Zehn Frauen
Von Sonja Hartl
Blickt man nur auf den Plot von Charlotte Woods „Der natürliche Lauf der Dinge“, glaubt man sich schnell auf ausgetretenen Krimipfaden: Zehn junge, attraktive Frauen werden in der australischen Halbwüste in einer Baracke gefangen gehalten. Es gibt keine Telefone, keine Computer, keine Nachbarn. Ihnen wurden die Haare geschoren, sie werden wie Tiere aneinander gekettet, in Verschlägen untergebracht und misshandelt. Eine Fluchtmöglichkeit gibt es nicht: sie wissen nicht, wo sie sind, das gesamte Areal ist von einem elektrischen Sicherheitszaun umgeben, dahinter scheint öde Landschaft zu sein. Daraus entwickelt sich nun aber kein Folterporno, keine Serienmord- und/oder -vergewaltigungssaga, kein Sektenuntergangsszenario, sondern eine Art Emanzipationsgeschichte zweier der festgehaltenen Frauen, Yolanda und Verla, aus deren Perspektiven die Geschichte erzählt wird. Beide halten sich für stark, beide sind überzeugt, sie werden vermisst und gesucht werden. Außerdem finden sie schon bald die einzige Verbindung zwischen einander und den anderen Mitgefangenen: Sie sind alle wegen einer „Sex-Geschichte“ in den Schlagzeilen gelandet – Yolanda wurde von einer Gruppe Footballspieler vergewaltigt, Verla hatte eine Affäre mit einem verheirateten Politiker –, unter ihren Mitinsassinnen sind u.a. eine Schwimmerin und eine Castingshowteilnehmerin, die öffentlich gemacht haben, was ihnen von „Betreuern“ angetan wurde und eine junge Frau, die als 16-Jährige auf Nacktfotos auftauchte, die beim Kardinal gefunden wurden. Dabei spielte es in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle, ob die Frauen Opfer von sexueller Gewalt wurden oder eine Liebschaft hatten: sie sind die „Schlampen“, die Männern ins Verderben gezogen haben. Denn sie waren in diesen „Skandalen“ diejenigen, die weniger Macht hatten.
Wir erfahren niemals das volle Ausmaß der jeweiligen Skandale, aber das müssen wir auch nicht: wir kennen andere Namen mit ähnlichen Geschichten, sie sind uns – und genau darum geht es – bestens bekannt. Immer wieder stürzen sich (Boulevard-)Medien auf diese Skandale, immer wieder werden die Rolle der Frau, das Aussehen der Frau, das Verhalten der Frau verhandelt, immer wieder wird die Frau als Schuldige ausgemacht, sie ist die Ehebrecherin, die Lolita, die mächtige, ältere Männer verführt.
Die Beziehungs- und Machtgeflechte einer Gesellschaft, aufgedeckt
Charlotte Wood belässt es jedoch nicht bei einer Gesellschaftskritik, sondern sie wendet den Blick von den Medien auf die Frauen selbst und ihren Umgang mit der ihnen von der Öffentlichkeit zugeschriebenen Rolle: Diese Frauen wissen, dass sie auf ihre jeweilige Rolle in den Skandalen reduziert werden. Yolanda glaubt, sie trage eine Mitschuld an den Ereignissen, weil sie in diesen Raum gegangen, Verla ist überzeugt, dass der Politiker ihr Gefühle entgegenbringt und es eine Liebesaffäre war. Sie sind diejenigen, die die Kontrolle über die Situation behalten wollen, die weder die Rolle der Medien noch die ihnen in der Gefangenschaft zugedachte Opferrolle widerspruchs- und widerstandslos hinnehmen wollen. Jedoch zeigt sich, dass sie alle von der sexistischen Gesellschaft mehr oder weniger geformt worden: Sie hoffen auf Hilfe von außen, einige glauben sich anfangs gar in einer besonders harten Castingshow. Alle fügen sich mehr oder weniger in das System aus harter körperlicher Arbeit und schlechtem Essen. Sogar als der gewalttätige Aufseher verkündet, dass der mysteriöse Oberaufseher Hardings nicht kommt und damit alle in einer Gefangensituation stecken, die Insassinnen wie ihr Wachpersonal – schließen sich die Frauen nicht zusammen und überwältigen ihre Überwacher, obwohl es immerhin zehn Gefangene sind, die drei Bewachern gegenüberstehen, unter denen die einzige Frau bereits süchtig und geschwächt von Medikamenten ist. Als ihnen bewusst wird, dass einer der Männer früher oder später eine von ihnen vergewaltigen wird, weigert sich die Mehrheit der Frauen, ihre passive Rolle aufzugeben und an die Stelle der Gefügigkeit Rebellion zu setzen. Stattdessen zupfen sie weiterhin mit einer Pinzette jedes Haar aus, das auf ihrem Körper wächst, um „schön“ zu bleiben.
Es finden sich in diesem Buch die elf Frauenfiguren, sie sind unterschiedliche Typen, aber sie sind alle Individuen und haben deshalb unterschiedliche Selbstbilder und Bewältigungsstrategien. Durch sie finden sich inmitten der lebendigen Beschreibungen Gedanken über das Verhältnis von Sexualität, Gender und Macht, zwischen Femininität und Feminismus. Charlotte Wood durchdringt die Beziehungs- und Machtgeflechte einer Gesellschaft – sei es die außerhalb oder innerhalb des Zauns. Allerdings geht sie nicht mit psychologisch feinem Gespür vor, sondern bricht sie mit brachialer Schärfe auf. Denn bei aller Gesellschaftskritik, bei aller Analyse ist „Der natürliche Lauf der Dinge“ immer noch ein Spannungsroman mit einem guten Schuss Horror- und Mysteryelemente: wir warten mit den Frauen auf den Oberaufseher, auf irgendeine Art Erklärung für alles, zugleich nehmen direkte Bedrohungen zu, ihnen droht das Essen auszugehen, sie verlieren den Kontakt zur Außenwelt. Deshalb hat dieses Buch sicherlich didaktische Züge, aber Charlotte Wood hat ausreichend reale Bezüge und bekannte Szenarien eingebaut, dass dieses Szenario nicht einfach als lehrhafte Parabel abgetan werden kann. Vielmehr ist „Der natürliche Weg der Dinge“ ein knallhartes feministisches Buch, das die Situation konsequent zu Ende denkt: Mit Ausnahme von Verlas Vater kommt kein Mann im Buch gut weg, aber es sind nicht nur die Männer, es ist die Gesellschaft, von der eine tödliche Gefahr ausgeht.
Denn diese – so folgert Verla – hasst diese Frauen wegen ihrer Weiblichkeit.
Sonja Hartl
Charlotte Wood: Der natürliche Lauf der Dinge (The Natural Way of Things, 2015). Übersetzt von Gaby Wurster. Arctis Verlag, Hamburg 2017. 304 Seiten, 20 Euro.