Geschrieben am 15. August 2016 von für Bücher, Crimemag

Roman: Lügenland, Gudrun Lerchbaum

51chsJ1Pl3L._SX329_BO1,204,203,200_Angst & Kontrolle – und die Deformation des Selbst

Besondere Brisanz bezieht „Lügenland“ aus den uns aktuell erschütternden Ereignissen. Den Gewalttaten unterschiedlichster Motivation, verübt in Nizza, Istanbul, München, Paris … , echot regelmäßig der Ruf nach dem „starken Mann“ und diversen Einschränkungen der Grundrechte vom rechten politischen Rand hinterher, angeblich zu Wohl und Sicherheit des jeweiligen Volkes. Was aus diesem brasseldämlichen Kurzschlussdenken entstehen könnte, simuliert Gudrun Lerchbaums Thriller in Österreich. Anne Kuhlmeyer ist beeindruckt.

Wien. Sommer 2036. Drei junge Frauen blödeln am Donauufer und betrinken das Ende der Unbemanntheit Matteas. Am Vorabend der arrangierten Hochzeit erschießt die Milizionärin, zugedröhnt mit Alkohol und staatskonformen Drogen, eine der Freundinnen. Absicht? Unfall? Als die überlebende Freundin sie tags darauf der Miliz ausliefern will, der Mattea durch die Ehe zu entkommen suchte, tauscht sie ihr Hochzeitskleid gegen die Klamotten vom Koch und flieht. Doch Flucht ist kompliziert in einem Land, in dem die Überwachung per Elektronik und Einschüchterung perfektioniert wurde. Die angebliche Bedrohung durch Einwanderer verhalf einem Rechtspopulisten zur Macht. Als Kanzler in autokratischer Position errichtete er im Einklang mit der Mehrheit besorgter Bürger die „Demokratur“ – eine treffende, die Demagogie von Diktaturen entlarvende Wortschöpfung. Mittels eines multifunktionalen Armbandes wird jeder immer überwacht. Mattea zerstört ihres vorsichtshalber, trifft den Staatsbeamten Schiele im Zug, und später mitten ins Herz, nachdem er sie vergewaltigte. Mattea flieht weiter. Durch unwegsames Waldgelände und Ausflügleridylle. Zur Oma väterlicherseits, an die sie sich schwach, aber liebevoll erinnert. Als sie ankommt, ist sie nicht mehr Mattea, sondern Ina, die verfolgte Aufrührerin des Widerstands, deren Bild über alle Mediawände flackert. Nur ist es nicht Inas sondern Matteas Bild. Der Schmierlappen Schiele hat sich vertan, als er sie denunzierte. Und die gute Oma? Schützt Mattea als die Widerständlerin Ina, nicht als Mattea. Ein Verwirrspiel der Identitäten beginnt. Es stellt sich die Frage: Wie viel Lüge steckt im Selbst, wenn es unter indoktrinierenden Bedingungen sozialisiert wurde? Wie sehr richten sich die Selbstanteile einer zweifelhaften Moral gegen das Ich und gegen andere? Und ist es einem Menschen möglich, dem zu entkommen? Fragte man sich nicht, wie die Bevölkerung eines ganzen Landes die Schreckensherrschaft des Nationalsozialismus unterstützen konnte, so findet man in Gudrun Lerchbaums atemlosem Thriller mögliche Mechanismen.

Ideologien, gleichgültig welcher Ausrichtung, werden bezweifelt, die des Staates und die der Widerständler, denen Mattea als Ina begegnet, ironischerweise in einer Jagdhütte der politischen Elite. Kontrolle musste sich auch der Widerstand zu eigen machen, wollen seine Mitglieder überleben. Nicht nur bis in die Familien reichen Misstrauen und Angst, sondern ebenso hinein ins Selbst, denn schließlich lebt jede in Systemen, die sie prägen und beeinflussen – und die sie selbst prägt und beeinflusst. Kein Raum, nicht der persönlichste, bleibt verschont von der Gewalt, der Kontrolle und der allgegenwärtigen Frage: Wer bist du?

„ …bist kein politischer Flüchtling. Du bist eine gesuchte Mörderin. Und als solche wird dich kein anständiges Land haben wollen. Es sei denn als Kämpferin, dann ist die Moral nicht so wichtig.“ Sagt die Oma.

Und Mattea: „Ich will keine Mörderin mehr sein. ‚Ich gebe mich als Ina Matusek aus.‘“

In einem autoritären, bösartigen System, das seinen Teilnehmern die Befriedigung existenzieller Bedürfnisse verwehrt, werden Lügen und Misstrauen zu Überlebensstrategien und der Hass auf den Anderen, den Nichtkonformen dient der inneren Stabilisierung des Staates und des Selbst. Ein Gedanke von Mattea dazu:

„Was, wenn Ina Matusek kein Mensch, sondern ein Konzept ist? […] Dann fängt man irgendwen wegen irgendwas und bürdet der Person so viele Verbrechen wie möglich und damit den Hass der anständigen Bürger auf.“

Das Sündenbockprinzip.

Differenziert und plausibel spielt die Autorin das Was-wäre-wenn durch, also wenn sich Rechtpopulismus in Extremismus wandelt, die Europäische Union zerbricht und die politischen Verwerfungen in der Welt den Einzelnen zu Hass, Gewalt und Verrohung treiben und ihn seines Mitgefühls berauben. Sehr gelungen zum Beispiel die platten Parolen der Diktatur und die Verwirrung Matteas, als sie feststellt, dass sie sich nicht mehr an ihnen entlang hangeln und sich ebenso wenig ins Private zurückziehen kann. Ob sich die junge Frau ins freie Denken kämpft und eine tragfähige Identität findet?

Nach der Lektüre des ersten Kriminalromans der Autorin – stark, anspruchsvoll, ironisch, schnell, kühl und genauso unterhaltsam – kann man nur hoffen, dass der Nachfolger nicht lange auf sich warten lässt.

Anne Kuhlmeyer

Gudrun Lerchbaum, Lügenland, Thriller, Pendragon Verlag Bielefeld 2016, 424 Seiten, 17,- Euro

 

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