Die Kunst des genauen Blicks: Die israelische Serie „Hatufim“
Das ungläubig freudige Staunen im Gesicht eines Freigelassenen, der zum ersten Mal seit 17 Jahren einfach am Morgen aus seiner Haustür treten und loslaufen kann. Zwei weinende Männer in einer dunklen Gefängniszelle, in einer Ecke aneinandergeklammert, weil Schritte hallen und gleich die Tür aufgehen wird. Eine Schwester mit den traurigsten Augen der Welt, die den Tod ihres Bruders nicht akzeptiert. Ein heimgekehrter Vater, der sich den Namen seines Sohnes nicht merken kann. Eine nymphomane Tochter, die es auf das stets unmöglichste Benehmen anlegt und mit der neuen Familiensituation nicht klarkommt. Eine Ehefrau, die nach 17 Jahren Kampf und Durchhalten nicht mehr so ganz weiß, ob es sich gelohnt hat. Eine Frau, die sich einem anderen zuwandte und nun auf Anraten des Militärs „nur für den Übergang“ die alte Geliebte vorspielen soll, aber den Lichtschalter in ihrer angeblichen Wohnung nicht findet. Zwei Heimkehrer aus 17-jähriger Gefangenschaft, die vielleicht niemals ganz nach Hause kommen können, weil sie zu viel gesehen und erlitten haben.
Augen, die sich kaum mehr zu heben vermögen. Augen, in denen eine Dunkelheit tief wie ein Brunnen liegt. Blicke, die wie die Hände eines Blinden tasten und vorsichtig berühren, auf Zurückweisung gefasst. Gesten ohne Vollendung. Viele unsagte Worte. Vorsicht überall und brüchiger Boden. Trotziges Bemühen um Normalität. Und Trauma. Ganz viel Trauma. So viel und so eindringlich genau, dass das wohl bei jedem Zuschauer Echo auslöst. Eine spezifische Situation spezifischer Menschen, und dennoch etwas Universelles, tief Menschliches. Weit mehr als eben nur Spannung und Suspense und Fernsehunterhaltung. All dies ist „Hatufim“. Buch, Regie und Produktion: Gideon Raff, 1973 in Jerusalem geboren, zeitweise in den USA aufgewachsen, beim israelischen Militär gedient, beim American Film Institute in Los Angeles einen Abschluss gemacht und vor „Hatufim“ nicht bewegend aufgefallen.
Nur 150.000 Euro pro Folge – zehnmal weniger als für einen „Tatort“
„Hatufim“ erzählt in den zehn Teilen der ersten Staffel von der Heimkehr zweier israelischer Soldaten aus 17-jähriger Gefangenschaft im Libanon, wo sie gefoltert und vielleicht gebrochen, wenn nicht gar „umgedreht“ wurden. Dramaturgisch geschickt wechselt die Erzählung zwischen den Rückblenden in die Gefangenschaft, all den Sequenzen der schwierigen Rückkehr in ein ziviles Leben und dem ambivalent-vagen Suspense, welche Geheimnisse und Traumata die beiden Kriegsheimkehrer mit sich tragen – aber eben niemals so penetrant und neurotisch ausgespielt wie in der ebenfalls von Gideon Raff konzipierten US-Serie „Homeland“.
Die Erstausstrahlung lief in Israel auf Channel 2 von März bis Mai 2010, eine zweite Staffel mit 14 Episoden von Oktober bis Dezember 2012. In Deutschland wurde die erste, zehnteilige Staffel jetzt im Mai und Juni 2013 auf Arte ausgestrahlt. Für Staffel zwei sind noch keine Termine bekannt. (Und, hallo ARD oder ZDF: Was ist eigentlich mit einer Ausstrahlung im Hauptprogramm?)
Ganze 150.000 Euro an Budget pro Folge standen für die israelische Fernsehserie „Hatufim – In der Hand des Feindes“ (Originaltitel: חטופים; dt. „Die Entführten“) zur Verfügung. Zum Vergleich: Ein x-beliebiger „Tatort“ kostet das Neun-oder Zehnfache, für den Til-Schweiger-Auftritt als ARD-Kommissar wurden an die zwei Millionen Euro verbraten. 98 Prozent der „Tatorte“ versenden sich. Einfach so.
„Hatufim“ hat bereits Fernsehgeschichte geschrieben, es ist die in Israel bislang erfolgreichste Fernsehserie und die um Klassen bessere Vorlage für die US-Serie „Homeland“. Mehr als aufschlussreich wäre ein näherer Vergleich der Erzählweisen der beiden Serien. Wo „Homeland“ alle Register der Suggestion und des dramaturgischen Theaterdonners zieht, kommt „Hatufim“ erzählerisch klar wie Quellwasser daher, lässt sich Zeit. Zeit. Zeit. Schaut genau hin, lässt erzählerischen Raum entstehen, der sich auflädt – anstatt kurze Reflexe zu bedienen, damit man bis zur nächsten Werbepause dabeibleibt. Ich fühlte mich oft an die erstaunte Replik von Carlos Saura erinnert, der zu Franco-Zeiten einen mit kleinem Budget gemachten, großen Film auf der „Berlinale“ zeigte und gefragt wurde, ob die Produktionsbedingungen denn nicht grässlich gewesen seien. Seine Antwort: „Aber ich bitte Sie, Not macht erfinderisch und verbessert nur den Stil.“
Von Menschen erzählen
Für mich ist „Hatufim“ das Fernsehereignis (nicht nur) dieses Jahres. Ich wüsste nicht – „Luther“, „Borgen“, Kommissarin Lund oder Cumberbatchs „Sherlock“ unbenommen –, wann mich eine Handvoll Charaktere so in den Bann gezogen haben wie die Menschen aus „Hatufim“. Das sind sie nämlich allesamt: Menschen. Keine Reißbrettfiguren, Karikaturen, Quotengeschöpfe, Kunstfiguren. Manche der Schauspieler aus „Hatufim“ wurden in Israel oft auf der Straße angesprochen, nicht weil sie Stars waren, sondern Menschen mit einem Schicksal, an dem man nicht anders als Anteil nehmen kann.
Ein kleiner Blick auf die Protagonisten:
- Yaël Abecassis als Talia Klein, die ihrem Mann 17 Jahre die Treue hält, für ihn kämpfte, und nun mit einem heimgekehrten Wrack zurechtkommen muss.
- Yoram Toledano als Heimkehrer Nimrod Klein, dessen dunkle Augenpartie Schreckliches ahnen lässt und der eine Agenda hat, deren Hölle sich erst allmählich entblättert.
- Ishai Golan als Uri Zach, der schwer misshandelt aus der Gefangenschaft zurückkommt, den Blick kaum heben, die Schultern kaum straffen kann.
- Mili Avital als Nurit Halevi-Zach, deren Hochzeitstermin mit Uri schon feststand, als er in Gefangenschaft geriet und die dann dessen Bruder heiratete. Uris Rückkehr macht sie zu einer im halben Land verhassten Verräterin, Schuldgefühle zerreißen sie.
- Asi Cohen als Amiel Ben-Horin, der dritte Kriegsgefangene und der, der die Gefangenschaft (offenbar) nicht überlebte, für seine Schwester aber schmerzlich lebendig und präsent bleibt.
- Adi Ezroni als Yael Ben-Horin, Amiels Schwester, die mit seinem Tod nicht klarkommt und ihn in Tagträumen weiter um sich hat.
- Yael Eitan als Dana, Nimrods rebellische, nymphomane und obergarstige Tochter, die den Vater kaum erlebte.
- Guy Selnik als Hatzav, Nimrods Teenagersohn, der seinen Vater gar nicht kennt und sich vor dem Militär drückt, weil er nie in Gefangenschaft geraten will, seiner Familie aber etwas anderes vormacht.
- Mickey Leon als Yaakov „Yaki“ Zach, Uris Bruder und Nurits Ehemann, der mit ihr einen Sohn hat und jetzt um seine Ehe fürchtet.
- Shmuel Shilo als Yoske Zach, Uri und Yakis Vater, dessen Frau die Freilassung des Sohnes nicht erlebte, deren Briefe an ihn aber eine Rolle spielen.
- Nevo Kimchi als Ilan Feldman, ein Verbindungsoffizier der Israel Defense Force (IDF), der Kontakt hält zu den Familien gefallener und entführter Soldaten und ein scheues Verhältnis zu Yael entwickelt.
- Gal Zaid als Haim Cohen, ein IDF-Psychologe, der überzeugt ist, dass die beiden Heimkehrer etwas verbergen und die Untersuchung gegen sie leitet.
- Sandy Bar als Iris, die von Haim auf Uri angesetzt wird und ein Verhältnis zu ihm entwickelt.
Ein Fernsehereignis mit viel Raum und Zeit
Man muss sich verneigen vor all der demütig unaufdringlichen filmischen Erzählkunst, mit der diese Serie, die Arte dankenswerteweise als Doppelfolgen ausstrahlte, uns hektische Zapper entschleunigt und das Sehen wieder lehrt. Die Aufmerksamkeit des kleines Blicks. Die über einen langen Bogen durchgehaltene Intensität. Der filmische Purismus, ganz ohne Mätzchen und Paukenschlag. Augen und Blicke, kleine Gesten, hängende Schultern, hochgezogene Augenbrauen, vieles an Mundbewegung vom Schmollen bis zum auf die Lippe beißen, Körperhaltung, Gang, menschliche Interaktion auf kleinem Raum, in Küche, Wohnzimmer oder der Ecke einer Gefängniszelle – all das ist wird hier wichtig und zum Ereignis. Ja, und auch diese schwierigste aller Filmfragen, die viele Regisseure schon verzweifeln ließ: Wie jemand zur Tür hereinkommt.
Kino heute und auch Serienwirklichkeit à la „CSI“ das ist, aus seinem Sitz gerissen und von einer wild gewordenen Kamera in absurde Flugbahnen geworfen zu werden (wie auch völlig kontraproduktiv in Baz Luhrmanns pompösem „Great Gatsby“) oder mit einem Schnittsalat von Bildern und Musik bombardiert zu werden. Wenn „Hatufim“ einen durchgängigen Schwachpunkt hat, ist es die eher belanglose und nicht immer exakt passende Musik, vermutlich aber eine Geld- und Rechtefrage. Der hektischste und beliebigste Moment in „Hatufim“ ist stets der Vorspann mit seinen Reißschwenks, aber auch hier gibt es noch Poesie und Offenes.
Botschafter der Angst
Es sind immer auch die eigenen Räume, die ein Film in einem füllt und nachhallen lässt. „Hatufim“ hat Kraft, viel Kraft, entwickelt als Fernsehstück eine überaus seltene Intensität.
Zu lange ist es her, dass wir noch die Fernsehserie „So weit die Füße tragen“ aus dem Jahr 1959 (Regie Fritz Umgelter, nach dem Roman von Josef Maria Bauer zum Vergleich heranziehen könnten. Der 347 Minuten lange Sechsteiler, der erste große Straßenfeger des deutschen Fernsehens, war zehn Jahre nach der Heimkehr vieler Kriegsgefangener ein Versuch fiktional bewältigter Zeitgenossenschaft im neuen Medium. Es war eine letztlich harmoniesüchtige Veranstaltung, Stoff für allerlei Legenden vom guten Wehrmachtssoldaten.
Im gleichen Jahr erschien in USA Richard Condons „The Manchurian Candidate“, eine erstaunlich hellsichtige Fiktionalisierung all der Ängste und der Paranoia des Kalten Krieges: der „umgedrehte“, als gefährlicher Feind ins eigene Nest geholte Kriegsheimkehrer, die ungeheuerlich, weil unsichtbare Macht der Gehirnwäsche – ein ins Seelenleben der Nation zielender Virus, wenn denn schon die Atomkraft nicht dämonisiert werden dufte, bot sich hier ein Angstersatz. 1962 wurde Condons Roman „Botschafter der Angst“ verfilmt, hatte Frank Sinatra als Star.
„Homeland“ knüpft ganz offen an diese damalige Paranoia an: Jeder kann heute in den USA ein ferngesteuerter Verräter sein, eine Drohne. Die Serie zeichnet eine Gesellschaft, in der alle lügen und täuschen, in der keiner keinem trauen kann – und darf. Jeder ein Botschafter der eigenen Angst.
Im Verhältnis dazu ist „Hatufim“ ein großes Plädoyer der Menschlichkeit, zumindest der Versuch, sie in der heutigen Welt zu bewahren. Die Serie lässt nicht nur fragen, was die Heimkehrer in 17 Jahren erlebt haben, sondern sie schaut auch überaus genau hin, in welche Gesellschaft sie denn zurückkehren.
Aus der Welt fallen, zur Welt gehören, die Welt sein – ich bin mir sicher, Ernst Bloch hätte uns eine schöne Vorlesung daraus gemacht.
Alf Mayer
Hatufim – In der Hand des Feindes (Prisoners of war). Fernsehserie von Gideon Raff (Israël, ARTE France, 10×45 mn). Regie & Drehbuch: Gideon Raff. Zum Interview mit dem Regisseur.
Filmstills: © Vered Adir/Arte. wikimedia commons: Buchcover: So weit die Füße tragen; Porträt: Asi Cohen, Autor Amir Giladwiki.