
Loren Eiseley: Die braunen Wespen
Essay von 1956 – erstmals auf Deutsch und mit einem Nachwort von Brigitte Helbling
Es gibt im Wartesaal eines größeren Bahnhofs im Osten einen Bereich, in dem man nie eine Frau sitzen sieht. Er liegt immer im Schatten, unter Dutzenden von Schließfächern, die an der Wand hängen. Und doch herrscht hier ein Kommen und Gehen, weniger von echten Reisenden als von Sterbenden. Unter den Ärmsten, solchen, die niemanden mehr haben, gibt es die, die diesen Ort aufsuchen, um der Witterung zu entkommen und sich für wenige weitere Stunden an die Stadt zu klammern, die sie hervorgebracht hat. Ganz ähnlich machten es jene alten, braunen Wespen, die ich an einem sonnigen Wintertag im Gebüsch über ihr längst verlassenes Nest kriechen sah. Die Glieder taub, der Geist verwirrt, dunkle Flecken am Körper vom Frost, und doch lebte irgendwo in ihrem durchnässten Gewebe noch eine Erinnerung an das Summen des Frühlings. Als es kälter wurde, fielen sie starr zu Boden, in das weiße Vergessen des Schnees. Im Bahnhof ist das nicht anders, nur dass die Stadt selbst im Schneetreiben geschäftig bleibt. Die Alten halten an ihrem Sitz fest, als verbinde sich damit ein Status, den sie nicht aufgeben wollen. Hin und wieder schlafen sie, und ihre alten, grauen Köpfe ruhen in unbequemster Stellung auf der Rückenlehne der Holzbänke.

Ruhe finden sie nicht, höchstens eine Stunde Schlaf, in der rasselnden Erschöpfung derjenigen, die sich schlecht ernähren und alt sind und die Nächte auf der Straße verbringen. Dann kommt ein Wachmann und stubst sie mit seinem Schlagstock, damit sie sich wieder aufrichten. „Hier könnt ihr nicht schlafen“, brummt er.
Was dann beginnt, ist ein seltsames Ritual. Ein alter Mann will nicht aufwachen. Nach einem gemurmelten Austausch drückt der Wachmann ihm eine Münze in die Hand und geht weiter durch die Bänke, stubst die Schlafenden und deutet zum Ausgang hin. Wie Vögel, die beim Gang eines Bauern durch das Kornfeld aufflattern und sich hinter ihm auf dem Acker wieder niederlassen, richten sich die Männer auf, taumeln einige Schritte weiter und setzen sich erneut hin.
Einer rührt sich nach einem ersten, zuvorkommenden Zucken gar nicht mehr. Tuberkulös ausgemergelt besteht er auf seinen Schlaf. Der Wachmann blickt nicht zurück. Für ihn ist das ebenfalls ein Ritual, und offiziell wird er sich erst in einer Stunde wieder damit abgeben.
Es kommt auch vor, dass ein Schläfer gar nicht mehr erwacht. Wie den braunen Wespen wird ihm der Wunsch erfüllt, im summenden Zentrum eines Nests statt in einem einsamen Zimmer zu sterben. Ganz schlecht ist es an diesem Ort nicht, mit seinen schlurfenden Schritten und dem Bewusstsein, dass man nicht der einzige ist, der in dieser Welt Pech gehabt hat. Dazu kommen die Pfiffe und Geräusche von außerhalb, von allen, die dabei sind zu verreisen. Inmitten all dieser Reisenden wird dem einen oder anderen vielleicht ja doch einmal etwas gelingen. Irgendeinem.
Ist das der Grund, warum die braunen Wespen zu ihrem leeren Papiernest im Gebüsch zurückkehren? Bis zum Schluss klammern wir uns fest, und sei es auch nur an einem Sitz auf einer Holzbank, in einem Bahnhof. Der Platz im Zentrum des Geschehens bedeutet mehr als ein Zimmer oder ein Bett an einem Ort, wo die Alten sanft aus dem Herzen der Geschäftigkeit gedrängt werden. Es geht um das Sein mittendrin, das ist es, was zählt. Die Sehnsucht nach Leben, nach diesem Leben, das den alten grauen Kopf auf der harten Holzbank schindet; ein Mensch hat ein Recht darauf, irgendwo hinzugehören.

Manchmal aber verschwindet dieser Ort mit den Jahren, die vergehen. Und manchmal scheint er aus bloßer Luft zu bestehen, ein verschwommenes, phantomhaftes Gebilde über einem Haufen Geröll. Wir hängen an einem Moment in der Zeit oder im Raum, weil der Mensch sonst verloren wäre, und nicht nur der Mensch – das Leben selbst. Eben deswegen sind die Stimmen, ob echt oder nicht, die bei Seancen aus den schwebenden Schalltrichtern der Spiritualisten kommen, verstörend. Die einzige Wirklichkeit dieser körperlosen Stimmen liegt in ihrer Fähigkeit, anhand eines Bruchstücks von Vergangenheit die Erinnerung an eine Person hervorzurufen. Vor den Apparaturen des Mediums drehen sich die Toten und die Lebenden endlos um ein Ereignis, einen Ort, einen Vorfall, die die Zeit längst zugeschüttet hat.
Das Verlangen danach ist in Lebewesen tief verankert: Streunende Katzen laufen dafür meilenweit, und Vögel fliegen von einem Ende der Erde zu ihrem Nistplatz am andern zurück. Es kann einem vorkommen, als fordere der Überlebenstrieb jedes Tieres, vor allem aber der intelligenteren, ein Festhalten an einem Fetzen Zeit im Raum, oder die Behauptung eines Orts, mit Objekten darin, die den Zeitlauf überdauern. Ich selbst erlebte einmal in meinem eigenen Wohnzimmer, wie eine Feldmaus versuchte, in einem Blumentopf die Erinnerung an eine Wiese herzustellen. Seither sind mir solche Bemühungen in tausend Gewändern begegnet, und weil ich selbst den größeren Teil meines Lebens im Schatten eines nicht existenten Baums zugebracht habe, sehe ich mich berechtigt, für eine Feldmaus zu sprechen.
Eines Tages, als ich eine Abkürzung über die Wiese nahm, die damals noch an unser Einkaufszentrum am Stadtrand grenzte, entdeckte ich eine riesige Nacktschnecke, die sich an einem Bächlein aus rosarotem Speiseeis labte, das aus einem weggeworfenen Pappbecher rann. Ihre Augen traten in einer Art stumpfer Extase vor und zurück, und ihr dunkler Körper drängte sich in die Rundung des Bechers und machte sich dort lang. Ich stand am Rande des Betonplatzes, sah auf die Schnecke, und bekam unversehens ein Bewusstsein für dieses Ufer, das vor mir lag, und an dem eine andere Lebensform krauchte und sich bemühte, inmitten der Steine und des Schwemmholzes zurechtzukommen. Dieses Leben wusste, wo es hingehörte, weiter hervorwagen würde es sich nicht, so lange sich nichts veränderte. Und während ich dort stand, sah ich mit einem Mal immer mehr von diesem Ufer, das an das Treiben der Menschen angrenzt. Mit einer ganz neuen Aufmerksamkeit und Sorgfalt blickte ich auf Dinge, über die ich seit Jahren gedankenlos hinweggegangen war. Ich wagte mich sogar noch weiter ins hohe Gras und in die Büsche voller Wildrosen. Eine riesige Biene mit einem schwarzen Kummerbund knatterte vorbei, und aus dem Unterholz war ein unbestimmtes Rascheln zu hören.

Und dann erschien vor mir ein Schild mit der Mitteilung, auf dieser Wiese solle demnächst ein neuer Wanamaker Laden gebaut werden. Tausende von kleinen Leben standen kurz davor, ausgelöscht zu werden, das Sporenpulver der Bovisten würde in neuen Feldern verrauchen, und die gnadenlosen Räder der Bulldozer würden die Körper der kleinen Mäuse mit ihren weißen Pfoten würden zermalmen. Das Leben verschwindet oder verändert seine Gestalt so schnell, dass es einem vorkommen kann wie eine Phantom – ein kurzes Prasseln, ein Hochblubbern von Rauchringen, als würde man dissidente Chemikalien in ein Destilliergefäss einfüllen. Der Mensch war dabei, dieses Land in Beschlag zu nehmen, doch in wenigen Jahren schon würden der Stein und Mörtel dem gierigen Schlund des Klees anheimfallen. Mein Denken ist das eines Archäologen, und die Vorstellung erfüllte mich mit einer unbestimmten Befriedigung, während ich mich durch die Wildrosen zum Parkplatz zurückkämpfte. Und dann erschien mit einem Mal vor mir eine Maus, aufgeschreckt nicht von dem unheilverkündenden Wanamaker-Schild, sondern von meinen Schritten. Ich sah, wie sie in der ungefähren Richtung meines Mietshauses verschwand, der kleine Körper ein zitterndes Bündel Angst unter der prallen Sonne auf dem Beton des Platzes. In ihrer Verblendung, in ihrer Verwirrung rannte sie schnurstraks weg von dem Feld, in dem sie lebte. Und nur eine Woche später würden Dutzende weitere ihr folgen.
Ich ging nach Hause, in die Stille meines Wohnzimmers, und dachte nicht mehr an das, was ich gerade erlebt hatte. Doch eine Woche später entdeckte ich beim Betreten der Wohnung, dass ich Besuch hatte. Ich mag Pflanzen und besitze mehrere Farne, die in Töpfen auf dem Boden stehen, unterhalb der Sonneneinstrahlung des nach Süden gerichteten Fensters.

Als ich das Licht einschaltete und meinen Blick kurz durch den Raum schweifen ließ, sah ich auf dem Teppich einen kleinen Haufen Erde und eine Handvoll Kies, das vergnügt über den Rand des Blumentopfs geworfen worden war. Zu meiner Überraschung entdeckte ich zwischen den Wurzeln des Farns ein ordentliches kleines Erdloch. Ich wartete, reglos. Das Wesen, das es ausgehoben hatte, erschien nicht. Da fiel mir die Wiese ein, und die Maus auf der Flucht. Keine Hausmaus, kein Mus domesticus hätte so die Erde aufgewühlt oder Zuflucht gesucht unter den Wurzeln eines Farns in einem Blumentopf. Durch das Gewirr der Rohre oder vom Dachboden her hatte sie oder eine ihrer Artgenossen den Weg in dieses hohe, grüne, leerstehende Zimmer gefunden. Was dann geschah, konnte ich mir vorstellen. Es gab in ihrem kleinen Kopf ein Bild, das Bild einer Welt aus Samenkapseln und Stille, aus grünen, schützenden Blättern im fahlen Licht zwischen hohem Unkraut. Es war die einzige Welt, die diese Maus kannte, und sie war nicht mehr da.
Und auf ihrer Flucht war sie, wie auch immer, in dieses Zimmer mit den geschlossenen Vorhängen gelangt, wo tagsüber niemand war. Hier hatte sie das Blattgrün gerochen und war schnell in den Blumentopf geklettert, um mit den Pfoten in der Erde zu wühlen. Den halben Nachmittag hatte sie sich bemüht, das Erdloch noch tiefer zu graben. Umsonst. Ich begutachtete das Loch, konnte aber nirgends ein kleines Gesicht mit Barthaaren und Schnauz entdecken. Sie war weg. Ich fegte die Erde zusammen und füllte damit wieder das Loch. Ich ging nicht davon aus, dass die Maus sich noch einmal zeigen würde.

Und doch kam ich an drei weiteren Abenden in mein abgedunkeltes Zimmer, zu meinen Farnen, und jedesmal lag die Erde lustig auf dem Teppich neben dem Topf, und das Erdloch war wieder da, obwohl es mir nie gelingen wollte, einen Blick auf die kleine Feldmaus zu erhaschen. Ich legte Futter neben die Öffnung des Lochs. Es blieb unberührt. Ich schaute unter die Betten und spitzte beim Lesen die Ohren für ein Rascheln im Farn. Nichts; ich sah sie nie. Irgendwann wird sie in eine Mausefalle im Zimmer eines anderen Mieters geraten sein.
Doch bevor sie verschwand, war mir der abendliche Anblick ihres Erdlochs bereits lieb geworden. Meine Farne waren dabei, die flüchtige Aura einer herbstlichen Wiese anzunehmen, die Essenz, wenn man will, eines Mäusehirns im Exil. Es war ein kleiner Traum, wie unsere Träume auch, und er war auf einer langen und mühseligen Reise durch Rohre und Spinnennetze an Öffnungen vorbeigetragen worden, die vom Schatten lauernder Katzen verdunkelt waren, um schließlich, verzweifelt, in diesem Zimmer zu landen und in einer abgedunkelten Stunde am Nachmittag zwischen Farnen eine Art Wirklichkeit zu finden. Jeden Tag streifen uns solche unsichtbaren Träume auf der Straße, oder steigen unter unseren Füßen auf, oder beobachten uns von unterhalb eines Buschs.
Vor einigen Jahren wurde die alte Hochbahn in Philadelphia abgerissen und durch ein U-Bahn-System ersetzt. Diese betagte Hochbahn mit ihren Holzschuppen als Haltestellen samt Erdnuss-Automaten und Essensresten auf dem Boden war seit Generationen eine beliebte Futterstelle für Taubenschwärme gewesen, meist ein Schwarm pro Station. Hunderte von Tauben verließen sich auf das System. Sie flatterten zwischen seinen Pfeilern und dem Stahlwerk umher oder sammelten sich als aufmerksame kleine Zuschauerschar um diejenigen, die sich am Erdnussautomaten zu schaffen machten. Sie registrierten sogar diejenigen, die ihre Münzen klingeln ließen, und suchten nach Futter unter den Füßen der Menge, die auf die nächsten Züge wartete. Kaum einer von denen, die den erwartungsvollen Vögeln Brotreste zuwarfen, ahnte wohl, dass diese Hochbahn einem Fluss aus Nahrung glich, und dass das Leben an seinen Ufern abhängig war vom Fahrplan der Züge mit ihrer menschlichen Fracht.
Ich sah, wie dieser Fluss zum Stillstand kam.
Irgendwann waren die unterirdischen Tunnels fertiggestellt, und der Verkehr verlagerte sich in einen Bereich, zu dem die Tauben keinen Zutritt hatten. Es war, als würde ein riesiger Strom mit einem Mal versiegen. Ein oder zwei Tage lang kreisten die Tauben weiter über der Hochbahn oder stellten sich in der Nähe der roten Verkaufsautomaten auf. Es waren geduldige Vögel, und bestimmt litt dieser Fluss, der durch das Leben von zahllosen Generationen geflossen war, nur an einer plötzlichen Dürre.
Sie lauschten auf das vertraute Vibrieren der ankommenden Züge; sie flatterten hoffnungsvoll um den Kopf eines Bauarbeiters, der entlang der Stahltrassen lief. Sie schwangen sich von einer leeren Haltestelle zur nächsten und wurden dabei immer hungriger. Und schließlich flogen sie fort.

Ich war mir sicher, dass ich sie bei der Hochbahn nicht mehr sehen würde, doch es gab eine Wiederkehr, und in ihr liegt ein seltsamer Beleg für die Erinnerung von Lebewesen an eine Daseinsart oder einen Ort, der ihnen etwas bedeutet hat. Einige Wochen, nachdem die Hochbahn stillgelegt worden war, begannen die Bauarbeiter mit den Abrissarbeiten. Ich ging jeden Morgen an einer bestimmten Haltestelle vorbei zur Arbeit, und irgendwann erreichten die Crews auch diesen Ort. Schneidbrenner ließen Funken auf Passanten niederregnen, Presslufthammer ratterten am Fundament, und ein Blinder mit Mütze, der, wie die Tauben, an einer der Treppen zum Ticketfenster festgehalten hatte, sah sich gezwungen, seinen Platz zu räumen.
Und es war in dieser Zeit, in einer seltsamen, frühen Morgenstunde, dass ich die Wiederkehr einer kleinen Schar von Tauben miterlebte. Ich erkannte sogar ein oder zwei Mitglieder des Schwarms, der vor seiner Vertreibung im Umfeld dieser Haltestelle gelebt hatte. Unverdrossen flogen die Vögel zwischen den Funken und dem Hämmern und dem Geschrei der Bauarbeiter umher. Sie waren wiedergekommen – sie waren wiedergekommen, weil die Arbeit des Abrisskommandos sie davon überzeugt hatte, dass der Strom kurz davor stand, wieder in Fluss zu geraten. Während einiger Stunden flatterten sie durch leere Fenster, nickten mit den Köpfen und beobachteten den Fall der Tragbalken mit aufmerksamen kleinen Augen. Am nächsten Morgen schon waren von der Haltestelle nur noch einige angebrannte Balken zu sehen. Meine Vogelfreunde waren verschwunden. Zweifellos blieb ihnen aber die Erinnerung an den Bau, der nur noch aus Luft und Zeit bestand. Selbst der Blinde hielt daran fest. Irgendjemand hatte ihm einen Stuhl hingestellt, und so saß er an seiner Straßenecke und starrte blicklos zu der unsichtbaren Treppe, dort wo, wenn es nach ihm ging, weiterhin die Menschenmengen zu den Zügen hochstiegen.
Ich habe bereits gesagt, dass ich mein Leben im Schatten eines nicht existenten Baums zugebracht habe, so dass mir ein solcher Anblick wenig anhaben kann. Vor der Zeit bin ich zu einer der braunen Wespen geworden und sitze oft unter meinesgleichen im riesigen, betriebsamen Nest des Bahnhofs, und manchmal träume ich von einem ganz bestimmten Baum. Gepflanzt wurde er vor sechzig Jahren von einem Jungen mit einem Eimer und einer Spielzeugschaufel in einer kleinen Stadt in Nebraska. Der Junge war ich. Es war ein Schwarzpappelbäumchen und der Junge erinnerte sich daran wegen ein paar Worten, die sein Vater gesagt hatte, und weil alle gestorben waren oder fortzogen, die eigentlich hätten warten und in seinem Schatten alt werden müssen. Der Junge wurde vom einen zum nächsten gereicht, doch aus unerfindlichen Gründen hat sich der Baum in seinem Denken verwurzelt. Unter seinen Ästen fand er Zuflucht, und von diesem Baum aus führten seine Erinnerungen, die meine Erinnerungen sind, in die Welt hinaus.
Nach sechzig Jahren kann einem das Dasein als braune Wespe zusetzen. Im Laufe eines langen, inneren kampfes kam mir der Gedanke, es könnte mir helfen, jenen Ort aufzusuchen und den Baum anzuschauen. Ich fand einen vernünftigen Vorwand für dieses verrückte Unterfangen. Ich kaufte eine Fahrkarte und fuhr zweitausend Meilen weit, dann stieg ich aus und ging eine weitere Meile zu Fuß zu einer Adresse, die immer noch dieselbe war. Auch das Haus war unverändert.
Ich trat an den weiß gestrichenen Gartenzaun und brauchte einen Moment, bis ich es schaffte, den Blick auf den langgezogenen Garten zu richten. Dort war nichts. Sechzig Jahre lang war diese Schwarzpappel in meinem Kopf gewachsen. Mit jedem Jahr waren ihre Samen von den brennenden Präriewinden weiter weg getragen worden. Wir hatten sie mit Liebe gepflanzt, mein Vater und ich, denn er sehnte sich nach Erde und dem Wachstum von lebendigen Dingen, und wir blieben nie lange genug an einem Ort, um uns wirklich um sie kümmern zu können. Wir setzten das Bäumchen in die Erde und gaben ihm jeden Tag Wasser, und ich weiß noch, wie ich selbst am Tag, als wir von dort wegzogen, mit meinem kleinen Eimer hinausrannte und seine Wurzeln begoss. In den ganzen Jahren seither war der Baum in meinem Kopf immer weiter gewachsen, und seine Größe stand auf unbestimmte Weise auch für meinen Vater und meine Liebe zu ihm.
Ein Bub mit dem stechenden Vogelblick der Jugend kam auf einem Dreirad angefahren.
„Was suchen Sie da?“, fragte er neugierig.
„Einen Baum“, sagte ich.
„Was ist er ihnen?“, sagte er.
„Er ist nicht da“, sagte ich mehr zu mir selbst, und machte mich auf den Rückweg, gerade so schnell, dass es nicht aussah, als würde ich rennen.
„Was ist nicht da?“ fragte der Bub. Ich gab keine Antwort. Es war nicht von der Hand zu weisen, dass ein Faden mich mit einem Objekt verband, das gar nie dort gewesen war, oder doch nicht für sehr lange. Etwas, das ich in der dünnen Luft festhielt, oder in meinem Denken weiter nährte, weil das die Art war, ich mich im Universum zurechtfand, und ich anders nicht überleben konnte. Es war mehr als die Zugehörigkeit eines Tieres zu einem bestimmten Ort. Da war noch etwas anderes, der Geist, der sich an einer Konstellation von Ereignissen innerhalb der Zeit orientiert; ein Merkmal unserer Sterblichkeit.
Und so war ich endlich nach Hause gekommen, getrieben von einem Bild in meinem Kopf, nicht anders als die Feldmaus, die sich vor so langer Zeit in meinem Blumentopf eingegraben hatte, oder das Phantasma roter Erdnussschalen, mit dem die Tauben noch immer durch die Lüfte flogen. All das war Teil einer kaum fassbaren Welt, die nirgends war, und überall. Während der Bub auf dem Dreirad mir beharrlich auf den Fersen blieb, warf ich einen Blick auf die richtige Welt um mich herum.
Sie hatte keine Bedeutung, selbst wenn meine Füße den Weg kannten. Das Bild des Hauses und der Straße war in den sechzig Jahren in meinem Kopf weggefault. Doch der Baum, der Baum den es nicht gab, der schon in seinem ersten Jahr eingegangen war, dieser Baum blühte weiter, so unversehrt wie die Worte meines Vaters: „Wir werden hier einen Baum pflanzen, mein Sohn, und wir werden nicht mehr von hier wegziehen. Und wenn du ein alter, alter Mann bist, dann kannst du unter diesem Baum sitzen und daran denken, wie wir ihn zusammen eingepflanzt haben, du und ich.“
Inzwischen hatte ich den Bub auf dem Dreirad hinter mir gelassen.
„Sind Sie von
hier, Mister?“ rief er mir misstrauisch nach. Ich fasste nach einem luftigen
Nichts – genauer, nach dem Stamm eines riesigen Baumes. „Das bin ich“, sagte
ich. Ich sprach für mich, eine Feldmaus, und mehrere Tauben. Wir waren alle abgehängt
worden, und waren doch weiter da. Es war die Welt um uns herum, die sich
verändert hatte.
Der Text erschien 1956.
Übersetzt von Brigitte Helbling

Nachwort: Loren Eiseley, Naturforscher
Ein seltsamer Essay, diese „braunen Wespen“ von Loren Eiseley, einem großartigen Schriftsteller und Naturforscher, der vermutlich vergessen wäre – ich jedenfalls kannte ihn vor der Lektüre nicht – wenn es diesen Text nicht gäbe. In der von Joyce Carol Oates herausgegebenen Anthologie „The Best American Essays of the Century“ steht Eiseleys Essay gleich hinter James Baldwins „Notes of a Native Son“. Die Anordnung ist der Chronologie geschuldet: „Notes“ erschien 1955, die „Wespen“ 1956. Die beiden Essays lesen sich, als kämen sie aus zwei verschiedenen Zeitaltern. Tatsächlich kommen sie aus zwei verschiedenen Welten: Die „Wespen“ aus der Welt eines mittellosen, einsamen weißen Jungen aus jenem übersehenen Teil der USA, der mit der Wahl Donald Trumps wieder verstärkt ins Bewusstsein des Landes geraten ist[1], und „Notes“ aus dem urbanen Harlem in New York City, wo Baldwin als ältester Sohn eines paranoiden, verarmten, kinderreichen Predigers aufwuchs. Von Vätern, die ihren Söhnen nichts (oder wenig) geben konnten, handeln beide Texte. Baldwin war Anfang 30, als er sich die Wut über den Vater und die Gesellschaft vom Leib schrieb; Eiseley, 17 Jahre älter, scheint die Gesellschaft hinzunehmen, wie sie ist, den Vater zu nehmen, wie seine Liebe ihn erinnert, und richtet den Blick – als Naturforscher, der er war – auf die natürliche Welt um ihn herum. Mäuse und Wespen, Tauben und Nacktschnecken. Hier erwartet einer von der Menschenwelt nicht allzu viel. „Die braunen Wespen“ erzählt nicht weniger als der Text des jüngeren Schwarzen von Ohnmacht, vielleicht auch von Verzweiflung; aber der Essay tut es in der Auslassung, im Nicht-Erzählen von Menschendingen, und in diesen Leerstellen schwelen Wunden, die nicht davon ausgehen, dass einer – oder eine – von ihnen hören will.

Aufgewachsen während der großen Wirtschaftskrise der 1920er und 30er, als spätes Kind eines sanften Handlungsreisenden, der seine Stelle irgendwann verlor, und einer instabilen, gehörlosen, unberechenbaren Mutter, war Eiseley eine Zeitlang als Landstreicher unterwegs, als Hobo, der in leeren Viehwagons mitfuhr, bis er sich schließlich, mit einiger Überwindung, für den Weg entschied, der ihm immerhin offenstand: derjenigen des akademisch gebildeten Naturwissenschaftlers. Seine Lehrer waren Einzelgänger wie er, scharfsinnige, solitäre Beobachter, die ihr Wissen auf Reisen und im Leben mit der amerikanischen Urbevölkerung erworben hatten. Randständige; Eiseley sollte noch erleben, wie es auf diese Schauens auf die Welt, zumindest im Rahmen der Universitäten, nicht mehr ankam. All dies kann man nachlesen in seiner Autobiographie „All the Strange Hours“, die zumindest in ihrem ersten Teil, „Days of a Drifter“, der Kunst und dem Eigensinn des Essays, mit dem sich Eiseleys Schauen und Denken für die Nachwelt erhalten hat, in nichts nachsteht. „Hört zu, oder hört auch nicht zu, es spielt keine Rolle“, heißt es dort irgendwann. So spricht die Feldmaus, die Taube – oder die genießerisch schlürfende Nacktschnecke an jenen Ufern, die unsichtbar und unbeirrbar an die eitle Betriebsamkeit der Menschenwelt anbranden.
Brigitte Helbling
[1] „Hillbilly Elegy“ von J.D. Vance beschreibt diese Welt, die nicht (mehr) die Welt Loren Eiseleys ist, ihr aber in der Konstellation der Familienfiguren sehr gleicht, auf eindrückliche Weise.