Eleanor Rigby
13. November 2020: Während die Welt sich abmüht, der Familie Trump beizubringen, dass ihre Zeit im White House abläuft, vermeldet der US-Fernsehsender CNN, dass Peter Sutcliffe in einem britischen Hospital an Covid-19 gestorben sei. Man kannte ihn unter einem anderen Namen:
„Nicknamed the „Yorkshire Ripper“ by the UK press, Sutcliffe was convicted in 1981 for murdering 13 women and attempting to murder seven others during a reign of terror in northern England between 1975 and 1980. He was serving a whole life term.“ (CNN)
So hat denn ein jedes Ding seine Zeit und ist nun ein Serienmörder, der lange Jahre Aussehen erregt hat, ganz unspektakulär einem anderen zum Opfer gefallen.

Schon lange bevor David Peace den Fall Sutcliffe in seinem Red-Riding-Quartett aufgriff, hatte Patricia Highsmith sich damit befasst. Alf Mayer schickt mir dazu einen Link auf eine von ihr 1984 publizierte Rezension von Gordon Burns Buch „,Somebody’s Husband, Somebody’s Son‘: The Story of Peter Sutcliffe“ aus der London Review of Books. Die Highsmith spricht darin von einem „odd man, who spread 13 murders over six years, and fooled even those closest to him until almost the last moment“.
Als überführter Mörder hat dieser „odd man“ eine Aufmerksamkeit gefunden, die ihm normalerweise nie zuteil geworden wäre. So schreibt Highsmith: „A couple of girls in the pub-centred social circle and at least one young man decided to avoid Peter Sutcliffe, because ‘there was something odd about him,’ though they couldn’t say exactly what.“ Wieder ist da dieser sehr englische Ausdruck „odd“, was sich halbwegs mit „seltsam“ übersetzen lässt, doch im Englischen einen Abgrund eröffnet, dem vom komischen Typen bis zum Serienkiller reicht.
Für Kriminalromane sind solche „oddballs“ Optimalbesetzungen. Sie können als personifizierte Red Herrings vor allen Augen scheinbar falsche Fährten legen, und am Ende sind sie es dann doch gewesen. Ihre „oddness“ wirkt wie eine Schutzhülle, an der alle Verdächtigungen abgleiten, weil deren Träger damit oft geradezu posieren. Ein Mann, der dies meisterhaft verstand, ein britischer Rundfunk-DJ der ersten Stunde, Moderator von Top of the Pops und einer populären BBC-Jugendsendung hat Sutcliffe nach dessen Verurteilung widerholt im Broadmoor Hospital, einer psychiatrischen Anstalt, besucht. Was diesem Ritter des „Order of the British Empire“ möglich war, weil er ein hochgeehrter Fundraiser für solche Einrichtungen war und deren damaligen Leiter seinerzeit persönlich für seinen Posten empfohlen haben soll.
Dass und wie jener seltsame Mann, der Sutcliffe besuchte, erst posthum als Monster enttarnt wurde, ist eine andere und sehr lange Geschichte. Doch meist ist die Aufmerksamkeit, die der Tod eines irgendwie seltsamen Menschen weckt, ja sehr kurzlebig und oft so ziemlich die einzige Zuwendung, die er oder sie findet. „All the lonely people / Where do they all come from? / All the lonely people / Where do they all belong?“, sangen die Beatles, die Sutcliffes Besucher ebenfalls persönlich kannten.
Hier soll aber auch erwähnt werden was der Polizeiofficer Bob Bridgestock nach Sutcliffes Tod zu BBC 4 sagte: Er hoffe, dessen sein Ende wäre „some kind of closure to victims‘ families. The news today will bring back some very sad memories for a lot of them. And we should remember the victims, not the killer“.
Nun ist der Kriminalroman – vom Whodunit bis zu Hannibal Lector und dem talentierter Mr. Ripley – seiner Natur gemäß eher täterorientiert. Deshalb bleiben Ausnahmen umso besser im Gedächtnis. Etwa jener kleine Mann aus Raymond Chandlers „The Big Sleep“ der bei seinem erzwungenen Gifttod eine Größe beweist, die selbst den Berufszyniker Marlowe Respekt abnötigt. Sein letztes Wort angesichts des Schierlingsbechers lautet übrigens „Success“.
Während ich vor fast fünf Jahren einen längeren Beitrag für Crimemag schrieb und dann mit Alf Mayer über dessen Einrichtung korrespondierte, kam ich fast täglich am Reihenhaus eines Nachbarn meiner Eltern vorbei. Dessen Garten war – das fiel ins Auge – vernachlässigt, und halbherzige Versuche, etwas daran zu ändern, hatten keinen Erfolg gehabt. Davon zeugten zwei lange unbenutzte Rasenmäher. Ihr Besitzer war schon seit vielen Jahren längerem geschieden und alleinstehend; sein Sohn lebte im Ausland und suchte keinen Kontakt oder fand keinen mehr. Er selbst war eher ungesellig und galt als schwierig, doch im Grunde als anständiger Kerl.

Im Sommer saß er bis in den späten Abend auf seinem Sofa und sah unüberhörbar Fernsehen und das gerne bei offener Terassentür. Im jetzt nahenden Winter aber war die Tür verschlossen. Im Garten war es ruhig und im Hause still, und wenn etwas ins Auge fiel, dann waren es eben jene schon lange ungenutzten Rasenmäher. Hätte ich damals aber einen Blick unter die halb herabgelassenen Jalousien seines Wohnzimmers geworfen, so wäre einer anderen Nachbarin vielleicht der Schock ihres Lebens erspart geblieben.

Jener erwähnte Beitrag für Crimemag war der Wisting-Serie des Norwegers Jørn Lier Horst gewidmet (siehe: Labyrinthe der Einsamkeit, CM Nov 2015). Er begann mit einer Szene, in der deren Protagonist William Wisting in Fotos einer mumifizierten Männerleiche blättert, die wochenlang vor einem laufenden Fernseher gesessen hat, ohne dass die Nachbarn etwas von seinem Tod mitgekommen hatten. Das lag nun wiederum daran, dass sie auch an seinem Leben nicht teilgenommen hatten, denn er hatte als ungesellig gegolten, war auch so einer, den man in England vielleicht als oddball empfunden hätte. Und das nicht ohne Grund, denn er hatte sogar einige Zeit in der Psychiatrie verbracht, weil er von dem Gedanken erfasst worden war, dass ein alter Bekannter von ihm nicht mehr der sei, der er einmal war.
In Horsts Roman geht es hauptsächlich um einen amerikanischen Serienmörder, von dem man annimmt, er habe sich in Norwegen in eine fremde Existenz erschlichen, sei zum „Cave-man“ geworden, wie ein FBI-Agent es ausdrückt. So kam das Buch auch zu seinem Originaltitel „Hulemannen“. Mir erschien freilich das Bild vom Einsiedlerkrebs, der sich in einem Gehäuse einnistet, das ein anderer sich geschaffen hat, einleuchtender als das vom Höhlenmenschen, doch als Titel wäre es wahrscheinlich nicht zugkräftig genug.
Horst hat mit diesem Roman eine Art Kippfigur zwischen allgemeiner Lebenstragik (einsamer Tod eines einsamen Menschen) und Krimihandlung (feindselige bis mörderische Übernahme einer einsamen Existenz) geschaffen. Zwar neigen wir auch im nichtkriminellen Alltag dazu, den Tod zu personalisieren, aber nur einem Mörder lässt sich eine absichtsvolle Tötung nachweisen. Im Kriminalroman ist der Mörder der personifizierte Tod, und der Serienmörder ist dessen beste Personifizierung, weil der um des Tötens willen mordet. Er ist der ideale Sündenbock für unsere Vergänglichkeit, der Krimi um Krimi immer wieder stellvertretend zur Strecke gebracht wird. Doch während wir lesen und analysieren und das Gelesene und Analysierte am Ende gar selbst in Wort und Schrift verbreiten, sitzt hinter der herabhängenden Jalousie der tote Nachbar auf seinem Sofa, das für Lebende inzwischen unbrauchbar geworden ist.
Unbrauchbar auch erscheint sein Fall für den gewöhnlichen Kriminalroman, in dem es ja gerade um die nicht natürlichen Todesfälle geht. Doch in den besten Kriminalromanen, wozu ich Raymond Chandlers „The Big Sleep“ zähle, geht es, zumindest anfänglich, ja auch gar nicht um Tote, sondern um Vermisste wie den Schwiegersohn des alten Generals, der Philip Marlowe seinen eigentlichen, aber unausgesprochenen Auftrag lediglich „durch die Blume“ erteilt, nämlich durch die Zuschaustellung seiner hinfälligen und nun – ohne jenen mitreißenden irischen Schwerenöter selbst inmitten seines schwülen Treibhauses voller obszön wuchernder Pflanzen – kalt und einsam gewordene Existenz. Es ist eine eisige Welt, deren Einsamkeit mit jedem einsamen Tod wächst.

Nachdem ich einer Bekannten eine Kurzfassung der Geschichte um meinen Beitrag für Crimemag, den toten Mann im Krimi und den Toten auf seinem Sofa erzählt hatte, sagte sie, sie hätte erst unlängst etwas Ähnliches erlebt. Eines Tages hätten Feuerwehrleute vor der Wohnung ihrer Nachbarin im Erdgeschoss gestanden, und einem jungen Feuerwerker, der sich durch ein offenes Fenster hineingedrängt hatte, sei sichtlich übel gewesen. Offenbar habe auch ihre Nachbarin schon länger tot in ihrer Wohnung gelegen, bis jemand aufmerksam wurde.
Das Seltsamste aber habe sie erst später erfahren. An der Haustür nämlich sei ein Schild mit einem Männernamen gewesen. So habe sie ihre Nachbarin, die sie nie wirklich kennen gelernt hatte, immer für eine Witwe gehalten, die das Namensschild ihres verstorbenen Mannes behalten hätte. Es sei aber der Name ihres Vaters gewesen.
Es war also keine Witwe, sondern eine Waise, die da jahrzehntelang einsam in ihrer Erdgeschosswohnung gelebt und ebenso einsam gestorben war.
©Text und Bilder: Ulrich Baron
Seine Texte bei uns hier und in den Jahresrückblicken, siehe unter „Highlights“ oben in unserer Titelleiste.