Geschrieben am 30. Oktober 2013 von für Allgemein, Comic, Litmag

Vives/Ruppert und Mulot: Die große Odaliske

9783943143430Arthaus vs. Genre, wer gewinnt?

Was haben Olivier Assayas’ Film »Irma Veb« und der Comic »Die große Odaliske « von Vives/Ruppert & Mulot gemein? Auf den ersten Blick nicht allzu viel, aber in dem großartigen Film von 1996 über das Filmemachen, Genrefilme und Film-Buffs konnte man zum ersten Mal eine der grundsätzlichen Diskussionen des französischen Films der 90er Jahre greifen, die schon seit Jahren am Schwelen war und im Grunde bis heute anhält: der erbittert geführte Diskurs Arthaus Film vs. Genre. Von Hanspeter Ludwig

Im Film sah das dann so aus: Maggie Cheung, Action Darstellerin in zahlreichen Hongkong Ballerballets, soll in einer Neuverfilmung der Filmserie »Irma Veb« aus den 1910er Jahren die Oberböse spielen. Der Film ist ein Film im Film im Film, weshalb Maggie Cheung nicht nur Irma Veb spielt, sondern auch sich selbst, die Schauspielerin Maggie Cheung auf einem Selbsterfahrungstrip. Die Schlüsselszene, um die es hier geht, muss man sich folgendermaßen vorstellen: Cheung, die sich auf Anregung eines (reichlich durchgeknallten und seit Jahren komplett unproduktiven) Arthaus-Film Regisseurs, der im Film von Jean-Pierre Léaud gespielt wird, mehr in die Figur einfühlen lernen soll, sitzt, nachdem sie nachts in ihrem Hotel einen spontanen Juwelendiebstahl durchgezogen hat, morgens am Set vor einem reichlich nerdigen, und nicht weniger nervigen, jungen Film-Reporter, der sich sofort als Fan ihrer bisherigen Filme zu erkennen gibt und wenig Verständnis für Cheungs Ausflug in den Arthaus Film zeigt.

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Der Film-Buff stritt heißblütig und -köpfig für Actionfilme, verdammt die französische Filmwirtschaft als verkopft und verkalkt, während Cheung, die seit inzwischen gut 24 Stunden in ihrem Latex-Catsuit herumläuft, weil sie nach ihrem nächtlichen Einbruch keine Gelegenheit mehr hatte das Kostüm auszuziehen, einigermaßen verständnislos versucht, dem Reporter klar zu machen, dass es ihr um die Herausforderung geht, etwas Ernsthafteres als Gemetzelfilme zu machen. Die Szenerie könnte kaum surrealer sein.

„Nachdenkliches“ plakativ ausgeschlachtet

Die durch den Reporter repräsentierte Begeisterung der jungen Franzosen für fernöstliche Ballerdramen hat in den 90er Jahren zu einem Umschwenken bei Filmproduktionen geführt. Auf einmal wurden choreografierte Kampfszenen, die man bisher nur aus Hongkong-Filmen kannte, en vogue. Filme wie »Die Purpurnen Flüsse« oder »Pakt der Wölfe« griffen immer tiefer in die Trickkiste der fernöstlichen Fighterfilme, es entwickelte sich eine eigene Art »nachdenklicher« Genrefilm, bei dem der »nachdenkliche« Teil oft reichlich plakativ ausgeschlachtet wurde, um das Genre zu füttern, aber immerhin …

Solchen Tiefgang im Seichtgenre-Tümpel strebten auch die Macher von »Die große Odaliske« an. Leider haben sie sich genau von diesem Anspruch in die Irre führen lassen. Wobei der Band nicht einmal schlecht ist, wirklich nicht. Die Grafik fetzt, obwohl die teilweise wie hingewischt wirkenden Marker- oder Federstriche sehr sparsam sind. Die wunderbar eingesetzte Kolorierung von Isabelle Merlet schafft es, manche Leerstelle in den Illustrationen sinnvoll zu füllen. Was überhaupt nicht funktioniert ist die Story.

die-grosse-odaliskeEs geht um zwei Superkunsträuberinnen, Alex und Carole, die in einer »Mission Impossible« das Gemälde »Die große Odaliske« von Jean-Auguste-Dominique Ingres aus dem Louvre stehlen sollen. Den beiden wird bald klar, dass sie es unmöglich zu zweit schaffen können, einen solchen Bruch zu machen, also wird eine weitere Mitstreiterin gesucht und gefunden: Sam, die schachspielende Stuntmotorradfahrerin, die außerdem noch Boxchampion ist! Spätestens jetzt ist der Genremix offensichtlich: »Mission Impossible« trifft auf »Oceans 11–13«, in das sich »Lara Croft« eingeschlichen hat. Hätten die Autoren den Comic jetzt in genau dieser Richtung weitergeführt, hätten wir zwar so etwas wie einen weiteren europäischen Superheldencomic bekommen, aber auch einen, der ganz ordentlich unterhalten kann. Nur hat den Autoren das Genre noch nicht gereicht, sie wollten das ganz sublime Gefühlskino inklusive Träne im Knopfloch. Der Versuch ist gründlich daneben gegangen!

Nicht nur, dass sich in dem Moment, in dem Sam, die Stunt-Box-Schach-Motorrad-Spezialistin, auf den Plan tritt, das tragische Ende der Story mit Pauken, Trompeten und den Berliner Philharmonikern bereits ankündigt – und das nach gerade mal einem Drittel des Bandes. Der Plot strotzt nur so von absurden Übertreibungen, so dass man sich bald fragt, warum die Mädels nicht gleich mit Superkräften ausgestattet worden sind. Das schöne an Genrefilmen wie »Oceans 11–13« ist ja gerade, dass die Tricks und Stunts immer noch gerade so vorstellbar sind. Selbst die meisten Tricks, die CIA-Agent Hunt in »Mission Impossible« zeigt, haben irgendwo eine halbwegs realistisch anmutende Erklärung oder sind zumindest theoretisch denkbar.

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Um Coolness bemüht

In »Die große Odaliske« sind die Tricks so »drüber hinaus«, dass es irgendwann nur noch albern wirkt. Wenn die drei Heldinnen z.B. während der Achterbahnfahrt durch einen Looping aus ihren Sitzen springen, sich dabei gepflegt unterhalten und am Ende des Loops wieder in ihnen landen, dann passt das sicher gut zu Zeichentrickfilmen aus der Roadrunner-Reihe oder eben zu Spider-Man und Freunden. Hier aber wirkt das Szenario arg um Coolness bemüht. Auch putzig, wie der Waffenlieferant mit dem knackigen Arsch aus der Hand von mexikanischen Narcos befreit wird. Da fahren drei Gringas nach Mexiko um ihren Freund, den Waffenhändler, der die Narcos beschissen hat, aus der Gefangenschaft zu befreien. Wozu in aller Welt würde ein Kartell-Boss einen Gefangenen mit auf seine Privatwohnsitz nehmen? Was will er damit erreichen: Hofft er auf gepflegte Unterhaltung mit einem Franzosen? Jedenfalls wird die Privatarmee des Drogenbosses durch unser Mädelstrio ausgelöscht und der – putzmuntere – Gefangene mit dem Knackarsch (das hatten wir schon, ich weiß, aber es wird auch im Comic oft genug erwähnt) erfolgreich befreit. Dass die mexikanischen Kartelle zu den menschenfeindlichsten Terrortruppen dieser Welt gehören, die den Ruf haben erst zu schießen, dann zu foltern und dann zu fragen, muss an den Autoren von »Die große Odaliske« komplett vorbeigegangen sein.

Großes Interesse an Realismus hatten die Autoren offensichtlich nicht. Daran krankt die Story, denn einerseits bestehen die Zeichnungen auf Realismus, pflegen eine Ästhetik, die aus Extremsport-Dokus bekannt ist, andererseits wirken die Episoden derart undurchdacht, dass man sich irgendwann fragt, warum nach all dem Klamauk und praktisch unmöglichen Situationen, die die Heldinnen durchstanden haben, das Ende unbedingt tragisch sein muss. Der Versuch durch diesen Kniff wieder Realismus in die Story zu bringen, der vorher praktisch keine Bedeutung hatte, führt die gesamte Entwicklung bis dahin ad absurdum. Wer es schafft, eine Horde bis an die Zähne bewaffneter, extrem gewaltbereiter Narcos niederzumetzeln, wird sich doch von den paar Bleispritzern irgendwelcher vergleichsweise zivilisiert agierender SEKs keine Bleivergiftung holen.

Steif und unglaubwürdig

Olivier Assayas hat den Widerspruch zwischen Action/Genrekino und Arthaus in »Irma Veb« nicht lösen können und vermutlich auch nicht wollen, er entschied sich für’s Arthaus-Kino, was durch den Schluss des Filmes überdeutlich wird – eine großartige Bildmontage, künstlerisch hochwertig, aber komplett ohne Handlung und Inhalt. Dieser Entscheidung wollten sich die Autoren von »Die große Odaliske« wohl nicht stellen, und das ist ihr Fehler. Die tiefschürfenden, gefühligen Szenen rühren nicht an und werden allzu oft von schnoddrigen Sprüchen und Actionszenen konterkariert. Mimik oder Gestik der Figuren bleiben steif und unglaubwürdig. Wie soll man sich als Leser in eine Schaufensterfigur einfühlen? Als reiner Action-Comic wiederum lenkt das Gefühlsgekotter nur ab, aber selbst als solcher funktioniert er nicht, weil es eben eher ein Superheldencomic ohne Spandex-Kostüme ist, als ein Thriller.

schaufensterpuppe_weiblich__diana__female_mannequin-1Bastien Vivès, von dem bisher eher nachdenkliche Werke bei Reprodukt erschienen sind (»In meinen Augen«, »Polina«), hat oft genug bewiesen, dass er ein guter Erzähler ist, der auch feine Gefühle ohne Worte darzustellen vermag. So dürfte der Anteil an absurden Ideen und Übertreibungen vor allem auf das Konto von Florent Ruppert und Jerome Mulot gehen, die mit »Affentheater« (ebenfalls Reprodukt) ihren skurrilen Humor schon ausgiebig bewiesen haben.

Die Autoren hätte aus dem Comic zwei gut funktionierende Geschichten machen können: Einen Actionknaller mit Happy End (oder meinetwegen auch einen mit tragischem Ende – dann aber bitte glaubhafter aufgebaut) und eine tragische Liebesgeschichte.

Vielleicht würde »Die große Odaliske« sogar funktioniert, wenn den Charakteren mehr Platz für die persönliche Entwicklung gelassen worden wäre, oder die Hinter-, bzw. Abgründe der Protagonisten und Nebenfiguren deutlicher herausgearbeitet worden wären. So aber liest man ihn schnell weg, lacht auch gern mal über einige Einfälle, stellt den Comic dann aber ins Regal, wo er vermutlich erst beim nächsten Umzug wieder herausgeholt wird – aber kein zweites Mal, um gelesen zu werden.

Hanspeter Ludwig

Text, und Zeichnung: Vives/Ruppert und Mulot. »Die große Odaliske«, Juni 2013. Übersetzt von Mireille Onon, Herstellung Minou Zaribaf. Reprodukt, Berlin 2013. 122 Seiten. 20,00 Euro.

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