
Der Kundschafter
Ein Grundlagenwerk des Nature Writing, das Theorie und Praxis vereint: „Natur im Sinn“ von Ludwig Fischer – Rezension von Alf Mayer
Er wollte Biologe werden, studierte Verhaltensforschung, wechselte dann in die Literaturwissenschaft, war lange Jahre Professor für neuer deutsche Literatur und Medienkultur an der Universität Hamburg, ist Wissenschaftler, Schriftsteller, bekennender Gartenliebhaber, hat den Deutschen Preis für Nature Writing mitbegründet – eine Besprechung seines Porträts der „Brennnesseln“ sowie Fotos und Texte von ihm selbst, unter anderem eine große Moorkunde und Natur-Gedichte nebenan in diesem CulturMag-Special.

Ludwig Fischers gewichtiges Buch „Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur“ ist so etwas wie die Summe eines Lebens, draußen an der frischen Luft mit dreckigen Fingernägeln und Gummistiefeln ebenso geerntet wie bei der Lektüre ganzer Bibliotheken. „Die Arbeit an diesem Buch gäbe es nicht ohne meine Arbeit im Garten“, schreibt er. Mit eigenen Schwarzweiß-Fotos illustriert, das Papier angenehm haptisch, sind diese 352 Seiten aus dem Verlag Matthes & Seitz (wo auch die Reihe „Naturkunden“ erscheint) ein Grundlagenwerk des Nature Writings – auch in 20 oder 30 Jahren noch nicht veraltet. Angefangen hat Ludwig Fischer damit schon vor vielen Jahren.

„6. Januar 1977, 18.29 Uhr; Außentemperatur 1 C., Zimmertemperatur 20 C. (geschätzt); vor dem Fenster Nieselregen, mit Schnee vermischt; ich fühle leicht erhöhten Puls; Hitze über den Augen, innenseitig: Erregung, wie vor etwas Ungewissem; und die Tasten der Schreibmaschine immer wieder kühl und dienstbar, wenn ich die Fingerkuppen darauf lege.“ – Mit dieser Notiz schließt Ludwig Fischer seinen Beitrag „Bäume, Nachbarn, Arbeit, Geschichte. Vorübung zur Kritik des Naturverhältnisses“ für den von Hans Christoph Buch herausgegeben „Tintenfisch 12. Thema: Natur – Oder: Warum ein Gespräch über Bäume heute kein Verbrechen mehr ist“, der 1977 im Verlag Klaus Wagenbach erscheint.

Kindheit auf dem Land, Naturverbrauch und die Widersprüche des Stadtlebens, uneigentliche Arbeit, die Kritik der Ökonomie und die Unmöglichkeit des richtigen Lebens im falschen sind Fischers Themen in diesem Text. Er zitiert Alfred Schmidt aus „Der Begriff der Natur in der Lehre von Karl Marx“ (1974): „Die richtige Gesellschaft wäre ein Prozeß, in dem die Menschen weder mit der Natur einfach in eins zusammenfallen noch von ihr radikal geschieden sind.“ Immer bewusster, schreibt Fischer, erlebe er „die Stadt als feindlich, auch in ihren Randbezirken. Natur ist dort, wo man die menschliche Bearbeitung, Veränderung nicht gleich erkennt, so scheint es. Ich will weg, und zugleich will ich hier bleiben, um zu ändern.“
Das war, wie gesagt, 1977 – und Ernst Blochs „Prinzip Hoffnung“ noch ebenso aktuell wie die Weltrevolution. Fischer rekurriert auch auf Brigitte Wormbs einflussreichen Essay „Über den Umgang mit Natur“ von 1975, der einer anderen Sicht auf ein ziemlich verfemtes Thema die Tür aufstieß.

Brigitte Wormbs 1974: „Immer wieder wurden Heimatnatur und Landschaft von Reaktion, Restauration und Konservatismus als ureigene Domäne beansprucht, seit sich das Bürgertum hierzulande zumindest ökonomisch etabliert hatte. Den traditionellen Tummelplatz volkstümelnder Natur- und Heimatgefühle bildete dabei weniger die reale Außenwelt als vielmehr jene scheinbar zeitlose sonntägliche Idylle, die – für wahr gehalten oder ausgegeben – der rauen Alltagswirklichkeit kompensatorisch entgegengesetzt wird.
Nach dem folgenreichen Missbrauch der sinnlichen Reize dieser Fiktion durch den Nationalsozialismus wandte sich die intellektuelle und künstlerische Avantgarde in der Bundesrepublik entschieden von der verdächtig gewordenen Idylle ab, zugleich aber vom ideologisch belasteten Thema „Landschaft“ überhaupt. Die ‚natürliche’ oder ‚richtige’ Landschaft fungierte in progressiver Literatur seit 1945 allenfalls als Sinnbild unsäglicher Banalität; sie galt wie das „Gespräch über Bäume“ geradezu als Metapher für ‚unpolitische’ Äußerungen der Innerlichkeit.“

Was ist eigentlich Nature Writing?
Jetzt, 45 Jahre später, konstatiert Ludwig Fischer, der die Autorität dazu hat: „Kaum jemand hierzulande weiß, was Nature Writing eigentlich ist. Damit entgeht der an Literatur und an Natur interessierten Öffentlichkeit viel. Und gerade jetzt, wo alles, was auf dem deutschen Buchmarkt die Fahne Natur hochhält, der Aufmerksamkeit sicher sein kann, haben die Schreibenden wie die Lesenden allen Grund, genauer hinzuschauen. Dabei wäre es von erheblichem Nutzen, zumindest maßgebliche Texte aus dem weiten, vielfältigen Fundus des Nature Writing aufzunehmen, dazu die in den letzten zehn, fünfzehn Jahren aufflammenden, kontroversen Debatten zu beachten, denen auch in den großen Tages- und Wochenzeitungen in Großbritannien und den USA Platz eingeräumt wird. Nicht zuletzt wird dort über die Berechtigung, die Zielsetzung, die Macharten eines zeitgemäßen New Nature Writing gestritten, gelegentlich mit einer Heftigkeit und Resonanz, für die es in deutschsprachigen Gefilden gewissermaßen keinen Klangkörper gibt, dem schon beinahe lärmenden Boom der unterschiedlichsten Naturbücher zum Trotz.“
Eigentlich hatte er „nur“ vor, einige Thesen zu Grundlagen und Erscheinungsformen von Nature Writing festzuhalten, dann aber wurde ihm schnell mehr daraus. Genau das macht sein Buch so einzigartig, so unvergleichlich und aus gleich zwei großen Erfahrungswelten gesättigt. Zwei bei ihm „lebenslang wirksame, energetische Linien (der) eigenen Lebensbahn“ kommen hier zusammen: die tatsächlich existenzielle Begegnung mit Natur und der ebenso elementare Umgang mit Literatur.
Je mehr er las und forschte, wurde ihm, der seit Jahrzehnten auch Gedichte schreibt (Beispiele in dieser CulturMag-Ausgabe nebenan) Nature Writing zum Versprechen – oder zumindest zum Postulat –, „aufseiten der Literatur könne sich verbinden, was in der Lebenspraxis unweigerlich auseinandertrete: Erkundung und Arbeit an der Natur und Arbeit des Schreibens“.
33 Thesen sind es dann letztlich geworden. Sie wechseln sich ab mit eigenen kurzen, erzählenden Texten. „Exerzitien“ nennt Ludwig Fischer sie, durchaus an die religiöse Praxis angelehnt, die Theoriearbeit zu unterbrechen und anders konzentriert an ein Thema heranzugehen. Gestus und Präsenz des Autors ändern sich hier, immer wieder neu setzt er an, von der Natur und zugleich von sich selbst zu erzählen. Sehr schöne Sachen sind hier dabei. Theorie und Praxis, ganz konkret. Und dann ist da auch noch die Bildebene: mehr als 30 hochwertige Schwarzweißfotos aus eigener Werkstatt, eine Naturkunde für sich.
Fischer nennt es die „basalen Impulse des Nature Writing“, mit der Erkundung der Natur auch die Selbstwahrnehmung des/der Schreibenden in den Text zu bringen, als Autor präsent zu sein. Im Nature Writing ist es schon seit den Anfängen Thema, zugleich von sich und von der Natur zu erzählen.

Wichtige Merkmale
Als grundlegend für Nature Writing definiert er drei wichtige Merkmale, die keineswegs trennscharf vorkommen müssen.
Unabdingbar ist ihm, dass die literarische Ausarbeitung auf intensive, „authentische“ Wahrnehmung und Erkundung von konkreter Natur und Landschaft zurückgeht, „auf sozusagen leibhaftige Begegnung und Auseinandersetzung mit nichtmenschlichen Lebewesen, mit mehr oder weniger naturbelassenen Räumen und Ensembles, mit den Elementen der natürlichen Mitwelt“. Nature Writing ist nicht an die Erfahrung von Wildnis oder „wilder“ Natur gebunden, das können auch von Menschen gestaltete, ja sogar urbane Räume sein, Kulturlandschaften oder technisch überformte Lebenswelten. Ein wunderbares Beispiel dafür Judith Schalansky Wanderung #### in „Verzeichnis einiger Verluste“ (CulturMag-Besprechung hier).
Ein zweites Merkmal ist das „Authentische“. Der oder die Schreibende sollte die literarisch ausgearbeiteten Wahrnehmungen und Erfahrungen tatsächlich selbst gemacht haben und dies auch in der Schreibweise zu erkennen geben. Meist haben die Texte daher einen deutlich autobiografischen Zug.
Das dritte Merkmal ist ein hoher literarisch-ästhetischer Anspruch, dem solch ein Text genügen sollte. Fischer zitiert Thoreau, der postulierte, eine intensive, sozusagen existenzielle Naturerfahrung verlange eine besondere, „extra-vagante“ Schreibweise, die sich deutlich sowohl von der wissenschaftlichen Deskription wie vom konventionellen Sprachgebrauch der gesellschaftlichen Öffentlichkeit absetze.
Als viertes Merkmal von Nature Writing wird oft noch angeführt, dass die Texte essayistische Partien enthalten, etwa Erörterungen über zurückgewiesene oder befürwortete Naturauffassungen oder über gesellschaftlichen Praktiken im Umgang mit der Natur, über den Wert und die persönliche Bedeutung der geschilderten Erfahrungen enthielten. Solche eine Metaebene einer Natur und Gesellschaftsdeutung muss nicht zwingend sein, stellt aber häufig ein wichtiges Element dar. Meinen Helden Edward Abbey etwa („Die Einsamkeit der Wüste“ – eine Begegnung hier) mag ich mir ohne sein scharfzüngiges Geißeln gar nicht vorstellen.

Oft ist es eine Mischform
Nature Writing, das ist häufig eine literarische Mischform, die, so Fischer „vom Essay bis zur genauesten Beschreibung, von der persönlichen Erzählung bis zur Tagebuchnotiz, von der Statistik bis zur sprachgeschichtlichen Ausgrabung, vom philosophischen Traktat bis zur politischen Abrechnung, vom Gedicht bis zum literarischen Zitat nahezu alle Textsorten nutzen und miteinander kombinieren“ kann.
Unabdingbar ist die Sinnlichkeit. Grundlage ist die eigene Erfahrung. Voraussetzung für Nature Writing ist Beobachtung, genaue Erkundung, Begehung, oft auch lang andauernde Teilnahme an bestimmten, manchmal eng begrenzten Lebenswelten. Weniger die Theorie, die sprachlich gestaltete Wahrnehmung „von Lebensräumen im wörtlichsten Sinn“, macht für Fischer Nature Writing aus.
Auf ein Phänomen weist er besonders hin:„Der modischen Wertschätzung von Natur korrespondiert auf paradoxe Weise eine oft groteske Unkenntnis und Ahnungslosigkeit selbst von den einfachsten Naturdingen. Viele Erwachsene haben nie eine rohe Kartoffel in der Hand gehabt, geschweige denn sie geschält. Selbst bei gebildeten Literaten kommt es vor, dass sie Schwalben und Mauersegler oder Möwen und Seeschwalben nicht unterscheiden können. Viele Spaziergänger im Wald können allenfalls zwei oder drei Baumarten richtig benennen, noch viel weniger etwas über deren Eigenart, Lebensbedingungen, Fortpflanzung aussagen. Fast niemand kennt noch die verschiedenen Wolkenformationen und weiß sie zu deuten.“

Früher gehörten viele Naturbegriffe zum Elementarwissen. Robert Macfarlane hat – zum Beispiel in seinem großartigen Bilderbuch „Die verlorenen Wörter“, CulturMag-Besprechung hier – darauf hingewiesen, wie mit den Wörtern und Bezeichnungen auch die Dinge selbst verschwinden.
Natürlich sind Bäume politisch
Nature Writing favorisiert mitnichten, verwahrt Fischer sich energisch gegen die hartnäckig zirkulierende Unterstellung, eine nur empfindsame, hingebungsvolle oder gar schwärmerische Versenkung in die Naturwahrnehmung. Er findet auch, dass der ganze Naturbücherboom à la Wohlleben in eine falsche Richtung geht, weil man Natur nicht verstehe, wenn man sie vermenschlicht, verniedlicht und verharmlost. Natur ist immer auch das Befremdliche, das Unverständliche und sogar das Bedrohliche, betont Fischer.
Nicht Flucht aus dem Zivilisatorischen, nicht eine nostalgische oder realitätsferne „Liebe zur Natur“ sieht er als Movens vor allem des neueren Nature Writing sondern letztlich einen gesellschaftspolitischen Impuls. Schon in den Formen und Ausdrucksweisen zeigt sich in ihnen neben großer Sachkenntnis auch in hohem Maße Geschichtsbewusstsein und gesellschaftspolitische Wachheit. Natürlich sind Gespräche über Bäume politisch. Müssen sie sein.

Einer der fundamentalen Irrtümer in Deutschland bestehe darin, Nature Writing beschäftige sich mit der sogenannten unberührten, wilden Natur und mit nichts anderem. Seit dessen den Anfängen, seit Gilbert White (1720 – 1793) oder Thoreau (1817 – 1862), geht es aber immer schon um das Verhältnis der Natur zum wahrnehmenden Subjekt, zum Menschen, und um Natur als eine vom Menschen bewohnte oder besiedelte Umgebung.
Fischer lässt hier als Kronzeugen Horst Stern auftreten, für ihn der Spiritus Rector eines deutschen Nature Writings: Nur aus einer – wie sehr auch immer kulturell vermittelten – genauen Wahrnehmung, einer durch alle Sinne eröffneten Erfahrung der natürlichen Mitwelt und ihrer „Geschöpfe“ sei der „einzige Maßstab“ zu gewinnen ist, „an dem sich ablesen lässt, was uns vor uns selber rettet: die Einsicht, dass wir ein Teil der Natur sind, nicht ihr ein und ihr alles“ (Horst Stern). Solche eine Überzeugung speise sich nicht aus dem Zeitgeist einer ökologischen Apokalypse, sondern aus der nüchternen Bestandsaufnahme.
Fischers Buch entwirft die Herausforderungen, denen sich ein eigenständiges deutschsprachiges Nature Writing gegenüber sieht, und erwägt die Impulse, die es setzen kann – nicht nur für die Literatur, sondern generell für unser Verhältnis zu Natur und Umwelt in einem Zeitalter, in dem wir die Erde aufbrauchen. Eine neue Aufklärung, sozusagen. Ein zeitgemäßes Naturverständnis.

Gegenüber den angelsächsischen Ländern besteht hier deutlicher Nachholbedarf.
- Der berühmte Botaniker Richard Mabey versammelt 1995 eine beeindruckende Sammlung von Texten für „The Oxford Book of Nature Writing mit mehr als 120 Autoren.
- 2005 rief Robert Macfarlane dazu auf, eine Bibliothek mit Klassikern des Nature Writing aus Großbritannien und Irland zu gründen und zu veröffentlichen.
- „Where the Rivers Meet“ hieß 2006 eine Australien-Anthologie der University of Hawai mit indigenen und nicht-indigen Autoren.
- 2008 brachte Granta eine Ausgabe zu „The New Nature Writing“ (N. 102) mit 18 Beiträgen.
- Ebenfalls aus 2008 stammt das 1048-seitige „American Earth. Environmental Writing Since Thoreau“, herausgegeben von Bill McKibben in der Library of Ameriva.
- „Animalia“ hieß dann im Winter 2017 Nummer 142 von Granta.

Der eingangs zitierte „Tintenfisch 12“ mit dem „Thema: Natur. Oder warum ein Gespräch über Bäume heute kein Verbrechen mehr ist“ stammt von 1977. Danach war wieder weitgehend Ruhe.
In Deutschland gibt es seit 2013 im Verlag Matthes & Seitz die Reihe „Naturkunden“ – ausführlich bei CulturMag besprochen in dem diesem Special vorausgegangenen Doppel-Magazin „Verlust“. Band 50 erschien in diesem Frühjahr und ist dem Signet der Reihe gewidmet, der Koralle. Viele wichtige Bücher des Nature Writing sowie zahlreiche Grundlagenwerke zu ökologischen und naturtheoretischen Fragen sind bisher bei Matthes & Seitz erschienen. Nach der achtbändigen Folge der „Erinnerungen eines Insektenforschers“ von Jean-Henri Fabre ist die siebenbändige Ausgabe von Henry David Thoreaus „Journal“ derzeit das größte Projekt. Einzelne Verlage wie etwa Jung & Jung in Österreich oder zeitweise Klett-Cotta haben ebenfalls Klassiker des Nature Writing übersetzen lassen.

Über eines wundert sich der Literaturwissenschaftler Fischer besonders: Dass Alexander von Humboldt mit seinen genauesten , meist in einem bemerkenswerten literarischen Duktus verfassten Naturerkundungen – siehe auch seine „Tierwelt“, hier nebenan in den Kurzbesprechungen -, nicht nur für Henry David Thoreau zu einem bewunderten Vorbild wurde und das frühe angelsächsische Nature Writing enorm beeinflusste, „zuhause“ aber fast wirkungslos blieb. In Deutschland gingen (und gehen) Wissenschaftsprosa, Natur-Sachbücher und Naturpoesie deutlich getrennte Wege. Humboldt selbst neigte hier zur Selbstbezichtigung, zum schlechten Gewissen. Er versuchte, den „Geist der Natur“ empirisch zu erfassen, sah jedoch seine „unglückliche Neigung zu dichterischen Formen“ als ein „Hauptgebrechen“ seiner Schreibweise an. Die schriftstellerische Leistung also, für die ihn schon seine Zeitgenossen feierten und die seine Wirkung auf Thoreau und andere begründete, erschien Humboldt selbst als bedenklich, ja als einen Mangel seiner Werke. Auch eine Form von deutschem E- und U-Problem.

Fischer deutet einige Autorinnen und Autoren aus, die es dennoch versuchen. Esther Kinsky („Am Fluss“) ist ihm eine der wenigen, auch wenn sie ihre Bücher lieber als Geländeromane bezeichnet denn als Nature Writing. Der verstorbene W. G. Sebald gehört für ihn dazu. Allen voran aber Horst Stern (1922 – 2019), dem das Buch gewidmet ist. Fischer hat von ihm 1997 den Band „Das Gewicht einer Feder“ mit Reden, Polemiken, Filmen und Essay herausgegeben.
Fischer empfiehlt den sperrigen Wulf Kirsten, „der nichts anderes getan hat, als eine Ecke von Sachsen mit unglaublicher Intensität lyrisch aufzuarbeiten: Er ist für mich ein genuiner Nature Writer, ist aber als solcher kaum bekannt.“ Oder auch Volker Braun und Thomas Rosenlöcher, die zu den DDR-Lyrikern gehören, die dort die Konfrontation mit der gesellschaftlichen Vernutzung von Natur noch härter erfahren haben. Fischer selbst schrieb einmal – nebenan in unserer Gedichtabteilung zu lesen – ein Gedicht von Karl Mickel weiter, siehe hier nebenan.
Andreas Maier und Christine Büchner machen 2006 in „Bullau. Versuch über Natur“ die Schwierigkeit selbst zum Thema, sich von der Position des Literaten aus auf die sachkundige Befassung mit Naturerscheinungen einzulassen.
Fischer begeistert sich für Helmut Schreiers vorzügliches Buch über Bäume („Streifzüge durch eine unbekannte Welt“) und etwa für Jürgen von der Wense. Er erinnert an den 1993 verstorbenen Helmut Salzinger, „einen Beatpoeten, der dann aufs Land gegangen ist und nichts anderes gemacht hat, als Moore zu erkunden, und der darüber das Buch geschrieben hat: „Moor, ein Versuch, nicht zu erzählen“ – vergessen! Das ist Provinzliteratur, die hat keinen interessiert. Das ist das Schicksal solcher Bücher in Deutschland!“
Fischer selbst ist ein großer Liebhaber und Kenner der Moore – siehe seine „Moorkunde“ nebenan in dieser Ausgabe. Sein großes und doch kompaktes „Natur im Sinn“ klingt mit den Mooren aus und wie man sie erhalten und/ oder renaturieren kann.
Noch viel zu tun, noch viel zu wirken und zu gärtnern. Gut, dass das Nature Writing solche Kundschafter, Mentoren und Vertreter hat wie Ludwig Fischer – und einen Verlag wie Matthes & Seitz, der solch ein weites Feld klug und behutsam zu bestellen weiß.
Alf Mayer
- Ludwig Fischer. Natur im Sinn. Naturwahrnehmung und Literatur. Verlag Matthes & Seitz, Berlin 2019. Hardcover, 352 Seiten, Hardcover, viele eigene Schwarzweiß-Fotos, 30 Euro. Verlagsinformationen.
PS: In den Kontext des Buches gehören Band 3 der „Naturkunden“ von 2013, Jürgen Goldsteins Studie „Die Entdeckung der Natur. Etappen einer Erfahrungsgeschichte“, Rudolf Borcharts Anthologie „Der Deutsche in der Landschaft“ von 1925 (Naturkunden Nr.42) und ebenfalls von Jürgen Goldstein das für diesen Oktober angekündigte Buch „Naturerscheinungen. Die Sprachlandschaften des Nature Writing“.

PPS: Der von Ludwig Fischer mitbegründete Deutsche Preis für Nature Writing wird im Herbst 2019 zum dritten Mal verliehen. Bleiben Sie dran!
PPPS: Eine der Sachen in Ludwig Fischers Buch, die mir persönlich sehr gut gefallen, sind die Funken, die er aus einem Film wie Sidney Pollacks „Jeremiah Johnson“ von 1972 zu ziehen vermag: Wie der Film die Gründungsmythen der US-amerikanischen Gesellschaft spiegelt, auch die (männliche) Identität stiftende Begegnung mit der „großen“ Natur und „die Berufung auf die naturrechtliche Legitimation des Tötens in einem noch nicht vergesellschafteten Zustand, der sich an der frontier aus dem Vordringen in eine wilde Natur ergebe“. – Ich werde nie vergessen, wie ich an einem Silvesterabend damals im Frankfurter „Eldorado“ den Film sah, danach noch auf eine Party wollte, und aus dem Kino kam – und Frankfurt von einem Blizzard lahmgelegt war, die Straßen fast unpassierbar, alles vom Schnee zugeweht und beißend kalt. Echte, elementare Naturerfahrung, urplötzlich. Theorie drinnen im Kino, Praxis dann selbst draußen. Und keine Handschuhe dabei.
- Alf Mayer, Kurator dieses NATUR Specials wie auch der vorangegangen Doppelausgabe von VERLUST UNO und DUE, ist ein Bauernsohn aus dem Allgäu, eigentlich der Hoferbe. Dann waren es aber doch die Bücher und das Schreiben, die ihn fortzogen. Erst zur „Augsburger Allgemeinen“, wo er einer der wenigen Journalisten war, der sich mit den Einheimischen im – sehr sprachgenauen – Dialekt unterhalten konnte. Dann nach Frankfurt, von wo ihn seine Frau nach 33 Jahren Innenstadt schließlich an den Taunusrand lotste. Jetzt sind die Streuobstwiesen vor der Tür und ein Kaiserblick auf die Frankfurter Türme, oft im Smog.