Lange Reise an die Macht
– „What’s new, Tony?“ Hatte Tony Blair nicht schon alles gesagt über New Labour – Reformversuche und die Edelbruderschaft mit George W.? In seinen Memoiren „A JOURNEY“ („Mein Weg“) plaudert er nun über Gott und die Welt, Liebe und Familie, Partei-Intrigen, Fingerhakeln mit Intimfeind Gordon Brown. Wenn es aber um die Unterstützung der US-Invasion im Irak und um geheime Vereinbarungen mit Bush geht, verliert sich seine Eloquenz im diffusen Orakeln. Von Peter Münder
Dieses Buch sollte anders sein als die üblichen politischen Memoiren, betont Tony Blair, denn er habe „Mein Weg“ nicht als Historiker, sondern als „Führer“ geschrieben, der hier einen persönlichen Bericht über eine entscheidende Phase seines Lebens liefert. Der Ex-Premier hat sein Werk selbst ohne Ghostwriter in drei Jahren verfasst; gleich in den ersten Zeilen präsentiert er imponierende Daten, um seine herausragenden Verdienste um Labour und Großbritannien zu belegen. Doch dann will er sich gern als kumpelhafter Typ und souveräner Kommunikator darstellen, mit dem man gern ein Bier in einer normalen Kneipe trinken möchte. Ohnehin betont er häufig, ein ganz normaler Typ zu sein, der genussvoll in der Badewanne planscht und auch mal länger auf dem Klo hockt.
Keine Frage: Sein grandioser Wahlsieg gegen John Major 1997 war ein Erdrutsch; insgesamt dreimal ins Amt gewählt zu werden, war eine epochale Leistung und die zehnjährige Regierungszeit (1997–2007) durchgehalten zu haben, trotz all der Intrigen und politischen Krisen, ist auch beeindruckend. Warum stellt sich aber beim Leser oft das Gefühl ein, Blair möchte immer irgendetwas beweisen – meistens seine eigene exzeptionelle Größe? Er sieht sich als Visionär, der umwälzende Reformvorhaben im Gesundheits- und Erziehungs-Sektor entwickelte. Er begrub die unselige, in den Labour-Statuten verankerte Verstaatlichungsklausel. Er brachte den irischen Friedensprozess auf den Weg. Er drängte Prince Charles, die Queen zu einer emotionalen, anrührende Geste zu bewegen und trat vor eine in Tränen aufgelöste britische Öffentlichkeit, um die im Pariser Tunnel verunglückte Prinzessin Diana als „The People’s Princess“ zu bejubeln – und reibt uns dann prompt seine einmalige Umfrage-Erfolgsquote unter die Nase: 93 Prozent der Briten waren von seiner Trauerrede begeistert! Hier baut sich der Autor trotz all der devoten Hinweise auf sein hilfsbereites, ach so engagiertes und brillantes Team sein eigenes Denkmal und möchte uns als Publikum zu immer neuen Jubelstürmen anspornen.
New Labour – c’est moi
Den Weg in die Politik fand Blair erst ziemlich spät: Nach dem Studium in Oxford, nach einer Juristenkarriere entschließt er sich, für den kleinen Wahlkreis Sedgefield bei Durham anzutreten. Beeinflusst war er von seinem bewunderten Vater, der sich vom Hafenarbeiter zum Anwalt und Lokalpolitiker hochgearbeitet hatte – und dann von Labour zum Tory konvertierte: Wer es irgendwie geschafft hatte, wählte damals eben konservativ. Und genau das wollte Blair mit dem progressiveren, modernen New Labour-Image grundlegend ändern.
Weg von der Impotenz der alten Labour-Partei, von den verstaubten Klassenkampfparolen „aus der Epoche der Schwarz-Weiß-Fernseher“, hin zu grundlegenden Reformen und zum Sieg von New Labour – das war seine nach dem Tod des damaligen Labour-Führers John Smith vertretene Position, die er auch mit aller Macht durchsetzte. Nur wird eben auch schnell klar, wenn Blair sehr elaboriert über sein Reformkonzept doziert, dass dies dann schlicht bedeutet: „New Labour – c’est moi.“ Dass etliche Reformen (NHS-Gesundheitssektor, Erziehung, Steuern, Gewerkschaften) missrieten oder nur halbherzig realisiert wurden, weil der große Visionär sie zwar anregte, sich dann aber häufig nicht weiter um konkrete Details kümmern mochte, unterschlägt er großzügig.
Zweifellos war Blairs Engagement für große, gigantische Projekte immer extrem, seine Fähigkeit, mit Entscheidungsträgern locker und freundlich zu kommunizieren und ihre Sympathien zu erobern, überwältigend. Auf der großen IOC-Olympia-Konferenz in Singapur bearbeitete er zusammen mit seiner Ehefrau Cherie die wichtigsten IOC-Delegierten sowie seinen Freund Silvio Berlusconi so lange, bis tatsächlich ein Votum für London als Olympiastadt 2012 zustande kam. Für Tony Blair war diese Entscheidung zweifellos ein Highlight seiner Karriere.
Macchiavelli lässt grüßen
Mit seinem Spin Doctor Alastair Campbell hatte Blair eine neue, effizientere Medienstrategie ausgetüftelt. Blair war nach der Übernahme des Parteivorsitzes sofort nach Südfrankreich gefahren, um Campbell noch während seiner Urlaubszeit als Pressechef anzuheuern. Der eloquente, beinharte Boulevard-Journalist Campbell kam zwar vom Murdoch-Revolverblatt „Today“, hatte aber beste Labour-Kontakte. Er war mit der Labour-Rothaut Neil Kinnock befreundet, konnte blitzschnell brillante Analysen liefern und sich obendrein noch absolut loyal verhalten. Blair singt auch jetzt noch in seinem Rückblick das hohe Lied auf Campbell, obwohl der ja nach der Veröffentlichung seiner Downing-Street-Tagebücher („The Blair Years“) in große Turbulenzen geraten war. Übrigens ist es erhellend, diese glänzend geschriebenen ironischen, präzise analysierenden Tagebücher parallel zu Blairs eher trockenen, oft unsäglich banalen und peinlichen Memoiren zu lesen. Da ergeben sich dann gravierende Widersprüche, die den Verharmloser und Egomanen Blair in keinem guten Licht zeigen.
„Jahrelang hatte Labour sich wie ein verprügelter Underdog gefühlt“, schreibt Blair, und plötzlich, nach der massiven Unterstützung durch alle vier Murdoch-Blätter, vor allem auch der „ Sun“, „war man endlich auch mal der verhätschelte Top Dog “. Wie kam es zu diesem Sinneswandel im Murdoch-Lager? Tony Blair hatte Murdochs Einladung angenommen, war mit seinem Medien-Magier Campbell an einem Wochenende von London nach Sydney geflogen (beide arbeiteten Blairs Grundsatzrede im Flieger aus) und hatte auf der kleinen Hayman-Insel Murdoch und seinen Topmanagern die New Labour-Strategie vorgestellt, die mit viel Sympathie aufgenommen wurde. Für Murdoch habe er großen Respekt empfunden, erklärt Blair, weil der sich immer als kämpferischer Außenseiter gezeigt habe. So ähnlich sieht sich Tony Blair eben auch. Aber die Frage, ob er etwa mit seinem Gang ins Canossa-Outback einen mephistolischen Pakt mit dem reaktionären Medien-Teufel eingegangen sei und damit die Seele aller aufrichtigen Labour-Anhänger verraten habe, treibt ihn nicht weiter um. Schließlich wäre sein souveräner Wahlsieg ohne die Murdoch-Medienwalze wohl kaum denkbar gewesen – Macchiavelli lässt grüßen. Übrigens schrieb Blair nach diesem Outback-Trip mehrere Kolumnen und Leitartikel für Murdochs „Times“.
His Masters Voice
Worauf beruht eigentlich Blairs fatale, geradezu groupiehafte Bewunderung für den Kriegstreiber George W. Bush, den er immer nur „George“ nennt? Im Grunde ist es egal, was „George“ ausheckt oder sagt – alles wird akzeptiert. Vielleicht hängt die kumpelhafte Bruderschaft mit ihrer Religiosität zusammen – die beiden sollen gelegentlich auch zusammen gebetet haben. Darüber äußert sich Blair hier jedoch nicht. George sei jedenfalls „kein Vollidiot, der in das Präsidentenamt gestolpert“ sei, meint Blair, „niemand stolpert in das Amt des US-Präsidenten“. Er sei eben ein taffer Typ und ein zuverlässiger Verbündeter.
Und diese britisch-amerikanische Schiene der traditionell engen „Special Relationship“ wollte Blair wohl unbedingt bedienen, als er sich darauf einließ, die US-Täuschungsmanöver zu unterstützen, die dann zum illegalen Präventivkrieg im Irak und zum afghanischen Abenteuer führten. Saddam Husseins Massenvernichtungsmittel könnten innerhalb von 45 Minuten London in Schutt und Asche legen, wurde da kolportiert. Und Blair, darin ganz His Masters Voice, ließ keinen Zweifel daran, dass die von „George“ und von UN-Inspektoren fieberhaft gesuchten Geheimwaffen auch existierten. Als sich dies als nebulöse Schimäre und tückischer Vorwand für einen Präventivkrieg herausstellte, schien das plötzlich eher irrelevant zu sein – war es nicht immer um die Beseitigung Saddams gegangen? Und war es nicht ein Segen, dass dieser Tyrann nun endlich liquidiert war?
Skandalös, peinlich und fast schon kriminell waren all diese Rechtfertigungsmanöver für einen Krieg, der weder durch UN-Resolutionen noch durch eine gravierende militärische Gefahr gerechtfertigt war. Mehrere britische Untersuchungskommissionen versuchten, Licht in das Dunkel dieser Machenschaften zu bringen, was nur teilweise gelang. So viel scheint klar zu sein: Blair hatte seinem Spezi George schon lange vor der Irak-Invasion seine Zustimmung zur britischen Beteiligung an diesem Krieg gegeben und dann versucht, die passenden Rechtfertigungen irgendwie nachträglich fabrizieren zu können.
Sicher besitzt dieser charismatische Visionär, der von seinen Fans wie ein Filmstar verehrt wurde, zwar große Qualitäten als Kommunikator und umgarnender Charmeur. Doch wenn es darum geht, aus den politisch-militärischen Fehlern der Vergangenheit zu lernen, die katastrophalen Fehlentscheidungen des selbsternannten amerikanischen Weltpolizisten nach dem Vietnam-Debakel auf britischer Seite nicht zu wiederholen und sich mit dieser unbelehrbaren imperialistischen Interventions- und Hegemonie-Attitüde nicht gemein zu machen, dann holt er aus seinem rhetorischen Fundus all die Plattitüden und dümmlichen ideologischen Nebelkerzen, die jeder halbwegs aufgeklärte Zeitungsleser schon seit Jahrzehnten eingemottet hat. Die USA seien eben von Gott für eine ganz besondere Rolle auserkoren, erklärte Blair in seiner umjubelten Rede vor dem amerikanischen Senat: „Sie müssen für Frieden, Demokratie und Freiheit auf der ganzen Welt einstehen – und wir Briten helfen Ihnen dabei.“
Als der höchste britische Richter, Attorney General Lord Peter Goldsmith, vor der Irak-Invasion noch einmal eindringlich davor warnte, sich mit britischen Truppen an diesem Abenteuer zu beteiligen, hatte er an Tony Blair ein geheimes Gutachten mit dem ausdrücklichen Hinweis auf die Illegalität eines solchen Krieges geschickt. Blair hatte Goldsmith daraufhin in die USA geschickt, wo der von den Bush-Ratgebern, von White-House-Juristen und Militärexperten so lange gegrillt und bearbeitet wurde, bis er plötzlich seine Meinung änderte und seinen Widerstand aufgab. Was letztlich den Ausschlag für diesen Meinungswandel des Lords gab, bleibt unklar. Aufschlussreich ist aber, dass Tony Blair damals, im Januar 2003, auf das Dossier, das jetzt deklassifiziert und vom „New York Review of Books“ (Philippe Sands: „A Very British Deceit“, 30. Sept. 2010) veröffentlicht wurde, seinen Kommentar schrieb. Sein handschriftlicher Vermerk neben den kritischen Einschätzungen und Warnungen des Lords lautete schlicht: „I just don’t understand this.“
No regrets
Noch im Januar dieses Jahres antwortete der unbelehrbare Blair vor dem Chilcot-Untersuchungsausschuss auf die Frage, ob er die Entscheidung für den Irak-Krieg bedauere: Nein, er bedaure nichts, auch wenn er für die Folgen die volle Verantwortung übernehme. Ja, Tony Blair hat auf seiner langen New Labour-Reise an die Macht zwar viel bewirken und verändern können – aber er hat auch vieles, was nicht in sein Konzept passte, einfach missverstanden, ignoriert oder so lange verdreht, bis es für ihn akzeptabel war.
Sein letztes Fazit nach dem Abschied aus Number 10 und seiner Konzentration auf neue Aufgaben lautet übrigens: „Glücklicherweise war meine Leidenschaft für die Religion ja immer größer als die für Politik.“ Daher blicke er nun wieder nach vorn – denn größere Schritte und Lektionen als die vergangenen würden ihn auf seiner weiteren Reise noch konfrontieren. Man darf also gespannt sein auf Tonys nächste Etappe, die er dann vielleicht im Talar zurücklegt.
Peter Münder
Tony Blair: Mein Weg. (A journey, 2010) Biografie. Deutsch von Norbert Juraschitz, Dagmar Mallett, Helmut Dierlamm, Stephan Gebauer, Heike Schlatterer. München: C. Bertelsmann 2010. 784 Seiten. 29,90 Euro.
Zu dem prekären Verhältnis möchten wir auf einen Roman hinweisen, der auch prominent verfilmt worden ist.
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