Geschrieben am 5. Juli 2016 von für Litmag, Primärtext

Primärtext: Jan Jacob Slauerhoff: Das verbotene Reich

slauerhoff_1Das verbotene Reich

Jeden Monat präsentiert das LitMag einen interessanten Primärtext. Diesen Monat: Den Prolog aus Jan Jacob Slauerhoffs Roman „Das verbotene Reich“, in der Übersetzung von Alber Vigoleis Thelen, erschienen als Print im Weidle Verlag und digital bei CulturBooks.

PROLOG

I. Im September des Jahres 1540, als Lian Po nahezu achtzehn Jahre bestanden hatte, kam vor dem Nordtor eine kaiserliche Gesandtschaft an, die wohl den himmlischen Namen in ihrem Banner trug, aber keine Gastgeschenke mit sich führte und in hellblaue Trauergewänder gekleidet ging. Das Oberhaupt verlangte Zutritt zum Gouverneur António Faria. Da es Nacht war, wurde sie mit brennenden Fackeln und Laternen durch die Stadt nach einer Herberge geleitet und trotz murrender Ungeduld erst am folgenden Morgen vor Faria gebracht, der, von ihrer Ankunft und ihrem Aufputz unterrichtet, geharnischt auf einem Thronsessel wartete.

Der Älteste trat vor, und ohne seine Kalotte abzunehmen, sagte er mit kalter Stimme: »Lian Po wird verwüstet, die Portugiesen und ihre Sklaven werden unter Martern die Stunde ihrer Geburt verfluchen, wenn ihre Brüder im Süden fortfahren, Malakka zu erobern.«

Ohne seine Stimme zu erheben, noch sich im Sessel aufzurichten, nahm Faria neben sich von einem Tisch eine pergamentene Rolle, entfaltete eine Karte von Malakka, deutete auf einen roten Strich, der den Hals der Halbinsel abschnürte, und wies durchs Fenster auf den Fluß, wo die Schiffe ihre Flaggen hißten und man die Standarten entfaltete. Dann gab er ein Zeichen, ein Schuß fiel, unzählige Feuerschlünde gaben Antwort, und ein Jubel brach los über Stadt und Strom. Auf dem Rückwege trug man die Gesandten in geschlossenen Sänften durch eine festliche Stadt.

Gegen Ende des Jahres erschien eine kaiserliche Flotte von weit über tausend Segeln vor der Reede. Das war auf jeden Portugiesen von Lian Po ein Schiff. Späher meldeten die Ankunft eines großen Heeres, nur noch drei Tagemärsche entfernt. Faria ließ Lian Po unter der Obhut von Peres Alvadra zurück und warf sich mit den dreißig im Hafen liegenden Schiffen zwischen die Dschonken. Auf sechs seiner Galeeren hatte er je eine Festungskanone und eine Feldschlange aufstellen lassen. Diese schleuderten ihre Kugeln unter die Dschonken, während seine Flotte langsam auf den Feind zutrieb. Ehe sie aneinandergerieten, waren ihrer schon Hunderte gekentert. Dann setzte plötzlich der Landwind ein, die schweren Stücke klatschten ins Meer, und in flinken Wendungen lavierten die Karavellen durch den Feind hindurch, nach allen Seiten feuernd. Aber mittlerweile hatten sich schon Dutzende Dschonken an jedes Schiff geheftet, Schwaden gellend schreiender Krieger sprangen an Bord, Krummschwerter schwingend. Granaten aus den Mastkörben, Musketenfeuer von Kampanje und Steven, Messer und Lanze auf den Planken vertilgten die Mandschus wie Heuschreckenschwärme.

Des Nachts wurde beim Schein der Fackeln weitergefochten; bewaffnete Schaluppen beteiligten sich am Kampf, und Schwärme von Haien, die Hyänen der Seeschlacht, rissen sich um die im Blute Ertrinkenden. Schon brannten die Fackeln herunter, als eine große Glut vom Lande her durchbrach. Eine breite rote Mauer wuchs in trägen Flammen von Horizont zu Horizont empor. Als Faria dies sah, geriet er in Raserei und gab seinen Schiffen das Signal zum letzten Angriff. Ihrer neun scharten sich um seine Karavelle, der Rest vermochte nicht mehr, sich aus dem Geknäuel loszumachen, oder war schon übermannt.

Eng hintereinander und unaufhaltsam feuernd und alles rammend, was vor den Bug kam, so durchschnitten sie dreimal das feindliche Geschwader. Das Morgenrot, das an der Kimme aufzog, begegnete den fliehenden Dschonken. Vier Schiffe wandten ihnen den hohen Rücken zu und trieben in die Bucht zurück. Aber Lian Po war schon verschwunden, ein dicker Qualm hing über totenstillen Trümmerhaufen aus eingestürzten Mauern und verkohlten Balken.

Faria wandte sich dem Ort zu, wo seine Stadt gestanden hatte. Die Straßen waren fast unter Schutt begraben, aber er bahnte sich einen Weg, stach Leichen mit seinem Degen beiseite, wenn sie ihm den Pfad versperrten; einmal waren es zwei ineinander verkrampfte zugleich, und endlich stand er vor den Trümmern seines Hauses. Er wagte nicht, die Schwelle zu überschreiten. Dahinter waren seine Frau, seine Kinder, verbrannt oder … Er stützte sich auf sein Schwert und wartete, bis einige Soldaten näherkamen. »Suchen!« befahl er heiser. »Schafft die Balken beiseite, öffnet den Keller!«

Nun saß er auf einer steinernen Bank, die früher inmitten von Blumen und Stauden an einem kleinen Weiher gestanden hatte. Mit seinem Helm schöpfte er Wasser aus dem Pfuhl und kühlte sich die Stirn. Kohle und Ruß bedeckten sein Haar, aber er merkte es nicht. Man legte ein paar schwarzverrußte Degen und einen eisernen Krug vor seine Füße: das einzige, was kenntlich geblieben war.

Da betrat Faria selbst sein eingeäschertes Haus und nahm einige Handvoll Asche in einem Sacktuch mit.

Am Abend segelten vier Schiffe Bord an Bord gen Süden. Mehr war nicht übriggeblieben von der ersten Niederlassung in Cathay.

*

Sterne umstanden die kleine Flotte, und über ihr hing im schwarzen Himmel der Mond. Auf der Kampanje der Mãe de Deus Faria und Mendes Pinto. Sie starrten die Segel an, das Kielwasser, überquerten zuweilen ein paar Mal das Deck, blieben dann wieder wortlos stehen.

Über der Kajütentreppe brannte eine Lampe, das Kupfer der Lukenkappe und die Bronze der Kanonen erglänzten, sonst war alles in Düster gehüllt. Düsterkeit war um die beiden Einsamen, Düsterkeit um die Segel. Aber ganz allmählich hellte sich der dunkle Rumpf in einem grünen Zwielicht auf. Erst erschienen die Toppsegel, dann hob sich der Bug aus der Nacht. Ein sachtes Lallen ward laut, wie von Erwachenden.

Schließlich waren auch Farias große Gestalt und der kleine schmächtige Mendes umstrahlt. »Grün ist die Farbe der Hoffnung«, sagte Faria ohne große Überzeugung. Doch Mendes verneinte. »Das ist das Elmsfeuer, welches Unheil, Tod bedeutet. Was sollte es sonst bedeuten?« Und mit einem Male brach eine Flut von Worten über die Lippen des kleinen, stillen Mannes, der tagelang keine Silbe hatte verlauten lassen, der immer nur auf und ab geschritten war, Kanonen geprüft und viel, viel getrunken hatte – und im stillen an der Reling geflucht. Endlich machte sein Groll sich Luft.

»Alles, alles für nichts. Zwanzig Jahre Kampf, Einsamkeit, Verhandlungen mit gelben Schurken, Geduld, Betteln um Munition, um Truppen.
Die dünkelhaften Briefe der Schacherer in Malakka, der protzigen Magistratsbeamten in Goa, die uns fragen, was wir so fern überhaupt zu suchen haben, wo doch die Spezereien, die den größten Gewinn abwerfen, in Malakka fertig zum Verladen lägen! Die kränkenden Briefe der Prälaten, die immer wieder fragen, wann endlich Cathay christianisiert sein werde; die des Königs, der wissen will, warum man seine Gesandtschaft in Peking nicht besser empfinge, warum sie nicht mehr Geschenke mit nach Hause brächte …
Sie wollen doch nur behalten, was sie haben, ihre Feinde abfinden, um dann selbst auf den Landsitzen herumzulungern.
Am Rande der fabelhaftesten Reichtümer, ständig in Fehde mit den verschlagensten und grausamsten Teufeln des Erdballs, überließ man uns unserem Los auf einem unhaltbaren Posten, auf dem wir unser Leben vertaten. Nun heimsen wir den Narrenlohn ein; unsere Frauen sind totgemartert, unsere Kinder verbrannt oder entführt.
Wir sind genauso bettelarm wie vor dreißig Jahren, als wir aus dem Tejo ausfuhren, kleine Edelleute, die der Segen des Kardinals, ein Ritterorden des Königs schon glücklich machte.
Was wird unser harren, wenn wir heimkehren? Der Bannfluch, weil wir uns verketzerten, die Ungnade des Königs, vielleicht der Kerker. Denkt an Columbus, denkt an da Gama, an so viele andere Eroberer.
Wohin sollten wir uns wenden? Das Werk unserer Hände hat zwanzig Jahre überdauert, und in einer einzigen Nacht wurde es in Asche gelegt. Laßt uns nach einer unbegehrten Insel ziehen und dort den Tod erwarten. Oder laßt uns allem auflauern, was unter portugiesischer Flagge segelt, und es dann in den Grund bohren.
Nein, besser noch, wir wagen die Heimfahrt, lassen Malakka beschießen, und Goa und Lisboa, bis der Tod sich einstellt. Wozu sind wir geboren und ausgezogen?«

Aschgrau waren seine Züge im grünlichen Licht, unter seinen Händen zerbrach Holz, und zuckend lehnte sein Körper gegen die Verschanzung. Bis Faria, träge und bedachtsam, wie es seine Art zu sprechen war, den Unterbefehlshaber für seine eigene Ansicht zu gewinnen suchte:

»Das alles ist schon wahr. In Malakka würde man uns mit Spott empfangen und triumphieren. In Goa uns einem Verhör unterziehen, warum der Platz nicht gehalten wurde. Fünfhundert Soldaten und dreizehn Schiffe, davon die Hälfte sogar Kriegsschiffe, sind ja eine unüberwindliche Macht gegen das größte Kaiserreich! In Lisboa droht uns der Kerker. Das alles fürchte ich nicht, ich denke wie Ihr. Doch meine Rache geht weiter. Von neuem will ich landen, fechten, unterhandeln, bauen, ein zweites Lian Po, reicher und stärker als das erste. Es soll Malakka überstrahlen, Goas Neid erwecken. Dann, wenn ich meines Postens enthoben werde, um einem von des Königs Bastarden Platz zu machen, hisse ich die eigene Flagge, und mit meiner Flotte und meinem Heer werde ich meine Schöpfung verteidigen oder sie selbst in den Grund bohren, wenn sie sich als unhaltbar erweist.«

Mendes schüttelte traurig den Kopf.

»Wir sind zu alt. Es dauert zu lange. Die Jahre, die mir noch bleiben, will ich meiner Rache widmen. Gebt mir die Abschriften der Briefe, der Bittschreiben und Dekrete, die wir um Verstärkung verfaßten, gebt die hochmütigen und verächtlichen Antworten. Das soll mein tägliches Brevier sein! Sie werden mir Mut geben, wenn ich vor schierer Einsamkeit zu verwerden drohe.«

Faria spürte, daß Mendes fest entschlossen war.

»So wisset, daß Ihr allzeit meinen Hafen offen findet, und läge selbst die gesamte portugiesische Flotte vor Anker.«

»Sprecht nicht so! Tut das nie, dann könnt Ihr niemals Euern Racheplan vollführen. Vielleicht werde ich es sein, der Euch noch Hilfe anträgt.«

Das grüne Licht verging, und die beiden Männer schliefen noch einen unruhigen Schlaf auf den Bänken der Kajüte.

Am nächsten Morgen gab Faria dem Freund, der seiner Wege ziehen wollte, ein Kästchen mit einem Bündel Pergamente und seinen Galadegen.

Die Schiffe lagen beigebraßt. Schaluppen fuhren ab und an. Alle, die das Los von Mendes teilen wollten, mußten sich an Bord der Pinta begeben, des kleinsten Schiffes, auf dem jetzt die schwarze Flagge gehißt war. Als Faria selbst gegen Mittag hinüberruderte, fand er Mendes finster am Fallreep stehen. Das Schiff war schwach bemannt.

Die Abschiedsgaben wurden an Bord geschafft. Lange hielten die Männer einander bei den Händen. Dann fiel ein dumpfer Schuß, und Mendes auf der Pinta zog seines Weges.

Von ihm wird fürder nichts berichtet.

II. Mit drei Schiffen segelte Faria südwärts. Im Meer zwischen dem Lande Fukien und der Insel Formosa, wo die Winde von Asien und dem Ozean zusammenströmen, näherte sich ein Taifun, der große Sturm, geboren aus der Vereinigung vieler Stürme, der das Meer aufpeitscht, den Himmel durchfurcht, Meer und Himmel zusammenpreßt und wringt und wieder auseinanderzerrt und zwischen den Geweben von Luft und Wasser alles vernichtet, was dieser überirdischen Alchimie zu nahe kommt.

Noch konnte die Mãe de Deus den anderen Schiffen Nan Wei als Sammelplatz signalisieren. Dann wurden auch diese durch Wolken- und Nebelwände voneinander getrennt. Wirbelstürme und Flutwogen fielen sie an und stürzten von allen Seiten unter rasendem Regen auf sie ein.

An einen Mast gebunden, stand Faria da und schrie seine Befehle, aber keiner hörte sie. Er sah niemanden, vernahm nichts als nur dann und wann einen Notschrei, das Ächzen einer zersplissenen Trosse, das Krachen der Rahe und den dumpfen Aufschlag einer losgerissenen Kanone auf das Wasser. Unter ihm in der pechfinsteren und schwülen Kajüte lag Dona Miles, die einzige Frau, die man aus Lian Po gerettet hatte, vor Nossa Senhora da Penha auf den Knien. Immer wieder wurde sie gegen die Statue geschleudert. Machte das ihr Gebet nicht inniger? Sie flehte eine Nacht und einen Tag. Alles Leben war aus ihr gewichen, an seine Statt war das Gebet getreten.

Dann legte sich der Sturm, ein Lichtstrahl fiel durch die angelehnte Tür, und Faria hob sie auf. Sie vereinigten sich in einem kurzen Gebet und einer langen Umarmung, als könne nun der Liebe der Geretteten kein Ende kommen, als sei der Tod der Wonne gewichen oder einer milden Sonne, die über gebändigte, wenn auch immer noch schäumende Wogen in ein rundes, offenes Fenster schien.

Slauerhoff_Reich_Cover240 (1)III. Vier Wochen schon lag die Mãe de Deus vor der Bucht von Nan Wei hinter einer schmalen Halbinsel vor Anker und wartete. Endlich kam die Coimbra um die Ecke des Vorgebirges angesegelt; nur ein einziger Mast stand noch aufrecht. Die Rafael erschien nicht mehr. Einige glauben, daß dieses Schiff sich noch zu Mendes geschlagen habe.

Die Insassen des Wracks – denn mehr war von der Coimbra nicht übriggeblieben – ersuchten um Verschiffung auf die große Mãe de Deus. Aber Faria wollte kein Schiff mehr verlieren, zudem war die Coimbra wegen ihres geringeren Tiefgangs unentbehrlich für die Küstenerkundung.

An dem kahlen Strand herrschte ein lebhafter Schiffbaubetrieb.

Um nochmals nach der Rafael auszulugen, war Faria selbst ins Topp geentert und hatte ein Bambuswäldchen auf der anderen Seite der Halbinsel entdeckt. Das lieferte Rahen und Taue.

Nan Wei würde Wasser und Mundvorrat hergeben müssen. Aber es lag unzugänglich im Inneren des Landes hinter einer Krümmung des Stromes, halb Stadt, halb Floß. Die Hütten und Häuser am Ufer und die Dschonken im Strom lagen dicht beieinander. Nur eine schmale Wasserrinne trennte sie. Zwischen Land- und Wasserviertel stand ein hohes graues Palais mit goldenen Figuren und aufwärtsgedrehten Dachspitzen schimmernd in der Sonne. Bunte Paniere schlängelten sich von den Torbalken herab.

Dorthin mußte sich eine Gesandtschaft mit spärlichen Geschenken begeben, Hilfe und Lebensmittel zu erbitten.

Wohl wissend, wie sehr man ihn als Geisel begehren würde, wagte Faria selbst diesen Bittgang nicht. So machte Álvares sich auf mit drei Mann aus Lian Po, getauften Chinesen. Tuche und Wein waren die Geschenke. Etwas anderes hatte Faria nicht. In einem Schreiben wies er hin auf die Freundschaft, die bestünde zwischen den zwei Monarchen, die nur darum so weit voneinander wohnten, weil ihre beiden Reiche so unermeßlich groß seien. Die Verdienste um die Bekämpfung der Piraten hob er besonders hervor, verschwieg aber Streit und Fall von Lian Po. Dann erbat er Hilfe.

Allein und ohne Antwort kehrte Álvares nach Verlauf von vier Tagen zurück. Er erstattete Bericht: Kühl habe der Mandarin die Geschenke entgegengenommen, sei aber plötzlich in Wut entbrannt, als er auf einem der Teppiche einen Fleck bemerkt habe. Noch höllischer sei sein Zorn entfacht worden durch den Brief der kaiserlichen Gesandtschaft. Seinen eigenen Kaiser habe er als den Sohn des Himmels gerühmt und Portugals Fürst als einen unansehnlichen Vasallen herabgewürdigt. Tributpflichtig sei dieser dem Himmlischen, der die ganze Welt beherrsche, auch Portugal, wie weit immer es gegen Westen liegen möge. Dann habe er ihm den Befehl erteilt, die Stadt sofort zu verlassen und mit den Schiffen die Küste zu räumen.

Schweigend hörte der Admiral zu; dann ließ er die Segel setzen, doch nicht, um die Küste zu verlassen. Am Abend lagen die Mãe de Deus und die Coimbra eine Meile stromabwärts von Nan Wei und beschossen die unter dem Licht des Mondes treibende Hälfte der Stadt. Alsbald klafften große Löcher unter den Booten, und plötzlich schob sich die dunkle Masse stromaufwärts. Ruhig nahmen die beiden Karavellen den Platz ein, wo eben noch tausende Dschonken gelegen hatten, und schossen die Stadt mit Feuerpfeilen in Brand. An mehreren Stellen flammte die Glut auf und breitete sich mit rasender Schnelle aus unter Geknall und Gezisch, unter dem Erblühen inniger Freudenfarben: Grün, Rot, Violett verschwammen ineinander, durchschossen von glühenden Schlangen, sich drehenden Sonnen, versprühenden Sternen, feuerspeienden Drachen und schnell aufblühenden Wunderblumen.

Anfänglich entsetzt, stellten die Portugiesen die überflüssige Beschießung ein und schauten dem gewaltigen Feuerwerk zu.

Nun kamen den Unterbefehlshabern die Ermutigungen in Erinnerung, die Faria hinsichtlich ihrer Bedenken geäußert hatte: »Dies ist kein unsicherer Kampf, vielmehr ist es ein Fest mit Illumination. Die Nan Weier werden mit aller Pracht empfangen. Denn es ist der erste Februar.« An alles denkend, hatte Faria den Vorabend des chinesischen Neujahrsfestes für den Angriff gewählt, der, einmal begonnen, von selbst weiterging.

Am folgenden Morgen war Nan Wei verschwunden.

Das graue Palais auf der Außenmauer stand, schwarzversengt, in einer Wüste von schwarzer Asche. Lian Po war noch zu erkennen gewesen, Nan Wei hingegen war ausgewischt wie von einer Schiefertafel. Schlank und einsam ragte der Manda­rinspalast empor.

Man ging an Land: Hundert Soldaten und zwei Feldschlangen hielten Dächer und Fenster unter Schnellfeuer. Die Bemannung der Mãe de Deus beschoß das Portal. Seitwärts wartete Faria mit einem Sturmtrupp. Aber schon nach der ersten Salve sprangen die Torflügel des Palastes auf.

Heulend und mit verzerrten Zügen barst eine Schar Bewaffneter aus der Öffnung der Landungsdivision entgegen. Wenige erreichten ihr Ziel. Innerhalb einiger Minuten war das Fluß­ufer mit bunten Kadavern und Zopfköpfen übersät. Dann ward es still. Drinnen im Palast ertönte ein mächtiger Gong. Faria wußte, was nun kommen würde, und zog sich ein wenig zurück.

Jetzt spie das Tor ständig mehr Krieger aus, und endlich, inmitten einer Reiterschar, erschien in einem Streitwagen der Mandarin. Er trug ein buntgeschecktes Kriegsgewand und schwang ein riesiges Schwert.

Faria gab Weisung, den Mandarin beim Sturmlauf zu schonen. Nach zwanzig Credos war alles zu Ende. Wieder bedeckten Leichen den Boden, in der Ferne flohen versprengte Reiter. Der Mandarin aber saß in seiner Karosse, deren Pferde niedergemetzelt waren.

Faria trat näher und setzte dem Mandarin die Spitze seines Degens auf die Brust, stieß aber auf den Widerstand von Metall. Eine düstere Vermutung stieg in ihm auf; er riß mit der Schwertschneide die Gewandungen weg und legte einen veralteten Brustharnisch bloß.

Sofort erkannte Faria ihn wieder. Hatte er nicht selbst Peres, den ersten Abgesandten nach Peking, ausziehen sehen? Man wußte nur, daß er unterwegs ermordet worden war …

Faria forderte den Chinesen auf, die besudelte Rüstung abzulegen. Der Mandarin wies auf den Kreis, der sich um sie gebildet hatte. Aber Faria, absichtlich mißverstehend, winkte vier Soldaten herzu, die unter lautem Gejohle den Mandarin aus der gestohlenen Schulpe kriechen ließen. Fröstelnd stand der hohe Statthalter mit nacktem, lappig fettem Oberkörper unter dem Hohn der fremden Teufel. Faria trieb ihn zum Fluß und hieß ihn, den Harnisch von seiner Berührung zu säubern, zu waschen und zu schrubben. Dann rief er seinen Henker herbei, einen großen Mandschu, der mit vor Wollust hervorquellenden Augen sein ansehnliches Schlachtopfer nach allen Regeln der Kunst zu Tode marterte. Dabei fand eine neue Zeremonie statt.

Faria hob den nun wieder blanken Küraß in die Höhe, und die Strahlen der Sonne verliehen ihm neuen Glanz. Er schwur: »Eine Kathedrale will ich stiften in meiner Stadt. Dieser Harnisch soll die einzige Reliquie sein. Kein heiliges Gebein wird ihn verdrängen. Festung muß die Kathedrale werden zu gleicher Zeit und die Stadt verteidigen gegen Überfall und Belagerung. Der Küraß soll vom Kreuzgewölbe niederhängen in das Schiff der Kirche.«

Denn der Henker hatte sein Werk bereits vollzogen, und die Leiche des Herrschers von Nan Wei baumelte am Torpfosten seines Palastes.

IV. Fern im Süden, in einem einsamen Landstrich, wenn auch nicht mehr als zwei Tagereisen von dem Millionen-Kanton entfernt, ragt eine kleine unbewohnte Halbinsel ins Meer. In einem Felsenrund an der Landzunge erhebt sich inmitten der Steinquader ein unbehauenes rotholzenes Heiligtum, spärlich vergoldet. Keine zierlichen Bildnisse und wohlriechenden Weihrauchampeln. In einer Nische steht ein rohes steinernes Standbild auf einem riesigen Seeungeheuer, das sein gesplissenes Maul drohend nach dem friedlichen Antlitz der Göttin aufsperrt. An der Decke hängen kleine Dschonken und Sampans, aus grobem Holze geschnitzt. Auf den Stufen vor dem Altar liegen getrocknete Fische.

Es ist das Heiligtum von A Ma O, der Gebieterin der Taifune. Nur Fischer und Piraten verehren sie.

Auf der äußersten Spitze der Halbinsel steht noch ein Stein. Das ist alles, was von Menschenhand hier aufgerichtet wurde. Niemand mehr weiß, welches Volk der Göttin hier Heiligtum und Opferstätte gegeben hat. Der Stein jedoch trägt Name und Jahreszahl der Stiftung. Es ist ein Padrão: ein Gedenkstein, wie deren viele an der afrikanischen und malabarischen Küste an eine erste Landung erinnern. Doch dieser ist der einzige seiner Art in China. Und er ist nicht bloß Entdeckungs-, er ist auch Grabstein. Lies:

Hier landete Joaquim Ferreio mit der Padre und der Tejo A. D. 1527.

Ferreio hatte ein sehr bescheidenes Ziel vor Augen gehabt: Er wollte seine durch Sturzseen naßgewordene Ladung in der Sonne trocknen. So lagen auf dem flachen, öden Strand Spezereien und Gewebe ausgebreitet; daneben standen ein paar Zelte, in denen er mit seiner Bemannung hauste, während die Schiffe aufs neue getakelt wurden.

Eines Morgens umzingelten Horden chinesischer Krieger die Zelte. Ein Abgesandter kam und heischte tausend Stück Gold, wegen Schändung ihres Bodens, der durch keine Fremden mit großen Augen und langen Locken betreten werden dürfe. Ferreio zahlte und fuhr ab mit noch halb nasser Ladung und in Hast klarierten Schiffen. Er wußte nur zu gut, daß, wenn er bliebe, das Doppelte am folgenden Tag von einem anderen Mandarin gefordert würde. Das hätte den gesamten Gewinst seiner unheilvollen Reise aufgezehrt.

In Eile ließ er einen Padrão errichten, der seinen Aufenthalt an diesem unwirtlichen Gestade vermelden sollte. Diesen Stein ließen die Chinesen ungeschändet. Sie fürchteten den Geist, der in ihm hausen mochte.

Zwölf Jahre stand das unbehauene Erinnerungszeichen allein auf dem einsamen Landstrich.

Dann strandete dort abermals ein Schiff, ohne Ladung außer einer Zehnzahl Jesuiten, Sendboten auf dem Wege nach Peking. Auch diese wollten einem Seeschaden abhelfen, den sie dem Durchfall verdankten. Drei starben dort und wurden rund um den Padrão begraben, mit rohen Särgen bedeckt.

Der Ort wurde in weitem Umkreise gemieden.

So gab es schon sehr früh im verbotenen Reich einen Flecken, der Portugal gehörte durch seine Toten, indes bevor Faria angesegelt kam und an Land ging, um dort die Stadt zu gründen, die er halten und verstärken wollte: gegen die Chinesen und für Portugal.

Es hatte ganz den Anschein, daß er dieses geheime Ziel erreichen sollte, so uneinnehmbar, wie die Stadt vor ihm dalag. An der schmalsten Stelle der Landzunge war ein kleines Fort, und keine dreihundert Krieger reichten aus, Tausende Angreifer in Schach zu halten. Seitlings wurde sie durch Inselgruppen und Sandbänke beschirmt.

Er baute einige Festungswerke und Hütten – Kirchen entstanden ganz von selbst.

Die Schiffe kamen und gingen stets zahlreicher: Macao lag ja hälftewegs zwischen Malakka und Japan an einer beschützten Reede, während Lian Po bloßgelegen hatte gegen die stürmische Seite der Straße von Formosa. Aber Faria starb, als er sich stark zu fühlen begann, und Macao blieb, selbst in Zeiten von Schwäche und Verfall und fast als einzige: a mais leal – dem König treu, auch als es schon lange keinen König und kein Portugal mehr gab.

Weder Pinto noch Faria haben sich gerächt. Und die Art, auf die ein anderer später Rache genommen hat, wird nicht als Rache, sondern als Zustimmung empfunden.

Jan Jacob Slauerhoff: Das verbotene Reich. Roman. Aus dem Niederländischen von Albert Vigoleis Thelen. Weidle Verlag, April 2016. Fadengeheftete Broschur. 180 Seiten, 20,00 Euro. ISBN: 978-3-938803-78-3 // CulturBooks Longplayer, April 2016. Digitale Lizenz. Circa 191 Seiten. 13,99 Euro. ISBN 978-3-95988-046-6

Das Buch:
Hauptfigur des Romans ist der portugiesische Dichter Luís de Camões (1524–1580), der Schöpfer des portugiesischen Nationalepos »Die Lusiaden«. Er wird als großer Suchender gezeigt, als Abenteurer und Liebeskranker, der mit seinem Vater bricht und sich nach Macao einschifft, damals portugiesische Kolonie. Auf Befehl des Königs muß er als Gefangener reisen und soll nach seiner Ankunft als Soldat dienen. In Macao untergetaucht, begegnet Camões der jungen Pilar, die er, geschwächt und verwirrt durch seine abenteuerliche Flucht, für seine geliebte Diana hält. Er musste sie verlassen, weil der Sohn des Königs ein Auge auf sie geworfen hatte. Und dann gibt es 400 Jahre später einen irischen Funker, der durch Schiffbruch völlig aus der Bahn geworfen wird, sich verliert und glaubt, mit einem schreibenden Mann in jahrhundertealten Kleidern zu verschmelzen …

Diese Parabel über einen, der das abgesteckte Terrain bürgerlicher Restriktionen verlässt, der die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit, zwischen Sinn und Wahnsinn überschreitet und so die Möglichkeiten einer neuen Freiheit entdeckt, ist als Grundthema im Werk Slauerhoffs der Ausdruck seines eigenen lebenslangen Kampfes gegen eine verhasste bürgerliche Gesellschaft.

»Ein Heimwehbuch eines aufgejagten Dichters voller Weltschmerz, Weltverachtung und Mysterium« nennt Thelen den sprachgewaltigen Roman, dessen geheimnisvollem Sog man sich nicht entziehen kann.

Warum es uns gefällt:
Es ist ein Abenteuerroman, der die Phantasie herausfordert, einer, der sich in die Regionen des Wahnsinns und des Traums hineinwagt; nicht Piraten sind die Hauptpersonen, sondern ein Dichter und eine schöne Frau, deren Liebe so groß ist, dass sie Raum und Zeit überwindet.

Pressestimmen:
„In Albert Vigoleis Thelen, dem Autor der ‚Insel des zweiten Gesichts hat dieser Weltumsegler seines Innern einen späten, dafür aber kongenialen Übersetzer gefunden“ Gert Ueding

»Das ist ein Stück Traumliteratur von der feinen Art und beginnt auch so: ›Im September des Jahres 1540, als Lian Po nahezu achtzehn Jahre bestanden hatte, kam vor dem Nordtor eine kaiserliche Gesandtschaft an, die wohl den himmlischen Namen in ihrem Banner trug, aber keine Gastgeschenke mit sich führte und in den hellblauen Trauergewändern gekleidet ging.‹ Wer nach einem solchen Satz nicht weiterliest, ist niemals in seinen jugendlichen Lektürenächten auf den Spuren der großen Entdecker und Abenteurer mitgezogen.« FAZ

Tags : , , ,