Geschrieben am 11. Oktober 2014 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Alf Mayer zur „FBI Study of Active Shooter Incidents in the United States Between 2000 and 2013“

FBI_A_Study_of_Active_Shooter_Illu_1Reality Check: „Wenn ein Amerikaner durchdreht …“

Zu einer FBI-Statistik über die Zunahme der Amokläufe. Von Alf Mayer

„Dramatisch“ nennt das FBI seine jüngst vorgestellte Statistik über die Zunahme der Amokläufe in den USA. Als „mass shooting“ gelten Schießereien mit mehr als drei Toten. 160 solcher Fälle zwischen 2000 und 2013 erfasst die jetzt Ende Oktober veröffentlichte „FBI Study of Active Shooter Incidents“. Nicht mitgezählt sind dabei Schießereien mit Todesfolge im Drogenmilieu, bei einem Akt der Selbstverteidigung oder bei häuslicher Gewalt. Hier die wichtigsten Ergebnisse des 48-seitigen Reports:

  • Anfang des neuen Jahrtausends wurden pro Jahr etwa 6,4 solcher Vorfälle in den USA gezählt, seit 2006 stieg diese Zahl auf mehr als 16,4 Amokläufe pro Jahr. Auf den Zeitraum 2000 bis 2013 gerechnet, ist das ein statistischer Durchschnitt von einer Schießerei je Monat seit 2000.
  • Waren 2000 dabei insgesamt sieben Todesopfer zu beklagen, waren es 2007 bereits 69 und 2012 sogar 90 Tote, verwundet wurden 2012 dabei 118 Menschen.
  • Zum vollständigen FBI-Report

    Zum vollständigen FBI-Report

    Die Gesamtzahl der Opfer seit dem Jahr 2000: 1.043, davon 486 Tote und 557 Verletzte.

  • Nur in zwei Fällen war es mehr als ein Schütze, der das Blutbad anrichtete.
  • Bis auf sechs Ausnahmen waren es alles Männer, die das Feuer auf ihre nichtsahnenden Opfer eröffneten, auch auf Frauen und Kinder.
  • In der Mehrzahl der Fälle griff der Täter im beruflichen Umfeld (commercial environment) zur Waffe, es folgten Schulen, Andachtsräume, Krankenhäuser und Militärgelände.
  • In einem Viertel der Fälle beging der Täter Selbstmord noch bevor die Polizei eintraf.
  • Die Motivlage war allermeist Ärger und Frust, was nach Ansicht der Täter ihren Gewaltexzess rechtfertige.
  • Die Zunahme dieser Gewalttaten geht, so vermuten Profiler des FBI, auch auf die Aufmerksamkeit zurück, die man mit solch einer Tat erreicht.
  • All diese Gewaltexzesse verteilen sich auf 40 der 40 US-Bundesstaaten und ereigneten sich gleichermaßen in Städten und kleinen Gemeinden. Meist war solch ein Gewaltausbruch nach weniger als fünf Minuten zu Ende – die Überlebenden leiden ein Leben lang.
Diagramm aus der FBI-Statistik: FBI Study of Active Shooter Incidents in the United States Between 2000 and 2013

Diagramm aus der FBI-Statistik: FBI Study of Active Shooter Incidents in the United States Between 2000 and 2013

Den Frust austoben

Diesen selbst die Amerikaner erschreckenden Anstieg von Gewaltausbrüchen muss man wohl als Teil jener großen „Abwicklung“ begreifen, die George Packer in seiner gleichnamigen Langzeitstudie beschreibt. (Siehe die CM-Besprechung in dieser Ausgabe.) Aus dem einzelnen jungen Mann von 1958, der im Prolog von John Dos Passos U.S.A.-Trilogie durch die Menge läuft („The young man walks fast by himself through the crowd…“), verletzt und ärgerlich wegen all der gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten, aus den bei Packer durch die große Abwicklung „in die Freiheit“ entlassenen Amerikanern werden eben auch Amokläufer. Und das dramatisch immer öfter – bei zunehmender Konfliktlage im Inneren und Äußeren.

Hier mehr zum FBI-Report

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„Going Postal“ nannte man in den 1970er und 1980ern das Phänomen, dass einzelne Männer vornehmlich in Postämtern (als örtliche Symbole der Bundesregierung) Amok liefen. Der Thrillerautor Stephen Hunter beschrieb 2011 in „Soft Target“, welche Schlächterei entschlossene Täter in einem Einkaufszentrum anrichten können. Das Buch durfte in einem Akt der verlegerischen Selbstzensur erst nach dem verkaufsträchtigen letzten November-Wochenende, nach Thanksgiving, dann am 6. Dezember 2011 in USA erscheinen, obwohl damit ein Teil des möglichen Geschäftes wegfiel. Der Verlag wollte keine akute Nachahmungstat riskieren, dennoch einen Teil des Vorweihnachtsgeschäftes mit seinem Bestsellerautor mitnehmen, sonst hätte es ja auch im Februar erscheinen können.

killing of America01Leonard Schrader: The Killing of Amerika

Aus dem Jahr 1982 stammt folgender Satz: „Wenn ein Japaner durchdreht, schließt er das Fenster und ersticht sich selbst. Wenn ein Amerikaner durchdreht, öffnet er das Fenster, wird zum Scharfschützen und tötet andere.“ Gesprochen wird dieser Satz in einem Dokumentarfilm, der in den USA viele, viele Jahre nicht zu sehen war, weil die US-Verleihfirma ihn zwar kaufte, aber wegsperrte. Es ist der Film „The Killing of America“ von Leonard Schrader und Sheldon Renan, das Drehbuch stammte von Schrader und seiner japanischen Frau Chieko. Leonard Schrader, der Bruder von Paul Schrader, Drehbuchautor von Scorseses „Taxi Driver“ (auch ein Amoklauf), war ein ausgewiesener Japan-Kenner. Er schrieb das Drehbuch zu „Mishima“, entzweite sich mit seinem regieführenden Bruder Paul über diesen Film; auch die Romanvorlage und das Drehbuch für einen der besten Gangsterfilme überhaupt stammen von ihm: „Yakuza“ (1975), von Sydney Pollack mit Robert Mitchum verfilmt. Der heute noch absolut lesbare Roman wurde von Jürgen Bürger übersetzt. Leonard Schrader starb 2006.

killing of Amerika _dutch07Sein Thema war die Zunahme der Gewalt in Amerika. Er las die offiziellen Statistiken gegen den Strich, sah eine Veränderung bei den Mordtaten seit dem Attentat auf John F. Kennedy. „Mord“, schrieb er, „wurde fast zu einer Mode, zu einer neuen Form der Selbsttherapie. Amerikaner benutzen jetzt andere Amerikaner, um in Situationen auf Leben und Tod ihre Probleme auszukurieren und nehmen dabei in Kauf, dass das für viele tödlich endet. Es ist so einfach, in Amerika zur Waffe zu greifen. Dieses Land tötet sich selbst.“

PS: Leonard Schraders Satz vom Unterschied zwischen Amerikanern und Japanern bezieht sich mit auf einen bestimmten Vorfall: Am 1. August 1966 bestieg der ehemalige Marineinfanterist Charles Joseph Whitman den Turm der University of Texas in Austin, erschoss 17 Menschen und verletzte weitere 66. An ihn heran zu kommen und das furchtbare Zielschießen zu beenden, hatte die örtliche Polizei nahezu überfordert. Das Attentat wurde zum Anlass, in vielen Städten Amerikas SWAT-Teams aufzubauen, Spezialeinheiten für „Special Weapons and Tactics“.

Alf Mayer

The Killing of America. Dokumentarfilm, USA 1982. Regie: Sheldon Renan und Leonard Schrader (unbenannt). Buch: Written by Leonard Schrader und Chieko Schrader. Produktion: Leonard Schrader und Mata Yamamoto. Ungeschnittene Länge: 89 Min. In voller Länge bei YouTube. Siehe auch: leonardschrader.com.

Whitmans Schießerei vom Glockenturm der Universität von Texas in Austin, eine der ersten Liveübertragungen solcher Art. 47 years later, Whitman’s tower shooting still a haunting memory for Texans

Interaktive Karte von „Rolling Stone“ über den Waffengebrauch in den US-Bundesstaaten: „Which ist the Most Dangerous State?“

Eine Übersicht der Schießereien an Schulen in USA.

PDF des FBI-Reports „FBI Study of Active Shooter Incidents in the United States Between 2000 and 2013“

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