Einsam in den mesozoischen Sonnenuntergang
Der einsame Held kommt aus der Wüste, betritt den Saloon, sieht eine schöne Lady, wird ihr Beschützer, besiegt seine Feinde … und zieht wieder einsam in den Sonnenuntergang … frei und herrenlos. Und lässt ein gebrochenes Herz zurück.
1. Am Anfang schuf Gott die Dinosaurier
Mein erstes Dinosaurier-Buch schrieb/malte ich 1978, ein DIN-A4-Heft wurde dafür umfunktioniert. Weitere DIN-A4-Hefte sollten folgen. Ich war gerade 9 Jahre alt – in kosmischen Maßstäben ca. 13, 5 Milliarden Jahre nach dem Urknall, aber noch vor dem Internet. Ein Heftchen mit dem lakonischen Titel Urzeit, liebevoll ausgefüllt mit Wahnsinnszeichnungen, vollgeklebt mit ausgeschnittenen Zeitungs- und Buchbildern (auch ein Grund, warum Bücher vor Kindern in Regalhöhen ab 1,5 m sicher verstaut werden sollten, inklusive Schere und Kleber) und mit atemberaubenden Bildunterschriften, wie z.B. (ein Klassiker) Tyrannosaurus Rex oder Brontosaurus[1]. Rechtschreibung problemlos: ich stolperte nur ein wenig bei Trickteratups (sprich bitte: Triceratops). So bin ich mit Dinosauriern groß geworden: eine faszinierende Geschichte von Irrtürmern, Projektionen und Renaissancen – und unzähmbarer Phantasie. Unvorstellbar, dass es einmal einen Sauroposeidon proteles oder Amphicoelias fragillimus gegeben haben könnte! Nach der Wende sofort in das Naturkundemuseum: den Bracchiosaurus bewundern – in alter und dann in neuer Montage. Ein Wunder evolutionärer Statik! In Frankfurt sah ich eine Ausstellung über die Riesen aus Patagonien. Na gut, Wale sind auch groß. Aber das hier! In Eichstätt Archaeopteryx-Fossilien bewundert. Und dann doch später Theologie studiert. Aber das lag nicht nur daran, dass ich befürchtete, irgendwann Lagerungsprobleme zu bekommen. (Heute habe ich Lagerungsprobleme mit Büchern.)
Theologie und Dinosaurier liegen vielleicht gar nicht so weit auseinander: Beides Archäologien – gewissermaßen in der rationalen Rekonstruktion dessen, was einmal war und in so unendlich weite Ferne gerückt zu sein scheint, so dass Vergangenes fast den Status einer unerreichbaren Utopie annimmt. Obwohl wir täglich von Religionen und Dinosauriern (in Gestalt von Vögeln) [2] umgeben sind.
Atemberaubende Fortschritte in der Tricktechnik ließen manches filmisches Werk gleichsam als Dokumentation erscheinen: wir schauen kleinen Dinos in der Antarktis bei der Arbeit zu, T Rex bei der Kindererziehung, Ceratopsier mit Schildern und Hörnern wie röhrende Hirsche um die Gunst der Damen werben oder sogar wie ein Sauropode durch Genuss von Pilzen bewusstseinserweiternde Grenzerfahrungen[3] macht (Dinosaurier sind auch nur Menschen!) – und immer wieder auch der dramatische Kometeneinschlag, der die evolutionäre Bühne für die Säugetiere und somit für die 3-D-Avatare des Internets zufällig freiräumte. Wir existieren, weil die Dinosaurier ausgestorben sind. Sie stehen auch nicht mehr aufrecht, mit freien Armen (theologisch: ein Anthropomorphismus! Der König der Tyrannenechsen empfing natürlich vertikal, erhobenen Hauptes, ein Standbild, seine Untertanen …). Sie waren anders: waagerecht und schnell. Nicht mehr im Sumpf vor sich hin mampfend, sondern in Herden und Familien lebend, manchmal wie Street Gangs, elegant und irgendwie cool. Bisweilen mit Federkleid. Raubsaurier mit Federn! … und bunt! Wow! Wie werden sich eines Tages außerirdische Wissenschaftler Menschen vorstellen? Kleine, flache, schwarze oder farbige Kästchen mit Bildschirmen, die von primitiven, zweibeinigen Lebensformen getragen wurden.
2. Ein Samurai
Wie erzählt man Geschichten über Lebewesen, die eigentlich nur gegeneinander kämpfen, sich jagen, sich fressen, sich paaren (nein, nicht über Menschen, über Dinosaurier!). Ricardo Delgado gelingt das scheinbar mühelos. Das erzählerische Kunststück, welches Delgado in „Age of Reptiles. Ancient Egyptians“ anwendet, ist schlicht und einfach, nämlich Vertrautheit zu schaffen, indem die Story in filmische Traditionen eingerückt wird: „This story is basically a western that stars a samurai […].”[4] Und diese ungemein dynamisch-dramatische Comic-Story stellt insofern eine beeindruckende Leistung dar, weil wir über Dinosaurier so vieles nicht wissen. Im Vergleich dazu wirken die älteren, irgendwie doch unerreichten Meisterwerke von Charles R. Knight und Z. Burian wie statische Momentaufnahmen oder klassische Studien. Und still.
Ricardo malt Zeit und Raum, Dynamik und Tragik. Wir erleben einen Spinosaurus aegypticus[5], wie er durch eine Sumpflandschaft (im mesozoischen Nordafrika) seines Weges zieht, angedeutet zuerst nur durch einen Schatten auf einem Baum.[6] Ein zernarbter, ungemein eleganter Jäger. Oft unter den Fluten, nur sein bis zu 2 m hohes Rückensegel bleibt sichtbar. Und dann taucht er vor einer Herde riesenhafter Paralititan auf,[7] das Wasser fließt in Strömen von ihm ab – und verdeckt ihn dennoch, so dass sein Körper nur konturenhaft zu erahnen ist: die Klauenhand, die gigantischen Kiefer, das Segel. Liebevoll dabei die Details, z.B. wie Schildkröten bei seinem dramatischen Auftritt durcheinander gewirbelt werden. Dann sehen wir aus der Hochhausperspektive der Sauropoden auf ihn herab: Zwischen diesen Türmen scheint es keine Chance auf Entkommen zu geben, bis der Spinosaurus blitzschnell mit seiner Vorderhand das Bein eines dieser Titanen aufschlitzt. Aber dass solch eine Begegnung für einen Raubsaurier monstermäßig böse ausgehen kann, zeigen die Bilder, als die Paralititan-Herde, sich auf den Hinterbeinen aufbäumend, einen unvorsichtigen Carcharodontosaurs, sich auf ihn niederstürzend, regelrecht in einer Gewaltorgie zermalmt und nur ein Trümmerfeld zurücklässt.[8] … Spinosaurus jagt Fische. Unbarmherzig. Wie Schwertwale Robben durch die Luft schleudern, so geht er auch mit seiner Beute um.[9] Da möchte ein Krokodil ihm die Beute abspenstig machen – ein Unterwasserduell! – und wird von dessen Hinterbein schwer am Kopf getroffen.[10]
Spinosaurus lernt nun ein für ihn farblich sehr attraktives Weibchen kennen. Und nach Werbungstanz und Fisch-Brautgeschenk und nach dem Sie-wissen-schon folgen meiner Meinung die brutalsten Szenen dieses Comics, in verschiedene Rottöne getaucht, ein Horror aus Tod und Blut.[11] Das Weibchen hatte nämlich schon Nachwuchs. Und dieser wird von dem neuen Partner gnadenlos vernichtet. Richard Dawkins: „Wenn ein männlicher Löwe neu in ein Rudel kommt, so tötet er gewöhnlich alle vorhandenen Löwenbabys, vermutlich weil diese nicht seine eigenen Kinder sind.“[12] Das bedeutet, es handelte sich um die Gene eines Konkurrenten! Nach Dawkins seien Lebewesen nichts anderes als Gen-Kopiermaschinen … Spinosaurus gewinnt ihre Sympathie erst wieder zurück, als er sie im Alleingang vor einer Saurier Street-Gang (13 Exemplare!) rettet; aber diese Unterzahl hatte nie wirklich eine realistische Chance gegen ihn.[13]
Showdown: Spinosaurus gegen Paralititan! Man erwartet jetzt das gleiche Schicksal wie bei dem Carcharodontosaurs, aber unvermittelt schlitzt der Samurai (selbst nur 11-18 m lang, je nach Buch und DVD) dem riesigen Gegner den Unterleib auf, dieser kollabiert, zuschauende Raubsaurier sind regelrecht schockiert, bis sie über Goliath herfallen und der Urwald in einem apokalyptischen Chaos sich wälzender, durch die Luft wirbelnder Leiber, zwischen Flugreptilien, Blut, Gedärmen, Krokodilen und Wassermassen donnernd unterzugehen scheint.[14] Evolution ist erbarmungslos, nein, gleichgültig. Alle sind Täter, alle sind Opfer.
3. Der Abschied
Als das Weibchen neue Eier gelegt hat, macht sich unser Spinosaurus wieder auf seinen Weg hinaus, in eine weite, waldlose, wüstenartige Landschaft hinein, in den Sonnenuntergang (fast wie bei Lucky Luke, dem einsamen Cowboy). Es bleibt der Sternenhimmel.[15]
Charles R. Knight und Z. Burian zeigen trotz deren potentieller Bedrohlichkeit klassisch schöne Tiere der Urzeit. Paarung und Kampf bleiben oft ausgespart, nur angedeutet. Beispielsweise, schon ikonographische Tradition!, ein T Rex stürmt auf einen Trickteratups (sprich bitte: Triceratops) los. Schnitt. Und Ende. Der Rest bleibt der Phantasie überlassen, was durchaus nichts Schlechtes ist. Delgado zeigt das Vorher und Nachher, das Grausam-Erschreckende, das, was realistisch sein könnte, weil heutige Tiere auch so sind wie Dinosaurier (oder umgekehrt), kurz: das Natürliche. Aber es bleibt immer eine Grenze der Darstellbarkeit: „Unser Dinosaurier ist demnach sowohl ein naturgegebenes Faktum als auch ein kulturelles Konstrukt. Er ist zugleich echt und erfunden.“[16] Vielleicht gilt das auch irgendwie für Religionen. Unsere Träume müssen sich mit der Wissenschaft einlassen: damit sie wahrer werden (und nicht in Ideologie abstürzen.) Und die Wissenschaft muss träumen dürfen, damit sie weiter wird (und nicht in ihren immer zeit- und kulturbedingten Grenzen verharrt.) Sicher, Menschen sind Gen-Kopiermaschinen, bisweilen und viel zu oft grausam und brutal wie ein Westernheld oder Spinosaurus. Aber wenn ich z.B. ein Hölderlin-Gedicht abschreibe, ist die Kopie dieses Textes mehr als nur Stift, Papier oder Buchstaben – und ich, der es liest, mehr als nur ein Kopist …
Markus Pohlmeyer
(… lehrt an der Europa-Universität Flensburg)
[1] Heute Apatosaurus.
[2] Vgl. dazu D. Norman: Vielleicht sind Vögel Dinosaurier?, Kapitel 6, in: Ders.: Dinosaurier, übers. v. S. Held, Stuttgart 2011.
[3] Wie in DINOTASIA (2012).
[4] Ricardo Delgado’s Age Of Reptiles. Ancient Egyptians, Dark Horse Comics 2015- 2016, 115.
[5] Vgl. dazu D. Weishampel u.a.: The Dinosauria, 2. Aufl., University of California Press 2007, 98: “It is one of the great tragedies of dinosaur paleontology that the original specimens were destroyed in World War II.” Vgl. dazu auch die Darstellung von Spinosaurus in C. Scott: Planet Dinosaur, BBC Books 2011.
[6] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 13.
[7] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 23.
[8] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 68-70.
[9] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 33.
[10] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 34.
[11] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 59-62.
[12] R. Dawkins: Das egoistische Gen, übers. v. K. de Sousa Ferreira, Hamburg 1996, 242.
[13] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 83 ff.
[14] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 94-103.
[15] Ancient Egyptians (s. Anm. 4), 114.
[16] A. Dworsky: Dinosaurier. Die Kulturgeschichte, München 2011, 215.