Geschrieben am 14. April 2018 von für Crimemag, CrimeMag April 2018

2 x Gewalt & Frauen: Ute Cohen über „Peach“ und „Nichts, was uns passiert“

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Perverse Power

Ute Cohen über das Thema „sexuelle Gewalt“ und Thriller.

Als ihr Roman „Satans Spielfeld“ mit einem mißbrauchten zwölfjährigen Mädchen im Mittelpunkt im Februar 2017 erschien – also vor gar nicht langer Zeit -, blieb es recht still im Literaturbetrieb (CrimeMag-Besprechung hier). Mittlerweile hat das diffizile Thema „Missbrauch“ im Zuge der #metoo-Debatte an medialer Aufmerksamkeit gewonnen, mit ihm auch die literarische Bearbeitung. Rezensenten stürzen sich auf jede nur verfügbare Neuerscheinung. Ute Cohen hat sich für uns mit zwei prototypischen Veröffentlichungen beschäftigt: mit Bettina Wilperts Nichts, was uns passiert und Peach von Emma Glass. Ihre Besprechung hier.

51k8CJ++SRL._SX319_BO1,204,203,200_Das Mädchengesicht ist bleich, die Bewegungen zombiehaft. Kettensägen-Massaker. Gelbliche Scheiße in offenen Wunden. Die frischen, blutenden Schlitze quellen auf wie rosarote Luftballons. Milliarden von Bakterien kriechen durch die verängstigten Blutbahnen. Stinkender Eiter quillt aus allen Öffnungen. Die Sepsis wütet und mordet den wehrlosen Körper. Schwarze, krustige, aufgeblähte Haut löst sich ab, Mikroben zerfressen die inneren Organe. Asche zu Asche. Staub zu Staub. The shrieking of nothing is killing. Den Kopf des Zweiten steckt sie in die dreckige, verstopfte Kloschüssel, in der sich Pisse und Scheiße stauen. „Durst hast du also? Ja? Dann trink? Trink, hab ich gesagt!“ Immer wieder zieht sie ihn am Schopfe aus der stinkenden Brühe, schreit ihm ins Ohr, taucht ihn wieder in die Schüssel, bis Urin und Fäkalien seine Luftröhre füllen. An seiner eigenen Scheiße, an der Scheiße seiner Opfer und Mittäter soll er ersticken! Wie einen nassen Sack lässt sie ihn leblos liegen.

i-spit-on-your-grave-old-gd posterRape & Revenge versus Diskursagonie

Die Tötungsarten in „I spit on your grave“ sind ein Sammelsurium aus menschlichen Urängsten, Schrebergärtner-Satire und prometheisch-mafiösem Mythos. Kein Wunder, dass der Film keine Jugendfreigabe erhielt und das Augsburger Amtsgericht sich 2012 bemüßigt fühlte, die Uncut-Fassung zu beschlagnahmen. Die Filmkritik strafte den Streifen allein aufgrund seines Sujets mit Missachtung. An Gewaltexzessen und Lynchjustiz will sich unsere diskursgeschulte Peace and Love-Intelligenzija nicht die Finger beflecken. Anstatt sich mit Zelluloid gewordenen Rachephantasien auseinanderzusetzen, suhlt man sich in der Agonie des widerspenstig zappelnden Poststrukturalismus.

Was sich auf dem Bildschirm abspielt, ist gepixelte Wirklichkeit. Wer Rachefantasien leugnet und als Ausgeburten kranker Hirne disqualifiziert, ist verlogen, vom Irrglauben an die Totalrationalisierung einer gewaltdurchseuchten Realität verblendet. Während die Filmbranche bereits in den 70er-Jahren den Grundstein zu den sogenannten „Rape & Revenge“- Filmen (siehe auch „I spit on your grave“, 1978) schuf, erschöpft sich die Auseinandersetzung mit sexueller Gewalt zumindest von deutschen Autoren in der Debatte, obwohl selbst der öffentliche Raum vorwiegend anderen Akteuren, in erster Linie Schauspielern überlassen wird. Warum dieses Schweigen? Warum diese Diskursagonie? Ist es die Angst vor Urinstinkten, die Furcht vor der Katharsis? Die Angst, dass die reinigende Kraft zu einer Abtötung des ewig mäandernden Diskurses führen könnte?

Schemata und Selbstzensur

Der Rahmen, in dem Gewalt, Hass und Rache in Deutschland diskutiert werden ist eng gesteckt: Zwischen Carolin Emckes öffentlichem, kontroversem Diskurs („Wer behauptet, aus politischen Motiven heraus zu töten, (…) der muss den begangenen Mord auch öffentlich erklären (…). Worin sonst sollte der politische Charakter des Tötens bestehen?“, Zeit Online, 6.9. 2007) und Maxim Billers „Hundert Zeilen Hass“ („Sie Leser, Sie Meinungsnichts.“, 11/91) bewegt sich das intellektuell Akzeptable. Der Rest wird marginalisiert und wahlweise mit den Labeln „rechts“, „neoliberal“ oder „sexistisch“ versehen. Literatur aber sollte sich nicht in Schemata zwängen lassen. Die Selbstzensur, die neurotische Befolgung diskursiver Schemata führt zu Stagnation, Starre und entsetzlicher, grausamer Langeweile.

41bPeAbEUPL._SX343_BO1,204,203,200_Bettina Wilpert – akademische Trockenübung und blutleeres Konstrukt

Das Grauen der Langeweile schlägt uns auch in Bettina Wilperts „Nichts, was uns geschah“ entgegen. Das hehre Ansinnen, sexuelle Gewalt aus politischer Perspektive zum Thema zu machen, scheitert. Der Roman ist eine akademische Trockenübung, die fast schon zynisch wirkt. Das Sujet „strukturelle Gewalt“ wird abgehandelt auf formaler Ebene. Ein Essay zum Thema „Polyphonie in der #metoo-Debatte“ wäre aufschlussreicher gewesen als dieses blutleere Konstrukt, das sich im besten Falle noch als psychologische Versuchsanordnung oder eine Studie zur Hirnforschung über das Erinnern eignet. Eine eindeutige Repräsentation eines Geschehens gibt es nicht. Unsere Erinnerung ist vielmehr eine Reaktivierung von Fragmenten, die wir zu einem Mosaik zusammenfügen. Wie oder gar ob etwas geschehen ist, zeigt sich in der Art und Weise unseres Erinnerns. Genau darum geht es, wenn ein Richter die „Wahrheit“ herausfinden soll. Es muss ein Gefüge, ein Sachverhalt, erkundet werden, der unter den Tatbestand eines Rechtssatzes subsumiert werden kann. Dass dabei auch gesellschaftlicher Wandel und Sprachwandel eine Rolle spielen, macht dieses schwierige Unterfangen nicht leichter. Der Gewaltbegriff im Strafrecht ist jahrzehntelang thematisiert und schließlich aus dem §177 StGB gestrichen worden. Wie schwierig sich die Suche nach Wahrheit gestaltet, zeigt sich immerhin in Wilperts Roman. Die widerstreitenden, sich überlagernden Stimmen könnten nachhallen oder im schallisolierten Raum verklingen, ließe, ja ließe, die Autorin eine objektive Bewertung zu. Zu Beginn glaubt der Leser, Meinungsfreiheit zu besitzen und neutral in einen diffizilen Sachverhalt eingeführt zu werden. Die Ich-Erzählerin tritt als Interviewerin auf, die den von Anna gegen Jonas vorgebrachten Vorwurf der Vergewaltigung zu eruieren versucht. Dass Wilpert nicht an die Reflexe ihrer Leser appelliert, ist lobenswert. Beide Hauptfiguren bewegen sich in einem Milieu, das man, grob gefasst, als links bezeichnen könnte. Es ist also nicht der böse kapitalistische Unternehmer, der das Arbeiterkind vergewaltigt (auch das soll es geben), sondern ein Doktorand, der sich, so die Anschuldigung, an einer Studentin vergeht; beide Geisteswissenschaftler, literarisch und politisch bewegt. Allerdings scheint sich der einst zwischen rechts und links klaffende Spalt inzwischen auch durch das „linke“ Milieu zu ziehen. Wobei sich die Kluft durch ein winziges Leipziger Connewitz zieht, mit behaupteten Ausmaßen, die eher an RAF-BRD-Sprengstoff erinnern als an Divergenzen im Linksspektrum. Hey, cool down, möchte man da schreien! Lass die Kirche mal im Dorf: Von einem nach ihr geworfenen Handtuch lässt sich nicht einmal Alice im Wunderland verschrecken. Verengt mal euren Blickwinkel nicht auf das doch allseits privilegierte, bei Wilpert im Übrigen ziemlich alkoholisierte, Studidasein. Vergeblich sicherlich, denn die Agenda steht. Schnell wird klar, dass Wilpert Sympathiepunkte für die russischstämmige Anna aus einfachen Verhältnissen einheimsen will, während Jonas als das Mittelstandssöhnchen entlarvt wird, das sich a bisserl salonsozialistisch geriert. Die vermeintlich dokumentarische, unvoreingenommene Darstellung entpuppt sich schnell als eine Manipulation, deren Ziel die Glaubwürdigkeitsbestärkung Annas und die Bloßstellung patriarchaler Gewaltstrukturen ist. Bestätigt wird dieser Eindruck durch das Ende. Wie mag die Sache wohl ausgehen? Wilperts Buch ist sicher aus dem solidarischen Impuls heraus entstanden, einen literarischen Beitrag zu einem brenzligen gesellschaftlich relevanten Thema zu leisten. Leider wirkt es wie ein Manifest der patriarchalen Gewalt, geschrieben für eine Klientel, die in der Verbalisierung bereits den großen Aufschrei zu erkennen glaubt. Verbalisiert wird in der Tat nahezu alles, was in der #metoo-Debatte aufs Tapet kam: Mansplaining („normalerweise hasste sie es, wenn Typen sie unterbrachen und ihr etwas erklärten“), Gendern, Fremdscham, Filmriss, Gewalt („was eine Vergewaltigung so schlimm macht: nicht unbedingt die Gewalt selbst. Sondern die Gewalt, die sich über die körperliche Selbstbestimmung hinwegsetzt.“) und natürlich der Opferbegriff. Missy Magazin reloaded. Allerdings verwehrt sich Anna gegen den Begriff der „Erlebenden“. Sie hadert mit sich selbst: „Opfer kommt von opfern. Sie hat Jonas nichts geopfert …Vielleicht war sie doch ein Opfer?“.

Die Frage soll sich wohl auch der Leser stellen. Zur Untermauerung von Annas Sicht zieht die Autorin jedoch vor allem Angelesenes heran. Anna hört Peaches’ „Fuck the pain away“ und schleppt dann zahlreiche Typen ab, um ihren Körper wieder spüren zu können. Die Gefühl der Wertlosigkeit des Körpers, das Zurverfügungstellen ist tatsächlich ein häufiges Phänomen bei Vergewaltigungen. Nicht selten machen Opfer weitere Gewalterfahrungen, allerdings ficken sie nicht, um sich selbst zu spüren, sondern um sich zu bestrafen. Psychologisch unglaubwürdig wirkt auch die Zählszene:

„Sie konnte sich nicht wehren. Sie gab auf. Versuchte, sich zu entspannen. Dann tat es weniger weh. Fing an zu zählen. Seitdem wusste sie, dass 1380 Sekunden 23 Minuten sind.“

Aha! Dreimal tief durchatmen und bis 100 zählen! Danke! Neurotisches Zählen hingegen kommt vor, glaubwürdig beschrieben in Pola Kinskis „Kindermund“. Kästchenzählen, x-mal bekreuzigen ganz ohne Entspannungseffekt. Nüchtern noch dazu. Hackedicht bis 1380 zählen?

Da hilft auch die Auflistung der zahlreichen beim Schreiben konsultierten Spezialisten nichts. Das „Argumentum ad auctoritatem“ wirkt immer ein wenig verzweifelt, in diesem Falle soll es jedoch die mangelnde Glaubwürdigkeit der Charaktere wettmachen.

So ist auch dieses Buch wieder einmal ein Zurückweichen vor dem wahrlich Schmerzhaften, ein formales Experiment, das man im Rahmen einer keimenden „Rape-Literature“ gelten lassen sollte. Das Sujet nun aber den Anklägerinnen einer Rape-Culture zu überlassen, hieße kapitulieren vor dem Notwendigen: Eine Sprache zu finden für den Schmerz, das Zerstörerische sexueller Gewalt, das Zerbrechen eines Individuums – unabhängig von der politischen Ausrichtung.

512-rGQRGpL._SX299_BO1,204,203,200_Emma Glass – Poesie der Gewalt und „semantische Wildsaat“

Emma Glass tut das. Emma Glass gelingt das. Emma Glass’ „Peach“ ist ein Roman, der eine Sprache findet für das Unsagbare. Im Vergleich zu neudeutscher Prüderie und politisch korrektem Overkill schert sich Emma Glass nicht um Debatten. Sie kriecht hinein ins Innere ihrer Peach, quillt auf mit ihr, reißt die Augen auf, verzerrt die Wirklichkeit, transformiert sie in einen surrealen Film der Gewalt. Glass’ Roman schmettert den Leser nieder, kotzt dem Leser das ganze Elend einer Vergewaltigung vor die Füße – und beglückt zugleich. Glass findet eine unglaublich poetische Sprache für Gewalt und das, was Gewalt mit Opfern macht. Sie braucht dafür keinen ideologischen Überbau, sondern lediglich die ungleich seltenere Fähigkeit zur Einfühlung und herausragendes literarisches Talent. Sie sät eine „semantische Wildsaat“, die Blüten treibt, in den Augen gestrenger deutscher Lektorinnen vielleicht auch Stilblüten, für Leser ohne Scheuklappen jedoch Wundersames, Liebliches und Erschütterndes. Emma Glass wagt sich an die „Poesie der Gewalt“, die sich darin offenbart, dass unerträglicher Schmerz nach einem sensorischen und verbalen Ausbruch verlangt. Die Flucht eines Opfers in Bildwelten ist hinlänglich konstatiert worden, literarisch beschrieben bisher aber kaum. Der erste Satz mag irritieren, Erinnerungen an sterile Sprachübungen in literarischen Labors wecken: „Plump klebt klebrig nasse Wolle. Klebt. Windet sich um Wunden, schließt Schnitt um schnitt mit jedem Tritt“. Was soll das? Reime? Dadaistische Exerzitien? Nein, es ist ein gnadenlos gelungener Ausdruck für sexuelle Gewalt gegenüber einem jungen Wesen. Glass erfindet eine Sprache, die das mechanisch-stakkatohaft sich Wiederholende in der Erinnerung eines Gewaltopfers auszudrücken vermag, eine Sprache, die das Verrücktwerden, das Unwirkliche ausdrückt, eine Sprache, die in ihren märchenhaften Anklängen das Heilsame von Bildern und Worten verkörpert:

„Die Worte entkommen, tropfen benommen.“ Betäubt wird auch der Leser. Er torkelt und wankt, schwankt in der eigenen Wahrnehmung. „Denn Zäune zäunen, zähmen nicht den der eh durch alle Barrikaden bricht.“ Er verliert die Orientierung, irrt in Zeit und Zahl: „So bleibe ich und versuche bis Hundertzwanzig zu zählen, verzähle mich bei achtzig, also bleibe ich einfach so, bis ich das Gefühl habe, dass mein Kopf einfach abfallen wird.“

Der Leser bleibt, taumelt im Bilderrausch, ist gebannt von dieser halluzinatorischen Bilderwelt, folgt Peach, die sich mit einem Bindfaden die Wunde selbst vernäht, von Bild zu Bild, Wort zu Wort und Tat zu Tat. Glass beschreibt die Wundstarre, das Beben, den Hass, die mörderische Wut ihrer Peach. Ohne Scheu vor Kitsch, vor Abgedroschenem, Schrägem, Schiefen. Es ist das Eigene, das sie sucht und findet: „Dieser sämige, atemnehmende Würgschleim ist das Exkrement des Teufels.“  Die „perverse Power“ des Täters und die Ohnmacht des Opfers – „Silbergeister schweben schweigend.“ Die Alliterationen durchziehen das Buch wie der stinkende Fettfilm des Übeltäters, widerlich und passend. Sabine Krey, die Übersetzerin, verdient einen Preis für ihre außergewöhnliche Leistung. Sie begreift den Kern des Buches, „dass bestimmte Wunden nie, wirklich niemals verheilen werden, egal wie spektakulär die Strafe sein mag, die den Gewalttäter zwischenzeitlich ereilt.“ Krey versteht, dass dieses „Nie“ nie ganz versprachlicht werden kann, dass es Raum für Deutungen, für Reibungen, Abscheu, Ekel und Faszination braucht.

„Zorn ist hungrig.“ – Glass füttert uns, zeigt uns die Verletzlichkeit eines beschädigten Kindes mit einer märchenhaften Sprache, poetisch-hüpfend, bis das Gummiband reißt, und sich ein neues grausames Bild auftut: das Bild der Rache, das Bild des „Rape & Revenge“ mit hoffnungslosem Straucheln und Selbstopferung.

Wer es wagt, Boris Vians „Schaum der Tage“ mit seiner surrealen Metaphorik grausam umzudeuten und „I spit on your grave“ wie eine trashige Spielerei erscheinen lässt, traut sich wahrscheinlich auch eine semantische Umdeutung und Aneignung: „Rape-Literature“ wäre ein Start, ein wuchtiger, waghalsiger und deshalb vielleicht auch mächtiger Start in die Bekämpfung sexueller Gewalt. Sabine Krey zitiert im Nachwort James Joyce: „Dichtung selbst die fantastisch anmutende, ist doch echtes Aufbegehren – gegen die Phrase und nicht zuletzt die Wirklichkeit.“

Word!

Bettina Wilpert: Nichts, was uns passiert. Roman. Verbrecherverlag 2018, 170 Seiten, 19 Euro

Emma Glass: Peach. Roman. Übers.: Sabine Kray. Nautilus Verlag 2018,  128 Seiten, 19,90 Euro

Anm. d. Redaktion: Zu Thomas Wörtches Besprechung von Ute Cohens Roman, März 2017, geht es hier.
Ute Cohen: Satans Spielfeld. Roman. Septime Verlag, Wien 2017. 214 Seiten, 21,90 Euro.

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