl (Suhrkamp Nova, Klappenbroschur, 480 Seiten). Aus dem Englischen von Conny Lösch. suhrkamp.de. vivalbertine.com
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