Theater im Kopf
Sigrid Behrens bezeichnet sich bescheiden selbst als “Küken” inmitten der altehrwürdigen Autorengilde des Hanser-Verlages, doch mit diesem Debüt braucht sie sich hinter so mancher breiten Altautorenschulter nicht zu verstecken.
Wenn man nachts durch die Straßen geht und der Blick auf ein beleuchtetes Fenster fällt, dann gibt es wohl kaum jemanden, der nicht versucht, einen kleinen Einblick zu erhalten in das, was sich dahinter verbirg – fremde Möbel, fremde Gegenstände, fremde Menschen, fremde Leben. Und wer hat sie sich nicht schon einmal ausgemalt, diese fremden Leben, die in fremden Wohnungen geführt werden? Die dreißigjährige Theaterautorin Sigrid Behrens ist in ihrem Prosadebüt Diskrete Momente genau diesem Bedürfnis nachgegangen:
“Es ist Nacht. Ich baue ein Haus. Ich stelle es vor mein Fenster, damit ich es genau anschauen kann.” setzt die Erzählstimme an. Wie ein Puppenhaus fügt sie Element an Element, lässt vor dem geistigen Auge des Lesers einen Häuserblock entstehen. Es ist eine besondere Nacht, die “geschenkte“ Stunde beim Wechsel von Sommer- zu Winterzeit. In einer imaginären Kamerafahrt wendet sich die Erzählstimme einzelnen erleuchteten Fenstern zu, zoomt heran, wendet sich wieder ab, um schließlich in eine der Wohnungen, in eine der dort wohnenden Personen zu schlüpfen.
Da ist Robert, der die geschenkte Stunde nutzt, um minutiös den scheinbar belanglosen Ablauf des Tages in den Laptop zu tippen. Da ist Edith, die zunächst teilnahmslos im TV “einen dieser Filme, die sie ungefragt in die Wohnung stellen” betrachtet und sich plötzlich einbildet, die Filmcharaktere redeten über sie. Da ist Philipp, der Junge mit seinen Albträumen. Da ist Helene, die wach an ihren schlafenden Mann gekuschelt ist, „eingebettet in seinen Schlaf“. Da ist Dora, die ans Bett gefesselt ist und deren Gedanken sich in Satzfetzen wechselnder Sprachen überschlagen.
Zwischen die Perspektivwechsel schaltet sich immer wieder die Regiestimme, die wie im Theater die Szenerie beschreibt. Die Fenster und Balkone der Häuserfront werden zu einem einzigen Bühnenbild. Sieben Personen stehen auf Bühne dieses Stückes, das im Kopf des Lesers Gestalt annimmt.
Sigrid Behrens ist mit diesem Buch, das sie ausdrücklich nicht als Roman tituliert wissen möchte, eine faszinierende Melange aus Prosa und Theater gelungen. In einem ausgefeilten Rhythmus zieht sie den Leser in ihren Bann, und ein ausgeklügelter weiterer Effekt, der den Text mit Ironie und Witz würzt, ist eine Art schizophrener Abspaltung der Regie führenden Erzählstimme, die Formulierungen hinterfragt und kommentiert.
Sigrid Behrens bezeichnet sich bescheiden selbst als “Küken” inmitten der altehrwürdigen Autorengilde des Hanser-Verlages, doch mit diesem Debüt braucht sie sich hinter so mancher breiten Altautorenschulter nicht zu verstecken.
Frank Schorneck
Sigrid Behrens: Diskrete Momente. Hanser Verlag 2007. 156 Seiten. 16,90 Euro.