Geschrieben am 1. Mai 2019 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2019, News

Bloody Chops – Bücher kurz serviert – Mai 2019

Bücher kurz serviert

Kurzbesprechungen von fiction und non fiction. Joachim Feldmann (JF), Alf Mayer (AM), Hans Jörg Wangner (wer) und Thomas Wörtche (TW) über:

Baer, Hennefeld, Horak, Iversen (Hg.): Unwatchable
Veikko Bartel: Mörder. Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers
John Carreyrou: Bad Blood
Geoff Dyer: ‘Broadsword Calling Danny Boy’: On „Where Eagles Dare“
Raquel Erdtmann: „Und ich würde es wieder tun“
Irene Götz (Hg.): Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen
A.S. Hamrah: The Earth Dies Streaming. Film Writing, 2002 – 2018
Johann Hari: Der Welt nicht mehr verbunden
Jilliane Hoffman: Nemesis
David Joy: Wo alle Lichter enden
Philip Kerr: Berliner Blau
Konrad Paul Liessmann (Hg.): Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen
Frank Miller, Alex Sinclair: Xerxes
T. Christian Miller, Ken Armstrong: Falschaussage
Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung
Alexander Pechmann: Die Nebelkrähe
Marion Schmid: Ausgekocht.

Finsterster Country Noir

(JF) Bei der letzten Volkszählung 2010 kam die Gemeinde Cashiers in North Carolina auf 157 Einwohner. Touristen lieben die pittoreske Landschaft am Rande der Blue Ridge Mountains. Wer allerdings dort geboren wird und ein bisschen Grips im Kopf hat, möchte am liebsten weg. Jacob McNeely ist einer von ihnen. Seit er die High School geschmissen hat, hängt er herum, säuft und kifft, wenn er nicht gerade Gelegenheitsjobs für seinen Vater erledigt. Der organisiert den Crystal Meth-Handel in der Gegend und ist nicht sehr zimperlich, wenn es darum geht, seine Geschäftsinteressen durchzusetzen. Das bekommt auch Jacob zu spüren. Dem Bösen entkommt man nicht, vor allem, wenn einem der Teufel persönlich einen Deal anbietet. Und die Zeiten, als unglückliche Männer durch die bedingungslose Liebe eine Frau erlöst werden konnten, hat es in dieser gottverlassenen Provinzregion wahrscheinlich nie gegeben.

David Joys eindrucksvoller Debütroman Wo alle Lichter enden ist finsterster Country Noir  und, wie für dieses Genre nicht ungewöhnlich, allem gruseligen Naturalismus zum Trotz nicht frei von Sentimentalität. Aber ist das eine Schwäche? Jacob McNeely, der seine Geschichte selbst erzählen darf, ist eben ein weicher Typ. Das sieht nicht nur sein Vater so. Erst zum Schluss darf er stark sein, und gerade das besiegelt sein Schicksal. Einen Schimmer Hoffnung gibt es nur für Maggie, Jacobs große Liebe, doch ob es ihr gelingen wird, der trostlosen Gegend den Rücken zu kehren, lässt der Autor wohlweislich offen. Ein anderes Ende wäre auch enttäuschend.

  • David Joy: Wo alle Lichter enden (Where All Light Tends to Go, 2015). Aus dem Amerikanischen von Sven Koch. Polar Verlag, Stuttgart 2019. 255 Seiten, 22 Euro.

Dem Schrei hinterher jagen

(AM) Im Alter von 18 schluckt Johann Hari zum ersten Mal Antidepressiva, seit seiner Kindheit leidet er unter Angstzuständen, Gefühlen von Traurigkeit und unendlicher Leere. Mit achtzehn die Diagnose: Depression. Es folgt die langjährige Behandlung mit Medikamenten. Trotz Phasen der Besserung das Gefühl, die Depression hat ihn im Griff. Er beginnt die ärztlichen Strategien zu hinterfragen, die Rolle von Medikamenten und der Pharmaindustrie. Spätestens jetzt, mit Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen, erschließt sich, welch intim-privater Hintergrund ihm für sein Jahrhundertbuch „Drogen. Die Geschichte eines langen Krieges“ (S. Fischer, 2015) den investigativen Furor gab. So tief wie er war niemand zuvor in den Dschungel all der Drogenzusammenhänge gestiegen (hier geht es zu Thomas Wörtches CrimeMag-Kritik dieses ungeheuren Sachbuchs/ Mega-Essays/ Reportage). 

„Chasing the Scream“ hieß dieses investigative Werk im Original, dem inneren Schrei der Verzweiflung jagt Johann Hari in seinem neuen Buch wieder hinterher, geht noch tiefer an die Wurzel(n). 60.000 Kilometer legt er auf seinen Recherchen zurück, liest Berge von Studien, interviewt mehr als 200 Wissenschaftler, fräst sich in das Dickicht wirtschaftlicher Interessen. Investigativer Journalismus bester Güte. Auf der (englischen) Internetseite des Buches sind die wichtigsten Gespräche als Audiofiles zu hören, Hari beantwortet dort auch Fragen, aktualisiert und korrigiert seine Recherchen. Es sei ihm leichter gefallen, Auftragskiller des mexikanischen Drogenkartells zu befragen, als sich mit den Ursachen von Ängsten und Depressionen zu beschäftigen, gesteht er im Nachwort. „An der Geschichte über meine Emotionen herumzubasteln – was ich empfand und warum ich es empfand – schien mir gefährlicher als das.“
Hier drei seiner (vielschichtigen) Erkenntnisse: Über das Wesen von Depression und Ängsten werden wir systematisch falsch informiert. Psychische Gesundheit ist ein Produkt der Gesellschaft und es gibt andere Lösungen als Psychopharmaka. Deutschland übrigens belegt nach OECD-Zahlen hinter Island den zweiten Platz in der Liste der Länder mit den meisten Fällen von Depression, 58,9 Prozent der Deutschen geben an, entweder sie selbst oder ein naher Verwandter oder Freund leide an Depressionen.

  • Johann Hari: Der Welt nicht mehr verbunden. Die wahren Ursachen von Depressionen – und unerwartete Lösungen (Lost Connections: Uncovering the Real Causes of Depression and the Unexpected Solutions, 2017). Aus dem Englischen von Sonja Schuhmacher, Barbara Steckhan und Gabriele Gockel. Harper Collins, Hamburg 2019. Hardcover, 448 Seiten, 20 Euro.

Hach, wie geil …

(TW) Naja, die „Vorgeschichte“ von „300“, als die uns der Verlag Frank Millers neues Bilderepos Xerxes. Der Niedergang des Hauses Dareios und der Aufstieg Alexanders anbietet, nimmt jetzt nicht den größten Raum der Handlung ein. Das Ganze geht zwar 490 v.u.Z. bei Marathon los, springt dann allerdings elegant über die Thermopylen (480) ins Jahr 336 und geht bis Gaugamela 331. Der titelgebende Xerxes (519 – 465) ist meistens damit beschäftigt, gigantisch und überirdisch zu sein, wie Jesus durch die Wüste zu irren, eine Frau zu suchen (bei dem Judäa-Kapitel kann man schon die Augenbraue hochziehen), Völker zu vernichten und absolut schicke Outfits zu tragen – so´ne Art früher- Gautier-auf-Speed-Style. Ab 336 bis 331 geht es dann um Dareios III gegen Alexander, wobei die üblichen dynamischen Schlachteplatten à la „300“ hier erheblich reduziert sind. Plot-Elemente sind stark fraktalisiert, historische Genauigkeit – Herodot würde im Grab rotieren – außer Geltung gesetzt, die Rhetorik ist, falls man das so beschreiben kann, von lakonischem Schwulst („Die Trompeten sind still. Die kalten Winde schweigen.“), über die ideologischen Implikationen der Heroen-Anbetung wollen wir gar nicht nachdenken. Es geht auch keinesfalls um alternative history oder kontrafaktische Geschichte, sondern eine imaginierte Fantasy-Antike ist ein riesiges Reservoir an Bildern und Farben.

Natürlich lässt Frank Fazetta grüßen, aber Frank Millers Überwältigungsästhetik, egal ob in eher dynamischen oder eher tableaux-haften Sequenzen, ist der Kern der Graphic Novel. Man kann sie einfach als Einzelbilder anschauen und davon als guilty pleasure fasziniert sein. Aber dennoch bekommt man den Eindruck nicht aus dem Kopf, einen zeitgeistig virtuos hochgepimpten Sandalenfilm der späten 1950er vor Augen zu haben: Coole Bilder, martialische (Männer-)Körper, ungebrochen sexistische Frauenfiguren („Herr Xerxes. Mächtiger Xerxes … ich gehöre Dir, ich bin Deine Braut“), prächtige Ausstattung, keine „Story“. Schauwerte galore und ein arg regressives Weltbild.

  • Frank Miller, Alex Sinclair: Xerxes. Der Niedergang des Hauses Dareios und der Aufstieg Alexanders. Cross Cult, Ludwigsburg 2019. Sonderformat, Hardcover, 4c, 112 Seiten, 30 Euro.

Die Wirkung von Absinth

(AM) Manchem Klappentext sollte man glauben, diesem kann man es getrost. Kochen und Essen ist nichts für Feiglinge steht auf der Rückseite von Ausgekocht, weiter dann die Worte bissig, witzig, makaber, kurios. Trifft alles zu, untertreibt gewaltig. Marion Schmid muss die Nichte von Buster Keaton und/ oder Karl Valentin sein: herrlicher Sinn für Absurdes, weibliche Bosheit, alles, ohne eine Miene zu verziehen. „Heizer, ich bin von der Kripo“, stellt der Kommissar sich vor, trägt tatsächlich einen Regenmantel. „Könnte ein Name in einem Text von Kafka sein, finden Sie nicht“, verabschiedet er sich. Paula Dahme, 18 Jahre beim Mauerfall und jetzt aus Australien zurück, betreibt einen Zeitungsladen in Neukölln. Sozialbiotop vom Feinsten, Suppenküche im Vorderhaus, Hebamme im Seitenflügel, 1. Stock, ein Beamter namens Bruno aus dem Innenministerium als Kunde und andere Verrückte inklusive. Möbel aus Karinhall, Görings Landsitz, kommen vor, ebenso ein Messer mit Wellenschliff, das in einem Brotlaib wühlt.
Willkommen in Albersdorf/ Schräghausen/ Böswitz/ Dadanien. Ganz schön Bluna alles. Manchmal auch eine Wirkung wie bei Absinth. Mein Leben ist des Unglücks Ziel, Kantate für den dritten Sonntag nach Epiphanias, vulgo Dreikönig, will Paula lange nicht aus dem Kopf, und dann sticht nachts der Laserstrahl vom Fernsehturm auf dem Alex ins Zimmer. Vorsicht, diese Lektüre kann Schwindel- und Wohlgefühle erzeugen. Und wenn Sie sich dann auch noch um den Mordfall kümmern, mit dem Paula es zu tun hat, kann ich für nichts mehr garantieren. Sollten die Kreationen dieser Autorin, die auch Eismacherin kann, nur halb so verrückt sein wie dieses Buch – nix wie hin in die „Eisbox“ im Moabiter Hansaviertel.
Ach so, ja, Vorsicht: Der Suppenteller auf dem Cover lädt sich mit fortschreitender Lektüre immer weiter auf. Wir haben da auch noch eine Metzgerstochter, die ihre Suppe vor sich herträgt wie eine Geisha die Schälchen mit dem Tee…

  • Marion Schmid: Ausgekocht. Transit Verlag, Berlin 2019. Hardcover, 224 Seiten, 20 Euro.

Quelle der Kultur 

(AM) Die Hölle ist längst zu einer Metapher geworden, wir haben sie auf Erden und sie antwortet auch auf in der Antike noch unbekannte Vergehen. Gemüter wie Botho Strauß sehen sie gar mit Windrädern bestückt. Sie gehört zu unserer Imagination von Gerechtigkeit, ist „gespeist aus dem Geist der Rache und Vergeltung bei gleichzeitigem Eingeständnis der eigenen Ohnmacht“, schreibt Herausgeber Konrad Paul Liessmann im Vorwort. Sein Band Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen ist das Ergebnis des mittlerweile 22. Philosophicums Lech. Der relativ schmale, aber gehaltvolle Band bietet einiges an Höhenflügen, wie es einem Symposium von Philosophen, Soziologen und benachbarten Disziplinen in einem Wintersportort angemessen ist. Seit 1997 beschließt Lech am Arlberg, angeregt vom Autor Michael Köhlmeier,  die Sommersaison mit solch einer Tagung. Themen waren bereits Krieg, Geld, Staat, das Schöne, die Sinne, die Furie des Verschwindens oder das Ich. Auf der Internetseite des Philosophicums zeigt ein Film Ambiente und Teilnehmer.

Die Hölle und ihre Bilder sind längst selbst zu einer Quelle unserer Kultur geworden, ohne Hölle und Höllenfahrten wären Literatur, Kunst und Musik ärmer. Der Band steigt in die Hölle der Religionen, die Hölle als Heimstatt der Dichter, die Hölle der Desinformation, die Familienhölle und viele andere Schreckensorte. Christian Grüny behandelt in seinem „Register des Unerträglichen“ zum Beispiel auch das CIA-Folterhandbuch von 1963, das über Jahrzehnte in der Schulung lateinamerikanischer Militärs und Polizisten in Befragungstechniken eingesetzt wurde. – Nächstes Thema in Lech: Die Werte der Wenigen. Eliten und Demokratie.

  • Konrad Paul Liessmann (Hg.): Die Hölle. Kulturen des Unerträglichen. Philosophicum Lech, Band 22. Paul Zsolnay Verlag, Wien 2019. 272 Seiten, Klappenbroschur, 22 Euro.

Ängste, Terror, Schock und Tabus

(AM) Die Welt ist eine Horror-Show geworden, ein Grand Guignol globaler Proportion. Sozusagen ein visuell orientierter Komplementärband zum Lecher Höllen-Symposium, entstand die Anthologie Unwatchable als Idee 2017 kurz nach der Amtseinführung von Trump und in Reaktion auf den als unpolitisch empfundenen Film „La La Land“ (Regie: Damien Chazelle). Den vier Herausgebern, allesamt Film- und Medienprofessor-*innen, war klar, dass das Nicht-Anzusehende, Nicht-Erträgliche, Jedes-Blickes-Unwürdige, Nicht-Sehenswerte in der heutigen Medienökonomie gleichwohl einen hohen Stellenwert hat. 750 bis 1500 Worte sollten die Beiträge haben, lautete die Einladung an Wissenschaftler, Kritiker, Künstler und Kuratoren, die Einsendungen kamen von rund um die Welt. 

Viele Anthologien beanspruchen Interdisziplinarität und Intermedialität, die 54 Beiträge dieses Bandes zeigen, wie irrsinnig breit solch ein Diskurs sein kann. Er gliedert sich in drei Teile: Gewalt und Zeugenschaft, Filmgeschichte und Genres (Avantgarde, Horror, Pornographie, Doku) und Zuschauer und Objekte. Die scheinbar schlichte Frage, was in unserer bildergesättigten Gegenwart denn als nichtansehbar erlebt und empfunden wird, fördert erstaunlich intensive Antworten und Reaktionen zutage. Die kurzen Essays schürfen in unserem kollektiven Bewussten und Unbewussten, behandeln eine breite Sammlung verstörender Bildern und Sinneseindrücke, die in unserer globalen visuellen Kultur zirkulieren. Die Spanne reicht von Andy Warhols nicht auszuhaltendem Achtstundenfilm vom Empire State Building („Empire“, 1964) über Beispiele der Skandalkunst und Provokation, Untote, Pornographie und des Kinos der Grausamkeit, dem Selbstmord im Film (etwa in der Doku „The Bridge“), zu Kochshows, Drohnenkamerabildern, Jonathan Rosenbaums Weigerung, sich Lars von Triers „Antichrist“ anzuschauen, oder Youtube-Clips. Geschlechterrollen, Geschmack, Identität, Erfahrungen und Erwartungen werden ziemlich radikal diskutiert. Ein klassisches ästhetisches Problem erfährt so ein zeitgemäßes Update, erscheint als unmittelbar und dringend. Das gewichtige Buch enthüllt die potentesten Ängste unserer Zeit. Es zwingt dazu, sich dem zu stellen, was man direkt nicht anschauen mag. – Dies ist ein Buch, von dem man lange zehren kann. 

  • Nicholas Baer, Maggie Hennefeld, Laura Horak, Gunnar Iversen (Hg.): Unwatchable. Film and Media Studies/ Art/ Cultural Studies. Rutgers University Press, New Brunswick, NJ, 2019. Trade paperback, 51 illustrations, 404 pages, $ 29,95.

Tief im braunen Sumpf

 (wer) Man muss sich Bernie Gunther als einen sehr unglücklichen Menschen vorstellen. Eigentlich will er nur seine Ruhe habe und seiner Arbeit als Polizist, Hoteldetektiv oder Concierge nachgehen. Rauchen, Schnaps trinken, ab und zu eine Affäre mit einer traumhaften Frau haben – das wäre es. Doch es kann der Anständigste nicht in Frieden leben, wenn ständig die bösen Geister aus der näheren und ferneren Vergangenheit aus ihren Löchern kriechen und ihn zu Himmelfahrtskommandos zwingen wollen.

So ist es zu Beginn von Berliner Blau dem zwölften der Bernie-Gunther-Romane von Philip Kerr, der Stasichef und Polizistenmörder Erich Mielke, der an der Côte d’Azur auftaucht. Gunther soll in seinem Auftrag eine britische Agentin töten, den Lesern aus dem „Kalten Frieden“ bestens bekannt. Doch mit List, Courage und einer gehörigen Portion Glück entzieht sich Gunther diesem Druck – um stattdessen als vermeintlicher Mörder quer durch die französische Republik gejagt werden. Nicht nur die Polizei, sondern auch die Stasi im Nacken.

Parallel dazu schneidet Kerr eine Handlung, die noch ein ganzes Stück spannungsgeladener ist: Im April, wenige Tage vor Hitlers 50. Geburtstag, kommandiert Reinhard Heydrich den alten Sozi Gunther an den Obersalzberg. Dort ist eine Nazigröße mitten auf der Terrasse des Berghofs erschossen worden. Hitler darf auf keinen Fall von dieser Lücke im Sicherheitssystem erfahren, seine untereinander verfeindeten Paladine stehen unter mörderischen Druck. Gunther macht sich also ans Werk, stets in Gefahr, von dem braunen Sumpf festgehalten und ins Verderben gezogen zu werden. Ihm zur Seite steht ein Kollege, den er später an der Côte d’Azur wieder treffen soll. Allerdings nicht als Kumpel, schon gar nicht als Nazi, sondern als Stasiagent, der ihm ans Leben will.

Wie schon in „Böhmisches Blut“ zeichnet Kerr wieder ein scharfes Bild der braunen Elite, die in Wirklichkeit von Gier, Niedertracht und Gewalttätigkeit geleitet wird. Im Zweifel ist der eine noch schlimmer als der andere. Diese Verbindung von Fakten, Fiktion und klassischen Whodunnit-Elementen machen „Berliner Blau“ zu einem der besten Bände aus der Gunther-Reihe. – Natürlich ist das nur ein schwacher Trost für die Fans des leider zu früh verstorbenen Philip Kerr. Das, und der Umstand, dass der 13. und 14. Und dann wirklich letze Band noch aussteht. Wer wissen will, welche letzten Abenteuer Bernie Gunther noch zu bestehen hat, muss „Greeks Bearing Gifts“ und „Metropolis“ derzeit eben im britischen Original lesen.

  • Philip Kerr: Berliner Blau (Prussian Blue, 2017). Deutsch von Axel Merz. Rowohlt/ Wunderlich Verlag, Hamburg 2019. 640 Seiten, 23 Euro.

Dehnbare Grenzen

(AM) „Wir müssen die üblichen Kategorien – Mord als ein Spezialgebiet der Forschung, Krieg als ein anderes, Misshandlung und Missbrauch von Kindern als ein drittes, Polizeigewalt als ein viertes und so weiter – überwinden und uns stattdessen an die Situationen halten, die sich jeweils ergeben.“ Dieses Zitat aus Randall Collins Klassiker „Dynamik der Gewalt. Eine mikrosoziologische Theorie“ – neben Reemtsmas „Vertrauen und Gewalt“ (2008) eines der wichtigsten Werke auf diesem Gebiet – stellt Mittelweg 36, die von uns geschätzte Zweimonats-Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung, dem aktuellen Doppelheft als Motto voran. Das 234 Seiten starke Heft Im Brennglas der Gewalt. Neue Ansätze in der Gewaltsoziologie liefert die bisher ausführlichste Auseinandersetzung mit den Ansätzen von Randall Collins, spiegelt den internationalen Diskurs und enthält auch ein zehnseitiges Gespräch mit ihm. Posthum publiziert wird ein Text der kanadischen Politikwissenschaftlerin Lee Ann Fuji zum Rätsel „extraletaler“ Gewalt: entgrenzten, grotesken, maßlosen, wilden, gegen alle Normen verstoßenden Exzessen etwa in My Lai, Ruanda oder den Lynchmorden in den USA: „Ein karnevaleske Welt lud Männer dazu ein, Dinge zu tun, die sie normalerweise nicht tun würden, und ‚normale’ Dinge in extremer Weise zu tun. Es gab zahllreiche Rollen, und die Übergänge zwischen den Szenen waren fließend. Mitspieler und Betrachter konnten sich nach Belieben an verschiedenen Szenen beteiligen oder sich aus ihnen zurückziehen. Die Grenze zwischen Zuschauer und Star war beweglich und dehnbar.“
Wer die Zeitschrift nicht kennt, kann sich einen Eindruck per interessanter Leseprobe verschaffen, und zwar mit Stefan Malthaners Aufarbeitung: „Riot im Schanzenviertel. Gewaltsituationen, Gelegenheitsfenster und die ‚Hermeneutik der Straße’.“
In seiner Protest-Chronik widmet sich Wolfgang Kraushaar den Anfängen des Klimastreiks von Greta Thunberg. Beim Bild des an einer Mauer sitzenden Mädchens vom 20. August 2018 hätte wohl niemand gedacht, dass so der Beginn einer internationalen Protestbewegung aussehen würde, merkt er an.

  • Mittelweg 36. Zeitschrift des Hamburger Instituts für Sozialforschung. Schwerpunkt: Neue Ansätze in der Gewaltsoziologie. 28. Jahrgang, Heft 1-2, April-Mai 2019. 236 Seiten, Broschur, 22 Euro. Verlagsinformationen.

Skandalgeschichte

(AM) Eine 18jährige sagt, sie wurde vergewaltigt. Zwei Polizisten sagen, sie lügt, und hängen ihr ein Strafverfahren an, bringen sie vor Gericht, was ihre Zukunft zerstört. Mehr als zwei Jahre später kommen zwei Polizistinnen 1300 Meilen entfernt einem brutalen Serientäter auf die Spur, weil sie den Opfern zuhören. Sie ermitteln den Täter. Der Ex-Marine Marc Patrick O’Leary gesteht 28 der vermutlich weit mehr Vergewaltigungen quer durchs Land, wird in Colorado zu 327 Jahren verurteilt. Bei der Auswertung seines Computers finden sich auch Fotos der jungen Frau aus der Nähe von Seattle. Sie hat damals nicht gelogen. Es wurde ihr bei der Polizei nicht geglaubt.

Maries Vergewaltigung geschieht 2008, O’Learys Verurteilung 2011. Als die Journalisten T. Christian Miller und Ken Armstrong mitbekommen, dass sie an der gleichen Geschichte recherchieren, nämlich dem so lange unentdeckt gebliebenen Brutalo – und damit auch Polizeimethoden – hinterher, tun sie sich zusammen. Der Artikel „An Unbelievable Story of Rape“, den sie zusammen für ProPublica schreiben, einen 2007 in New York gegründeten, durch Stiftungen finanzierten Non-Profit-Newsdesk für investigativen Journalismus, erscheint im Dezember 2015, bringt ihnen den Pulitzer Preis.

Ergänzt durch Interviews mit den Hauptbeteiligten, Details aus den Ermittlungsakten und Hintergründe zur Polizeiarbeit wird daraus das Buch Falschaussage. Eine wahre Geschichte. Es ist nicht nur die Rekonstruktion eines haarsträubenden Kriminalfalls, sondern so etwas wie ein Lackmus-Test den Umgang mit Vergewaltigungen und sexueller Gewalt in Polizei und Gesellschaft betreffend – in der Zeit vor #metoo. Netflix wird das Buch verfilmen. Der Name der beiden Frauen, die den Fall vorangebracht und geknackt haben: Detective Stacy Galbraith and Sergeant Edna Hendershot. Sie sind die Heldinnen. Und Marie, die das Manuskript gegengelesen hat.

  • T. Christian Miller, Ken Armstrong: Falschaussage. Eine wahre Geschichte (A False Report. A True Story of Rape in America, 2018). Aus dem Englischen von Henning Dedekind. btb Verlag, München 2019. Klappenbroschur, 352 Seiten, 12 Euro.

Starke Auftritte vor Gericht

(AM) Vom Etikett „Edelkolumnistin“ sollte man sich bei Raquel Erdtmann nicht abschrecken lassen. „Und ich würde es wieder tun“, ihre Gerichtsreportagen, die zuerst als Beiträge für die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung erschienen, sind angenehm unparfümiert – anders als bei Schirach, dessen Texte gern mit einem Spritzer „Eau Starker Max“ kommen. Raquel Erdtmann tut nicht allwissend, sie schreibt aus der Perspektive einer Prozessbeobachterin, hat den Blick einer Schauspielerin und Installationskünstlerin (was sie beides ist) für das zur Aufführung kommende Drama und für manch erhellende Verästelung. Manche Prozesse gleichen einer Oper, manche handeln von kleinen Würstchen, andere machen ziemlich sprach- oder ratlos. Nicht immer gelingt die Sache mit der Gerechtigkeit vor Gericht, die vollständige Klärung der Motive oder eine eineindeutigen Schuldzuweisung.  Die Delikte, deren juristischer Bewältigung die Autorin beiwohnt, sind klein und groß, komisch und entsetzlich oder einfach seltsam. Da gibt es großangelegten, schockierenden Betrug mit nicht koscherem Fleisch, einen Rentner, der seinen Mercedes als Tatwaffe einsetzt, einen Heiratsschwindler wie aus dem Groschenroman, das Töten von Wirbeltieren ohne vernünftigen Grund (26 Schlangen, 27 überleben es), einen 82 Jahre alten Vergewaltiger – in der Ehe, einen Täter, der über sich selbst entsetzt ist, Beziehungen mit gewaltsamem Ende, Liebesgeschichten mit ungutem Ausgang, einen IS-Kämpfer und ein deutsches Street-Girl, einen Schlepper-Prozess oder manch atemberaubende Herzlosigkeit, auch sich selbst gegenüber.

Die insgesamt 32 Geschichten sind ein Querschnitt durch die „Comédie humaine“. Allesamt lassen sie, und das ist in der heutigen Publizistik und Erzählkunst hoch anzurechnen, den Protagonisten ihre Würde. 

  • Raquel Erdtmann: „Und ich würde es wieder tun.“ Wahre Fälle vor Gericht. Fischer Taschenbuch, Frankfurt 2019. Klappenbroschur, 256 Seiten, 14,99 Euro.

Der Geist von Oscar Wilde

(JF) Wie mitteilsam war der Geist Oscar Wildes, während er im Fegefeuer schmurgelte? Glaubt man der Spiritistin Hester Dowden, legte der Dichter auch ein knappes Vierteljahrhundert nach dem Ende seiner irdischen Existenz großen Wert darauf, die Nachwelt über ihren beklagenswerten Zustand zu unterrichten. Unter dem Titel „Oscar Wilde from Purgatory“ veröffentlichte Dowden Protokolle der entsprechenden Séancen – das Buch war eine kleine literarische Sensation. Und sicher auch eine interessante Geschäftsidee, denn der einst verfemte Autor stand wieder hoch im Kurs.

Unter den Teilnehmern dieser spiritistischen Sitzungen war auch ein Kriegsveteran und Mathematiker, der nur unter dem Pseudonym Mr. V. bekannt ist. Anlass genug für den österreichischen Autor Alexander Pechmann, eben diesen Herrn als Peter Vane zum Mittelpunkt seines kleine, kulturhistorisch inspirierten Romans Die Nebelkrähe zu machen. Vier Jahre nach Ende des Krieges leidet Vane noch immer unter den als Soldat erlittenen Traumata. Vor allem treibt ihn das Schicksal seines Kameraden Finlay um, der im April 1917 nach einer Handverletzung abtransportiert wurde und nie wieder auftauchte. Seine einzige Erinnerung ist die Daguerreotypie eines kleinen Mädchens namens Lily, das Finlay ihm als eine Art Glücksbringer überlassen hat. So ganz hat das allerdings nicht geklappt: Eine Stimme, die beharrlich nach Lily ruft, bringt ihn regelmäßig um seine Nachtruhe. Dieser Umstand ist es auch, der ihn den Kontakt zu spiritistischen Kreisen suchen lässt. 

Was dabei zutage tritt, erzählt uns Vane selbst. Verraten werden darf vielleicht, dass Lily in Wirklichkeit ein Junge ist, und zwar der sehr junge Oscar Wilde in Mädchenkleidern. Damit schließt sich der Kreis allerdings noch lange nicht. Vane taucht tief in die paranormale Szene Londons ein, treibt sich in bibliophilen Kreisen herum und schreckt auch nicht vor dem Besuch einer Opiumhöhle zurück. Pechmann, Experte für die obskureren Aspekte der englischen Literaturgeschichte, hat das Ambiente akribisch recherchiert und setzt ansonsten auf seine Erfindungsgabe. Doch dieses vielversprechende Unterfangen endet leider nicht so vergnüglich, wie es hätte sein können, denn die Hauptfigur ist arg blass geraten und der Erzählstil rechtschaffen behäbig. Richtig spannend wird es erst im Nachwort, denn da gibt der Autor seine Quellen preis. Wenn Peter Vane also am Ende des Buches Oscars Nichte Dorothy Wilde, die ihm während seiner Nachforschungen zur Seite stand, auffordert, ihm statt Fakten „die schönste Lüge“, die ihr gerade in den Sinn gekommen sei, aufzutischen, ist das ein sympathisches, aber in diesem Fall nicht sehr überzeugendes Plädoyer für die literarische Fiktion. Unsereins wäre ein kulturgeschichtliches Sachbuch lieber gewesen.

  • Alexander Pechmann: Die Nebelkrähe. Steidl Verlag, Göttingen 2019. 174 Seiten, 18 Euro.

Hochleistungssport Strafverteidung

(AM) Nach „Mörderinnen“ jetzt Mörder. Der 1966 geborene Veikko Bartel erzählt von sechs Fällen aus seiner Praxis. Der Scharfschützen-Fall führt ihn nach Indien, wo er einen Strafprozess nach dortigem Recht miterlebt. Als alles auf der Kippe steht, stellt er Rapport her mit dem Elitesoldaten, den er verteidigt, brüllt ihn in der Zelle an, von Soldat zu Soldat, Bartel diente in der DDR: „Was erlauben Sie sich, Soldat? Erweisen Sie mir gefälligst den Respekt, der mir als Offizier gebührt. Sie schwingen jetzt Ihren Arsch hierher, heben den Stuhl auf und setzen sich! Und zwar auf der Stelle.“ Der schreit zurück: „Ich bin genauso Offizier wie Sie.“ – Das waren Sie mal, Soldat, kommt die Retourkutsche. „Jetzt sind Sie als Legionär nur noch Schütze Arsch im letzten Glied. Sie haben vielleicht den Dschungel Guayanas überlebt und im Sudan Wüstenstaub gefressen, aber das ist mir scheißegal. Das hier, das ist mein Schlachtfeld. Auf dem sind Sie der allerletzte Nichtskönner. Sie werden das tun, was ich Ihnen sage. Haben Sie das verstanden, Soldat?“

An Selbstbewusstsein mangelt es Bartel nicht. Er wollte „nicht nur ein guter, er wollte DER Strafverteidiger dieses Landes werden. Alle in meiner Familie waren Leistungssportler. Zweiter zu werden, das lag und liegt uns nicht im Blut“, bekennt er im Vorwort. Ebendort verrät er: „Strafverteidigung ist gelebte Nächstenliebe und Barmherzigkeit. Sie ist die Abfolge, die Aneinanderreihung nie endender Zweifel. Am Fall, am Mandanten, an Zeugen und vor allen an dir selbst. Sie macht süchtig, ist geprägt von einem hautnah erlebbaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang. Sie verzeiht keinen Fehler. Diese unerbittliche Gnadenlosigkeit lässt dir das Adrenalin im Blut pulsieren…“ Natürlich gibt es für das „Pokern mit dem Schicksal eines Menschen … unendlich viel zurück“. 
Strafverteidigung also als Hochleistungs- und Kampfsport. Wie es heute Usus ist im True-Crime-Genre, versetzt der Autor sich in allerlei Situationen und Köpfe hinein, hört die Täter murmeln und denken. Am Ende hat mir gefallen, dass das Buch mit einem schweren Vorwurf an ihn endet. Das lässt er so stehen. Stark.

  • Veikko Bartel: Mörder. Fälle aus der Praxis eines Strafverteidigers. Mosaik Verlag, München 2019. Hardcover, 252 Seiten, 18 Euro.

Kapitalismus, heute

(AM) Das „Time“-Magazin zählte Elizabeth Holmes 2015 zu den hundert einflussreichsten Personen der Welt, setzte sie (visuell) auf Platz 5, Henry Kissinger porträtierte sie als „Tech-Visionärin“, die Gesundheitsvorsorge zum Menschenrecht machen wolle. „Forbes“ schätzte, ebenfalls 2015, ihr Vermögen auf 3,5 Milliarden US-Dollar, das war Platz 360 auf der Liste der reichsten Menschen der Welt. Sie war die erste weibliche Tech-Milliardärin. Ihr Unternehmen Theranos, ein Bluttest-Startup, sammelte 900 Millionen Dollar Venture-Kapital ein, war zeitweise mit neun Milliarden Dollar kapitalisiert. Im Aufsichtsrat saßen die früheren US-Außenminister George Shultz und Henry Kissinger, dazu Banker und Generäle, auch James Mattis, später Verteidigungsminister bei Trump.

Schon im Juni 2016 wurde der Wert von Theranos auf 800 Mio US-Dollar herabkorrigiert, was Holmes’ Vermögen praktisch auf Null setzte, da sie keine Vorzugsaktien besaß. Inzwischen ist Theranos geschlossen. Es war alles nur heiße Luft, ein Gemisch aus Hpye, Habsucht, Selbstgefälligkeit, Stolz und vor allem Gier und Rücksichtslosigkeit gegenüber allen Werten – außer den Ziffern auf dem eigenen Konto. Silicon-Valley-Kapitalismus.

Die Uni-Abbrecherin Holes galt lange als der weibliche Steve Jobs. Ein einziger Tropfen Blut sollte reichen, um Blutbilder zu erstellen und Therapien zu steuern – eine Riesenhoffnung für Millionen Menschen und ein extrem lukratives Geschäft. Nur: Die Technologie hinter den schicken Apparaturen funktionierte nie. Der Investigativ-Journalist und Pulitzer-Preisträger John Carreyrou kam dem gigantischen Betrug Zwiebelschicht für Zwiebelschicht auf die Spur, ließ nicht locker, enthüllte in mehreren Artikeln für das „Wall Street Journal“ die gigantische Dimension des Betrugs. Dreieinhalb Jahre insgesamt verbrachte er mit der Sache und mit dem hier nun vorliegenden true-crime-Wirtschaftskrimi Bad Blood, 2018 vom „Time Magazin“ als bestes Sachbuch des Jahres gewählt. 

  • John Carreyrou: Bad Blood. Die wahre Geschichte des größten Betrugs im Silicon Valley (Bad Blood. Secrets and Lies in a Silicon Valley Startup, 2018). Aus dem amerikanischen Englisch von Karlheinz Dürr. Ein SPIEGEL-Buch, Deutsche Verlags-Anstalt, München 2019. 396 Seiten, 24 Euro.

Gesellschaftliches Verbrechen

(AM) Der Titel spricht für sich: Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen. Besonders oft sind sie es, die im Alter von Armut bedroht sind, erst recht, wenn sie dort wohnen, wo die Mieten hoch sind. Zum Beispiel in München. Ein Team von Autorinnen rund um die Kulturwissenschaftlerin Irene Götz ist dort der Sache nachgegangen, hat ausgiebig recherchiert. Und nachgefragt: Wie kommen die Frauen mit wenig Geld zurecht? Welche Strategien entwickeln sie, um dennoch am sozialen und kulturellen Leben teilzuhaben? Die Renten von Frauen liegen im Durchschnitt derzeit 60 Prozent unter denen von Männern. 

Über drei Jahre hinweg haben die Kulturwissenschaftlerinnen 50 Frauen im Alter von 60 bis 85 Jahren zu ihren Erfahrungen interviewt. Mit den Methoden der qualitativen Sozialforschung machen sie unterschiedliche Typen von Frauen sichtbar, die von Altersarmut betroffen sind: von der Büro- und Reinigungskraft zur Geschäftsinhaberin, von der Kellnerin und Versicherungsangestellten zur Musikalienhändlerin, von der frühverrenteten Krankenschwester zur Pflegekraft und Hausmeisterin.18 beispielhafte O-Ton-Porträts aus unterschiedlichen sozialen Milieus bilden das Kernstück. Ein ausführlicher Ratgeberteil zeigt Wege aus der Passivität. Das sehr verständlich geschriebene Buch macht deutlich, wie dringend notwendig eine politische und gesellschaftliche Veränderung unserer Sozialsysteme ist – um nicht weiter den Tatbestand gesellschaftlichen Verbrechens zu erfüllen.
Aus eigener Erfahrung mit 50 Porträts aus allerlei gesundheitlich besonders belasteten Berufen für ein „Schwarzbuch Rente mit 70“ (Chr. Links Verlag, 2018) kann ich nur den Hut ziehen – vor Engagement und Empathie der Autorinnen wie auch vor dem Verlag, der das Buch ermöglicht hat. 

  • Irene Götz (Hg.): Kein Ruhestand. Wie Frauen mit Altersarmut umgehen. Unter Mitarbeit von Esther Gajek, Petra Schweiger, Noémi Sebök-Polyfka, Alex Rau und Marcia von Rebay. Verlag Antje Kunstmann, München 2019. 320 Seiten, 20 Euro.

Marktprodukt

(AM) „Argus“, „Morpheus“ und „Cupido“ hießen die Vorläuferbücher, jetzt ist der Snuff-Club wieder da, obwohl „Chief Assistant State Attorney C. J. Townsend von der Staatsanwaltschaft Miami-Dade“ im letzten Buch doch dessen Anführer getötet hat. Die Leiche einer jungen Frau wird gefunden, „enthauptet, gebrandmarkt wie ein Stück Vieh“, und noch immer gibt es einen Kreis von „13 Männern, zu reich und zu einflussreich, um jemals von der Justiz belangt zu werden“. Wie „ein bewaffneter Sky-Marshall“ hatte Staatsanwältin CJ Townsend „aufgepasst, dass der Mörderclub nicht zurückkommt“, aber das tut er. „Grauenhafte, abartige Dinge“, hatte ihr dessen Häuptling angetan. Sie entkam, folterte ihn mit einem 50.000 Volt-Teaser, verscharrte ihn. Jetzt versetzt sie sich in die Lage der Toten, denkt: „Hatte die Frau bewusst miterlebt, wie man ihr den Kopf abzutrennen begann …?“ Und Ähnliches. 

Serienmörder-Narrative mit grausamen Details und vielen dead girls (zum Muster siehe Sonja Hartl hier) werden erfolgsträchtig nicht nur von Männern geschrieben, dafür liefert Jilliane Hoffman mit Nemesis ein Beispiel. Ihre Staatsanwältin wird zur Vigilantin: „Nemesis, die Göttin der Rache und Gerechtigkeit erhebt sich tief in ihr. Und sie ist stolz.“ Einmal knurrt sie: „Ich habe keine Zeit, jede Einzelne zu rächen“, und wirft eine böse Mutter über die Balkonbrüstung. Sie trägt Gift „ins Kakerlaken-Nest“ der Club-Mitglieder, „die für viel Geld per Live-Stream zuschauen, wie Frauen brutal vergewaltigt und getötet werden“, löscht sie aus – als „Göttin des gerechten Zorns … Niemand sonst wollte tun, was sie tat, aber es musste getan werden. Denn sonst, wenn niemand Vergeltung übte, würde die Welt im Chaos versinken.“
Eine Rachephantasie also wie weiland Dirty Harry, „Ein Mann sieht rot“ oder bei Don Winslow, mit dem sich Jilliane Hoffman möglicherweise das Schreibbüro teilt. Wie bei ihm (und bisher zwei seiner Romane bei Droemer) scheinen die Vigilanten-Bücher explizit für den deutschen Markt geschrieben, es gibt sie nicht in den USA. Tja, und ich, ich tröste mich, dass der gleiche Verlag auch einen Autor wie Philip Kerr im Hardcover verlegt.

  • Jilliane Hoffman: Nemesis (keine US-Ausgabe, deutsche Erstausgabe).   C.-J.-Townsend-Reihe Nr. 4. Übersetzt von übersetzt von Sophie Zeitz und Katharina Naumann. Rowohlt Verlag/ Wunderlich, Hamburg 2019. 528 Seiten, 22,95 Euro.

Kritiken für schlechte Zeiten

(AM) Seit 2008 ist der scharfzüngige A.S. Hamrah Filmkritiker des Magazins „n+1“, seine ersten Kritiken dort gab er per Telefon durch. Den Depeschen-Stil hat er perfektioniert, er ist ein Meister der kurzen Form, begann mit Videokritiken, seine Texte sind verkapselt und geschliffen. Früh schon schwor er sich, möglichst nichts in seine Sätze zu stecken, was zitiert und für Publicity genutzt werden könnte. Auch seine negativen Kritiken machte er für den Zugriff von Algorithmen bewusst unbrauchbar: Schreibe so, dass „Rotten Tomatoes“ nichts mit deiner Arbeit anfangen kann, und so, dass die Studios nicht wissen, was sie damit sollen. Das klingt dann etwa so: „Whit Stillmans Filme sind wie Pornos, aus denen die Sexszenen geschnitten wurden.“ Oder: „Was immer Ian McEwan schreibt, endet als Film. Eines Tages werden sie auch aus seinem Einkaufszettel einen machen.“

Hamrahs Texte aus eineinhalb Dekaden ist Filmkritik für Krisenzeiten. Und zwar eine, die sich ihrer gesellschaftlichen Verpflichtung bewusst ist und dabei Spaß macht. „Das Internet hat die schlechten Kritiken nicht erfunden“, sagt er, das „dumbing-down“, die Verdummung, sieht er bei „USA Today“ und „Entertainment Weekly“ und den Zeitungen beginnen, nennt es „Hollywood-PR“. Großteile unserer Feuilletons sind ebenfalls längst dazu geworden.

Seine oft ambivalenten Miniaturen machen klar, dass man von einer Filmkritik weit mehr erfahren kann als ob der Film nun „gut“ oder „schlecht“ sei. Vorbild ist ihm der große Manny Farber, das Vorwort des mit Namens- und Filmtitelindex gut erschließbaren Sammelbandes ist für mich der beste filmtheoretische Text seit langem. The Earth Dies Streaming. Film Writing, 2002 – 2018 ist natürlich der ultimative Titel für unsere Medienzeiten, ich hatte das Buch in der Woche in der Post, als der Rapper A Boogie wit da Hoodie (23 und aus der Bronx) mit seinem Album „Hoodie SZN“ in nur drei Wochen die Charts toppte – bei gerade 823 album sales, aber 83 Millionen digital streams. Der Zukunft des Kinos begegnete Hamrah 2009 auf einem Supermarkt-Parkplatz, wo ein Mann die vereiste Windschutzscheibe mit einer DVD von „Independence Day“ frei kratzte, die er gerade im Ramsch gekauft hatte.

  • A.S. Hamrah: The Earth Dies Streaming. Film Writing, 2002 – 2018. n+1 Foundation, New York 2018. Film- und Namensindex. 452 pages, $ 20.

An old-fashioned piece of stirring nonsense

(AM) Dies Buch ist eine Petitesse, aber von der Art, wie man sich viele wünscht. Tausendsassa Geoff Dyer marschiert in ‚Broadsword Calling Danny Boy’ auf knapp hundert Seiten durch den Lieblingsfilm seiner Kindheit, den Agenten-Kriegsfilm „Where Eagles Dare“ von 1968. Auch Spielberg und Michael Ondaatje sind Fans dieser Schmonzette über „men on a mission” (deutscher Titel: Agenten sterben einsam; Regie: Brian G. Hutton). Tarantino hat daraus für „Inglorious Basterds“ kräftig abgekupfert.

Der Inhalt: Im zweiten Weltkrieg soll ein britisch-amerikanisches Sonderkommando einen US-General aus dem Hauptquartier des deutschen Alpenkorps befreien, der schwer befestigten Burganlage „Schloss Adler“. Filmkulisse dafür war die Festung Hohenwerfen, 40 km südlich von Salzburg. Das 158-Minuten-Opus verdankt seine Existenz einem Karrierewunsch Richard Burtons. Filmproduzent Elliott Kastner heuerte den mit „Die Kanonen von Navarone“ weltbekannt gewordenen Alistair MacLean an, der in nur sechs Wochen das Drehbuch schrieb und später zu einem, so Dyer, „unlesbaren“ Buch adaptierte. „Haben Erwachsene dieses Zeug gelesen?“ 
Clint Eastwood, bereits an Hauptrollen gewöhnt, ließ sich seine Teilnahme mit 800.000 Dollar, nach heutigem Kurs rund zehn Millionen Dollar vergolden, damals eine exorbitante Gage, zudem verlangte er weniger Dialoge. „Und dann starrt er nur auf Amerikanisch und auch mal verkleidet auf Deutsch in die Kamera“, so Dyer über Clints Schauspielkünste, der öfter daran erinnert werden musste, die Pistole nicht um den Finger zu wirbeln, wenn er sie zurück ins Holster steckte, da dies kein Western sei. Richard Burton hingegen, damals auf eine Tagesration von vier Flaschen Wodka geeicht, nahm die Gelegenheit wahr, die Kommando-Sau rauszulassen und „to treat the world as his bitch” (Dyer). 

Der Funkspruch „Broadsword ruft Danny Boy“, mit dem Burton mehrmals die englische Geheimdienstzentrale anfunkt, wurde in England zu einem geflügelten Wort, das gern humoristisch beim Telefonieren verwendet wird. Eine schmissige Tonmontage mit der glorios-heroischen Soundtrack-Blasmusik Ron Goodwins gibt es auf Geoff Dyers Website. Klar ist „Where Eagles Dare“ ein Film jenseits aller „high seriousness“ und der Brite Dyer, der schon sehr seriös über Tarkowskis „Stalker“ schrieb (Die Zone, Schirmer/Mosel 2012) gibt dem Affen Zucker. Nichts, so erinnert er uns in diesem Micro-Buch, ist falsch daran, altmodisch guten Humbug zu genießen. „Beloved Hokum“ und „good, old-fashioned piece of stirring nonsense“ sind hier seine Begriffe.

Man kann Dyer überall hinschicken, seien es „30 Days in Sydney“, „White Sands“ (deutsch 2017 bei DuMont) oder ein Flugzeugträger („Another Great Day at Sea“). Sein Handwerk gelernt hat dieser Alchemist der Reiseliteratur und Kunst- und Naturbetrachtung bei John Berger, unvergessen das Jazzbuch „But Beautiful“ von 1991. Würde er noch ein drittes Filmbuch machen wollen, wäre es über John Boormans Richard Stark-Verfilmung „Point Blank“, verrät er im Nachwort.

  • Geoff Dyer: ‘Broadsword Calling Danny Boy’: On „Where Eagles Dare“. Penguin, London 2018/ Pantheon, New York 2019. Paperback, 122 pages, GBP 7.99.

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