East Side Story oder Fünf Freunde im Jugendknast
Welch ein gewaltiges Debüt! Clemens Meyer, geboren 1977 in Halle an der Saale, verlässt die Deckung des 100-Seiten-Erzählungsband-Musters deutschsprachiger Debüt-Autoren und wagt sich mit einem über 500 Seiten starken Roman in den Ring. „Als wir träumten“ ist eine gelungene Symbiose aus amerikanischer Erzähltradition und deutscher Komposition.
Clemens Meyer gelingt es mit den ersten Sätzen, einen Sog zu erzeugen, der den Leser in die Geschichte hineinzieht, in den Abwärtsstrudel, der die Protagonisten erfasst und nicht mehr loslassen wird. Sein Rhythmus ist schnell, sein Beat ist hart – und doch von einer feinen, melancholisch anmutenden Melodie durchdrungen.
Meyers Debüt führt in die trostlosen Straßen von Leipzig-Reudnitz. Seine Protagonisten sind Ich-Erzähler Daniel, genannt Danie, und seine Freunde Rico, Mark, Walter und Pitbull. Als Daniels Erzählung ansetzt, sind Walter und Mark bereits tot, Rico hauptsächlich in Strafanstalten zuhause und Daniels Freundschaft mit Pitbull Geschichte.
Tanz der Erinnerungen
„Ich kenne einen Kinderreim. Ich summe ihn vor mich hin, wenn alles anfängt, in meinem Kopf verrückt zu spielen. (…) manchmal fange ich einfach an zu summen und merke es nicht mal, weil die Erinnerungen in meinem Kopf tanzen (…)“ – Zu diesem Tanz der Erinnerungen lädt Daniel den Leser ein, eine Chronologie der Ereignisse muss sich dieser selbst erarbeiten, aus den zahlreichen Episoden die Geschichte einer verlorenen Kindheit und Jugend zusammensetzen.
Nachdem im ersten Kapitel so mancher Absturz der kommenden 500 Seiten vorweggenommen wird, führt das zweite Kapitel zunächst in die ostdeutsche Kindheit der Vorwendezeit. Bei einer vom kalten Krieg geprägten Übung unter NVA-Aufsicht in der Schule streiten die Fünftklässler Danie und Mark, wer die „bessere Verwundung“ hätte, um von den Pionierinnen wiederbelebt zu werden. Danie schwärmt für Katja, eine Musterschülerin, die im FDJ-Gefüge eine große Karriere vor sich zu haben scheint. Nur auf den ersten Blick erscheint diese Kindheitsepisode wie eine Idylle, werden doch schon hier Brüche in der heilen Oberfläche erkennbar. Clemens Meyers Helden sind keine Wende-Verlierer, sie stehen schon vor dem Ende der DDR auf verlorenem Posten.
Der Erzählfluss wirbelt durch die Zeitebenen, unversehens erfolgt auf die Kindheitserinnerung ein Schnitt zum Drogentod Marks. Nur scheinbar wahllos springen die Kapitel durch die Zeit, tatsächlich jedoch folgen sie einer nachvollziehbaren Assoziationskette. So sprunghaft Danies Erinnerungen sind, so unzuverlässig erscheinen sie auch. In seinen Erzählfluss schleichen sich Ungenauigkeiten ein, die er korrigiert, Wunschbilder, die er vor der Korrektur noch einmal auskostet. Da ist der Abschied von Katja, der tatsächlich nie stattgefunden hat, weil ihre Familie – wie so viele andere – plötzlich nicht mehr da war. Da ist der Unfalltod Walters, zu dessen Hergang Danie gleich drei Versionen liefert. Dem gegenüber stehen Wiederholungen, die den Leser zunächst irritieren, jedoch offenbaren, dass sich Danie einiger Fakten selbst zu versichern versucht.
Indem Clemens Meyer die Erzählung seines Protagonisten solche Haken schlagen lässt, gelingt ihm ein aufwühlendes, atemlos vorangetriebenes Prosawerk. Statt chronologisch die „Rolltreppe abwärts“ fahren zu lassen, stellt Meyer unschuldiges Kinderspiel neben blutige Prügeleien, das gesellig getrunkene Bier neben den goldenen Schuss. Glück und Elend liegen unmittelbar nebeneinander – auf den kurzfristigen Erfolg als „Manager“ des illegalen Techno-Clubs „Eastside“ folgt der jähe Absturz, als ein Schlägertrupp der Konkurrenz den Laden in seine Einzelteile zerlegt und auch mit den Jungs nicht zimperlich umgeht.
Raues Klima und entlarvte Kino-Mythen
Meyers Debüt entlarvt zudem Mannbarkeitsrituale, legt den Ehrencodex eines Old Surehand in die Waagschale. Der Held aus dem Kino gilt als großes Vorbild für die Jungs, doch ihr Miteinander ist bestimmt von Posen und großen Sprüchen. Immer, wenn es zu Konflikten mit konkurrierenden Gangs, der Polizei oder den Skins von den Reudnitzer Rechten kommt und einer fehlt, versichert dieser hinterher, wie anders doch alles gelaufen wäre, wenn er nur hätte eingreifen können. Doch als zum Beispiel Rico und Mark direkt vor Danies Wohnhaus von einer Rotte Skins übel zugerichtet werden, versteckt sich dieser hinter einer Balkonbrüstung und behauptet später, von der Prügelei nichts mitbekommen zu haben. Im rauen Klima des Leipziger Ostens bedeutet dies für ihn allerdings nur einen kurzen Aufschub.
Meyers Roman geht an die Nieren in seiner schonungslosen Beschreibung sinnloser Gewalt und er geht ans Herz mit jedem weiteren geplatzten Traum. Es ist sein Verdienst, dass in all der Brutalität die Einzelschicksale der Gruppenmitglieder erkennbar werden. In seiner Erzählkonstruktion erinnert „Als wir träumten“ an Stephen Kings Coming-of-Age-Erzählung „The Body“ (verfilmt als „Stand by me“, mit dem jungen River Phoenix in der Rolle des Chris, an den die Figur des Rico in Meyers Roman sehr erinnert) – allerdings in einer illusionslosen Hardcore-Version.
„Als wir träumten“ ist nicht bloß eines der beeindruckendsten literarischen Debüts der letzten Jahre, es ist schlichtweg einer der großartigsten deutschsprachigen Romane der letzten Zeit.
Frank Schorneck
Clemens Meyer: Als wir träumten. S. Fischer 2006. 517 Seiten. 19,90 Euro.