Geschrieben am 15. August 2018 von für Crimemag, CrimeMag August 2018

2 x Christian Y. Schmidt: Der letzte Huelsenbeck

U1_978-3-7371-0024-3.inddEin Buch – Zwei Stimmen

Karsten Herrmann und Alf Mayer über Christian Y. Schmidts „Der letzte Huelsenbeck“

Dada-Screwball

Von Karsten Herrmann

Nach diversen satirischen und politischen Büchern legt der langjährige Titanic-Redakteur und als freier Journalist für FAZ, SZ, ZEIT und andere Medien schreibende Christian Y. Schmidt mit „Der letzte Huelsenbeck“ nun sein Roman-Debut vor – und zeigt einen hohen Amplitudenausschlag nach oben und nach unten.

Schmidts Protagonist und Ich-Erzähler Daniel kommt nach vielen Jahren in Ostasien in seine westfälische Heimatstadt zurück, um seinen alten Freund Victor zu begraben. Zusammen mit Victor, Ronny, Ben und Michi hatte er zu Jugendzeiten nach einem Erweckungserlebnis durch Karl Rihas legendären gelben Reclam-Dada-Band „Die Huelsenbecks“ gegründet. Wie die damaligen Dadaisten ging es ihnen darum, die Welt der Spießer und Arrivierten durch Leben und Kunst zu provozieren: „Wir müssen es besser machen als diese Wichser“ war in der Nachfolge der unbedingte Anspruch der Huelsenbecks. Der alte Dada-Funke bricht auf Victors Beerdigung wieder hervor und die Trauerfeier endet in einer rüden Prügelei und setzt eine Kette von Ereignissen in Gang, an dessen Ende „ich tot daliegen würde“.

Nach einem Steinwurf erwacht Daniel allerdings zunächst noch einigermaßen lebendig in einem Krankenhaus und macht sich in der Folge in Berlin und Umgebung daran, seine alten Freunde wieder zu kontaktieren und die glorreiche Vergangenheit der Huelsenbecks, die in einer langen Amerikafahrt gipfelte, zu rekonstruieren. Doch in der Vergangenheit tun sich Leerstellen und widersprüchliche Erinnerungen auf und langsam kristallisiert sich ein düsteres Geheimnis um ein verschwundenes Mädchen heraus. Daniel, der mit Realitätsverschiebungen und Flashbacks zu kämpfen hat,  fühlt sich nun auch zunehmend verfolgt und bedroht. Nicht zuletzt hat das aber ganz offensichtlich auch etwas mit seinem exzessiven Kiffen –  „Ohne zu kiffen, halte ich es schlecht in Gesellschaft aus“ -, seinem immer exzessiveren Alkoholmissbrauch und einem immer unkontrollierteren Einwurf von Psychopharmaka und Speed zu tun. Und so schlittert er in eine ausgewachsene Psychose.

Christian Y. Schmidt erweist sich auf den ersten 70 – 80 Seiten dieses Romans als mitreißender Erzähler und gemäß seiner Titanicer-Vergangenheit als Meister des schwarz-morbiden Humors und Sarkasmus. So verteilt der alte 70er Jahre-Aktivist Daniel herrliche Spitzen gegen die neue Hipster-Generation der Kreativen und Medienschaffenden oder nimmt sich im Gespräch mit seinem Psychiater und seinen Therapieansätzen auf wunderbare Weise selbst aufs Korn.

Doch mit dem Fortschreiten des 400-Seiten-Roman überspannt Schmidt den Bogen und katapultiert seinen Roman in einen doch reichlich beliebigen Kosmos des Slapsticks und Nonsense. Auch wenn die Handlung noch von dem in der Vergangenheit lauerndem Geheimnis vorangetrieben wird und Schmidt schelmisch mit den Interdependenzen zwischen Erinnerung und Einbildung spielt, erschlafft das Leseinteresse doch zunehmend. Die einigermaßen originelle Auflösung des Ganzen zum Schluss vermag den Roman dann auch nicht mehr zu retten.

U1_978-3-7371-0024-3.inddKarsten Herrmann

Christian Y. Schmidt: Der letzte Huelsenbeck. Rowohl Berlin, Berlin 2018. 400 S., 22 Euro.

Die perfekte Endlosschleife

Von Alf Mayer

Immer noch, wenn ich an das Buch denke, spüre ich, wie mir unwillkürlich ein Lächeln aufzieht, sich mein Kopf ein wenig auf die Seite legt, weil sie noch da ist, die Erinnerung an das Aha-Erlebnis – aha, so also fühlt eine Moebiusschleife sich an – und ich nicht anders kann, als mich zu freuen an der perfekten Kurve, durch die das Buch mich an seinem Ende trug und ich sofort wieder vorne hätte einsteigen können, um eine neue Runde zu drehen, dieses Mal wahrscheinlich andere Stellen und Kapitel besser und anderes weniger wahrnehmend, und immer noch dieses Rund und diese Eleganz, und dieses Alles und Nichts, und wieder Nichts und Alles, on and on. „I could be President of General Motors baby, heh, Or just a tiny little grain of sand“ (Blood, Sweat and Tears, 1968, I Love You More Than You’ll Ever Know).

Meine Notizen habe ich eine ganze Weile liegengelassen, hatte Christian Y. Schmidt bei der zweiten Lesung seines Romanerstlings erlebt, in Frankfurt-Bornheim im „Henscheid“. Ein heiligerer Ort ist für Titanicer und Pardonisten kaum vorstellbar (vernünftiger Appelwoi dort übrigens und solide Hausmannsküche). Zuerst gab es Musik. Wie sein Held Daniel S. ist Christian Y. Schmidt ein großer iPod-Jongleur. Er klickte „What Goes On“ von Velvet Underground an, die Liveaufnahme von 1969, und sagte: „Hundertmal hören, dann braucht man das Buch nicht lesen. In dem Lied ist das ganze Buch drin.“ Lou Reed singt:

What goes on in your mind?
I think that I am falling down
What goes on in your mind?
I think that I am upside down
Baby, be good, do what you should
You know it will work alright …

Dann, weil es ja sozusagen sein Hauslokal war, auch wenn er längst in Peking wohnt und wie sein Held ein Zimmer in Berlin hat, gab er drei Themen vor. Die Abstimmung übrigens, wie lange es wohl brauchen werde, bis sein Buch verstanden würde, brachte als Mittelwert: zwanzig Jahre.

Thema 1: Die Siebziger Jahre. „Das beste Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts. Esoteriker, Maoisten, viele verschiedene Szenen, trotzdem hat man miteinander geredet.“ Auf S. 241/42 staunt sein Held anhand der Musik vom Sommer 1978:

„.. über die Bandbreite der Stilrichtungen, die damals in den Hitparaden vertreten waren: Von Disco über klassischen Rock, Glitter, Bubblegum und Funk bis hin zum gerade aufkommenden Punk war alles vorhanden. Elvis Presley stand neben Sham 69, Bob Dylan neben Suzi Quatro, X-Ray Spex neben Barry Manilow. Ich glaube, nie wieder in der gesamten Pop-Musikgeschichte hatte so viel Disparates in den Charts koexistiert wie in diesem Monat. Und dann gab es noch ein paar Titel, die für mich so aus der Menge der Titel herausstachen, als wären sie mit Flammenschrift geschrieben: «Who Are You» von den Who, der auf Platz 20 der britischen Charts stand, dann auf Platz 26 «From East To West» von einer Band namens Voyage. Gleichzeitig schaffte es «Miss You» von den Rolling Stones in derselben Woche, in der wir in den USA gelandet waren, erstmals auf Platz 1 der Billboard-Charts. (…) … Diese Songs, Daniel, haben mit dir zu tun. Mit dir, den Huelsenbecks und dem unbekannten Mädchen.“  

An mehreren anderen Stellen werden Koinzidenzen und Zahlenmystik zu schwindelerregenden Konstrukten dadaistischer Ausmaße getürmt. Lustig zum Beispiel die Stelle mit dem DDR-Astronauten Sigmund Jähn (Seite 316).

Zweites Thema: Das Erinnern. „Alles, was wir erzählen, ist zusammengelogen. Alles ist ein Abziehbild.“ Oder eben solch Weltverwirrnisplan, kurz WIRRPLA, wie dieses geschliffen runde Buch, in dem man sich verlieren kann.

Drittes Thema: Die Identität. „Wenn die Erinnerungen falsch sind, wer sind wir dann?“ In Frankfurt zitiert man an solch einer Stelle Adorno: „Bei manchen ist es schon eine Frechheit, wenn sie Ich sagen.“ Du Jammerlappen, schreit der Held sich einmal selbst in seinem Hotelbett liegend aus der Vergangenheit zu. „Warum reißt du dich nicht einfach zusammen.“

Noch’n Thema: Berlin, von Bielefeld zu schweigen. In einem irrwitzigen Kopfstand verlegt der Erzähler die Stationen einer zu rekonstruieren mysteriösen USA-Reise an Berliner U-Bahnstationen, Schmidt saß dazu etliche Tage in der U 7, der längsten Strecke in Berlin. So wie er auch den Adressen tatsächlicher Dadaisten vom Landwehrkanal bis Steglitz folgt und dazu an vielen Straßenecken aus der Großstadtrealität Funken schlägt.

Noch’n Thema: Der Tod. „Wenn es kein Ich gibt, ist der Tod nicht schlimm.“ Der Erzähler ist vermutlich tot, wie in manchem Film Noir erzählt er rückwärts auf sein Ableben zu. Es gibt eine Psychiater-Praxis voller David Lynch-Plakate, während Schmidt den Roman schrieb, sah er das neue „Twin Peaks“ von Lynch & Mark Frost, von dem er immer noch schwärmt und mit dem er sich Duelle liefert: „Alles, was eine Serie ausmacht, wird dort in den Wind geschlagen.“ Die Methode Cooper werde ich nicht so schnell vergessen (Seite 237).
Das Buch ist August Strindberg, David Lynch und Stanley Kubrick gewidmet. „Plädoyer eines Wahnsinnigen“, das wollte er auch, ebenso „Das Irrlicht“ von Louis Malle und „Die Bibel“, vier Jahre hat er an seinem Roman geschrieben. Eigentlich sollte er düster werden. Aber so ist das, wenn man sich die menschliche Existenz näher anschaut. Und weiß: Der Mensch ist das, was er zu sein glaubt.

Als Zugabe zwei Links zu zwei selten schönen Rezensionen. Dietmar Dath nennt das Buch einen „herzverheerend schönen Verwirrroman“. Georg Seeßlen („Sie tragen Karo“) liest das Buch „als Kriminalroman, als Groteske, als Zeitbild, als Verschwörungsthriller, als Autobiografie (oder als Parodie darauf), als Kunst-Installation, als Essay über Vergangenheit und Erinnerung, als Hommage an den Dadaismus der Zeit zwischen den Kriegen und nicht zuletzt auch als Abenteuerreise in einen aus verschiedenen Gründen reichlich verwilderten Kopf“. 

Alf Mayer

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