Geschrieben am 6. März 2017 von für Kolumnen und Themen, Litmag

Primärtext: Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo. Miniaturen

Niroz Malek lebt in Aleppo. Trotz allem. Und er schreibt davon, wie es ist, trotz allem in Aleppo zu leben. Das Ergebnis sind kurze Texte, Miniaturen nicht nur über den Alltag in einer Stadt, auf die Bomben fallen, sondern auch Träume, Phantasien, Texte zu Musik und Literatur, Erinnerungen an gestorbene Freunde und Weggefährten. 57 Miniaturen versammelt „Der Spaziergänger von Aleppo“, die meisten hat Niroz Malek zuerst auf Facebook veröffentlicht, bis heute schreibt er dort in unregelmäßigen Abständen sehr kurze Texte. An eine Publikation in Syrien war und ist nicht zu denken.

Niroz Malek ist alles andere als ein Reporter des Schreckens, er ist der Intellektuelle, der Schriftsteller, dessen Welt Jahrhunderte an Kultur umfaßt. In dieser Welt lebt er, mit seinen Büchern, Bildern und Schallplatten, und diese Welt kann und will er nicht verlassen. Er streift durch Aleppo, durch die Trümmer und Ruinen, umgeht Straßensperren, versucht vergeblich, einen Soldaten daran zu hindern, einen Jungen mit Down-Syndrom zu erschießen, bloß weil das Kind nicht erfaßt, daß es stehenbleiben soll. Er liest die Namen der Getöteten an den Hauswänden, während er in sein Stammcafé geht, um seinem Alltag einen Anschein von Normalität zu geben. Und er schreibt, weil ihn das am Leben hält. Neben all dem geschilderten Elend ist dieses Buch gleichzeitig auch ein Zeugnis für die Kraft der Kultur, die hilft, auch in der schlimmsten Barbarei die menschliche Würde zu bewahren.

Aleppo-Einband-16-12-05.inddDer Spaziergänger von Aleppo

Der Dialog des Spaziergängers

Nach dem Krachen einer heftigen Detonation, die alle Fenster meines Zimmers erbeben ließ, hörte ich auf zu schreiben. In Erwartung einer zweiten Detonation horchte ich eine Weile … dann stand ich von meinem Tisch auf und fragte mich: »Wo mag die Bombe wohl explodiert sein?« Und gab sogleich die Antwort: »Offenbar ganz in der Nähe …«

Ich ging in die Küche, blieb mitten im Raum stehen und fragte mich wieder: »Was hat dich jetzt in die Küche verschlagen? Willst du dir selbst beweisen, daß die Kämpfe nun in deiner Wohnung stattfinden?« Ich wußte keine Antwort. Beunruhigt kehrte ich in mein Zimmer zurück, um weiterzuschreiben. Da fragte sie: »Und? Willst du nicht wie die anderen Leute Dokumente und Habseligkeiten für die Flucht in deinen Koffer packen? Du unterscheidest dich doch nicht von all den anderen, die aus den Stadtvierteln fliehen, die bereits in Schutt und Asche gebombt wurden.«

Ich sah sie an und dachte über ihre Worte nach. Dann lächelte ich und erwiderte: »Glaubst du wirklich, daß ich meine Wohnung verlasse? Daß ich meinen Tisch zurücklasse, an dem ich gearbeitet und meine Geschichten und Romane geschrieben habe? An dem ich die Cover für meine Werke entwarf und Hunderte und Aberhunderte Bücher las?« Ich sagte zu ihr: »Ich werde meine Wohnung nicht verlassen. Was immer auch geschieht, ich werde nicht fortgehen.«

Sie lachte – trotz eines Anflugs von Sorge, der sich auf ihrem Gesicht abzeichnete – und sagte: »Alles, was du erwähnt hast, ist ersetzbar. Nur das Leben nicht …«

»Von welchem Leben sprichst du?« fragte ich. »Sprichst du über die Tage, die vorbeizogen? Sprichst du darüber? Oder über jenes Leben, das ich in all diesen Büchern gelassen habe, die ich las? Und in all den Freundschaften, die ich schloß, nicht nur mit den Autoren, sondern auch mit den Protagonisten. Mit jenen Helden, mit denen ich viele Tage und manchmal sogar monatelang lebte … Mit einigen habe ich gar mehr als ein Jahr lang meine Abende verbracht. Sag es mir!« erwiderte ich. »Wie soll ich mich von Nagib Machfus verabschieden, wie König Lear seinem Schicksal überlassen? Wie sollte ich nicht versuchen, Hamlet zu überreden, sein Zögern zu überwinden oder seine Philosophie aufzugeben, an die ich keinen einzigen Tag glaubte? Wie kann ich all die Gespräche mit Raskolnikoff über die göttliche Strafe und die Strafe der mensch­lichen Gesetze vergessen? Und diese kleinen Statuen von Puschkin und Gogol, diese Photographien von Tschechow und Hemingway, wer wird sie verteidigen? Und wer wird diese Schallplatten von Beethoven, Tschaikowsky und Rachmaninow vor der Zerstörung retten? Sag es mir!« rief ich. »Wie kann ich meine Wohnung verlassen, aus meinem Zimmer fortgehen?« Dann setzte ich, nachdem ich ein paarmal geschluckt hatte, hinzu: »Warum? Um meinen Körper zu retten? Du solltest wissen, daß das, was ich in diesem Raum zurücklasse, nicht nur Bücher und Antiquitäten und Photographien sind. Nein, ich lasse meine Seele zurück.« Schließlich erklärte ich: »Kann ein Körper ohne Seele leben? Aus diesem Grund werde ich meine Wohnung nicht verlassen: Weil ich meine Seele nicht in einen noch so großen Koffer stopfen kann. Meine Seele ist all das, was du in meinem Zimmer siehst … Tausende Bücher. Hunderte Schallplatten, Zeichnungen, Gemälde und Photographien«. Ich sagte zu ihr: »Geh du, rette du dich. Aber ich bleibe hier, in meiner Wohnung, solange meine Seele weiterlebt.«

Gewehr

»Kommst du auf die Straße zurück?« fragte er.
»Ja.«
»Mit deinem Gewehr?«
»Nein.«
»Werden sie verstehen, was du damit beabsichtigst?«
»Das ist unwichtig.«
Er stand da und betrachtete seinen Freund. Gemeinsam hatten sie zu den Waffen gegriffen, nachdem einer ihrer Freunde auf einer Demonstration für Freiheit durch eine Kugel in die Brust getötet worden war.
Er nahm das Gewehr von der Schulter und legte es beiseite. Dann wickelte er sich die Unabhängigkeitsfahne um den Leib und machte einen Schritt nach vorn.
Kaum hatte er die Schwelle des Gebäudes überschritten, da sauste von weitem eine Kugel heran und durchbohrte seine Stirn.
Er blieb stehen, dann drehte er sich um. Er sah nur einen Blutfleck, der die Wand hinter ihm rot gefärbt hatte. Dann stürzte er auf den Gehsteig und versank allmählich in seinem Blut, während er mit großen Augen in einen Himmel starrte, der noch nicht verschlossen war.

Brennholz

Es sah ganz normal aus: Eine Gruppe von Jungen sammelte in dem kleinen Park in der Nähe meiner Wohnung einige trockene Zweige vom Boden auf. Ich erinnere mich, daß ich eines Tages, ich weiß nicht unter welchen Umständen, in den Park ging. Ich lief an den Bäumen vorbei, obwohl ich über die durchfurchte rote Erde und die seit Jahren dort liegenden Haufen trockener Blätter stolperte.

Auf den Baumstämmen las ich Namen, Männer und Frauen hatten Herzen eingeritzt. Auch einige Worte junger Liebender standen dort, die von der Liebe enttäuscht waren: ihre eigenen Namen und die ihrer Angebeteten. Zwei oder drei Tage später sah ich, wie einige Jugendliche und Knaben hier und dort trockene Zweige von den Bäumen brachen. Ich war verwundert, doch als sich dasselbe in den nächsten Tagen wiederholte, beschloß ich, noch einmal in den kleinen Park zu gehen und mir die Sache aus der Nähe anzusehen … und da erschrak ich über das, was ich sah!

Eine Gruppe von Männern, Frauen und Kindern stapelte die grünen Stämme der Bäume, der Zedern, Zypressen, ­Paternosterbäume, dann brachen sie sie in kleine Stücke, luden sie auf Karren und transportierten sie … wohin?

Entsetzt ging ich zu ihnen und fragte, was sie da täten. Sie sahen elend, arm und bedürftig aus, und sie alle gaben etwa die gleiche Antwort: »Damit wärmen wir uns in diesem bitterkalten Winter. Dieser Winter ist wirklich unerträglich kalt.«

Ich protestierte vorsichtig: »Aber das sind grüne Bäume. Die liefern euch kein wärmendes Brennholz, sondern nur Qualm, der euch erblinden läßt!«

Die meisten scherten sich nicht um meine Worte. Nur ein oder zwei antworteten: »Das wissen wir, aber was sollen wir machen? Das ist alles, was wir haben. Wir haben keine andere Wahl. Unsere Kinder sterben schier vor Kälte. Es ist ein harter Winter, noch härter als der letzte.«

Dann gingen sie fort und zerstreuten sich zwischen den Bäumen des kleinen Parks. Sie zersägten die Stämme und machten Brennholz aus den Geschichten der Liebenden. Blut floß daraus, und heißer Qualm stieg von den Buchstaben ihrer Namen in die Höhe, um die übriggebliebenen Baumstämme zu bedecken.

Checkpoint

Seine Tagesration an Brot, Gemüse und etwas Obst auf dem Arm, sah er auf dem Nachhauseweg unzählige Todesanzeigen an den Haustüren kleben. So viele Menschen waren in letzter Zeit gestorben! »Möge Gott uns beschützen«, sagte er zu sich selbst.

Er ging die letzten Schritte weiter bis zu dem Haus, in dem er wohnte. Auch an seiner Tür hing eine Todesanzeige, die schon älteren Datums zu sein schien. Er blieb stehen, um sie zu lesen, und als er fertig war, stellte er verwundert fest, daß er bereits seit etwa einem Monat tot war.

Traurig drehte er sich um und kehrte zum Friedhof zurück. Er wollte noch vor Sonnenuntergang dort ankommen, denn danach wäre der Checkpoint geschlossen. Dann müßte er die ganze Nacht wachbleiben und könnte erst am nächsten Morgen zu seinem Grab zurückkehren, um zu schlafen.

Abwesenheit

Als ich am Morgen erwachte, war meine Frau nicht zu Hause. »Vielleicht ist sie weggegangen, um mit einer Nachbarin Kaffee zu trinken und darüber zu reden, wie schwierig das Leben geworden ist«, sagte ich mir. Aber dann fiel mir ein, daß sie manchmal auf den Markt geht, um Obst und Gemüse einzukaufen. Schließlich sagte ich mir: »Oder vielleicht besucht sie ihre Schwester oder einen ihrer Brüder.«

Ich hatte sie immer davor gewarnt, nicht zu spät nach Hause zu kommen, weil die Straßen trotz der vielen Checkpoints nicht mehr sicher seien. Und ich machte sie ein wenig verärgert darauf aufmerksam, daß sie sich nicht in Anwesenheit von Hinz und Kunz über den Zustand des Landes auslassen solle und daß sie nicht reden solle über …

»Zu Befehl!« pflegte sie mich dann zu unterbrechen.

Ich zog mich ins Wohnzimmer zurück, wo ich mich in meine Ecke setzte und mich an die Geschichte eines italienischen Schriftstellers erinnerte, die kurz gefaßt so geht: Ein Ehepaar lebte zusammen, und der Ehemann hatte ein Hobby, er pflegte in seiner Freizeit Musik aufzunehmen. Doch die Ehefrau lief die ganze Zeit durch die Wohnung, und ihre Absätze verursachten dabei ein lautes Geräusch.

Der Mann forderte sie aufgebracht auf, ihre Schuhe zu wechseln, weil das Geräusch der Absätze auf der Musikaufnahme zu hören sei. Nach dem Tod der Frau blieb der Mann allein zurück und wurde von seinen Erinnerungen zermalmt. Er saß da und lauschte der Musik, die er aufgenommen hatte, in der Hoffnung, vielleicht das Klappern ihrer Absätze zu hören.

Ich saß nun in meiner Ecke und blickte in die andere Ecke, in der meine Frau gewöhnlich saß. Ich schaute auf die Leere, die sie hinterlassen hatte, eine Leere, die niemand füllen und niemand besetzen konnte, eine Leere, die wie ich darauf wartete, daß sie zurückkehrte zu ihr, nach ihrer Entlassung aus dem Gefängnis, damit wir beide wieder in unseren Ecken sitzen könnten und nicht müde würden, darüber zu sprechen, wie weit es mit diesem Land und den Menschen gekommen ist.

ENDE DER LESEPROBE

Der Autor
Niroz Malek wurde 1946 in Aleppo geboren. Er hat bislang acht Bände Erzählungen und sechs Romane veröffentlicht. »Der Spaziergänger von Aleppo« erschien zuerst auf Französisch bei Le serpent à plumes. Das Buch wurde mit dem Prix Lorientales 2016 ausgezeichnet und inzwischen auch ins Schwedische übersetzt.

Niroz Malek: Der Spaziergänger von Aleppo. Miniaturen. Aus dem Arabischen von Larissa Bender. Weidel Verlag 2017. Circa 160 Seiten. 17,00 Euro. eBook 11,99 Euro. Mehr zum Buch.