Die Welt bewegt sich langsamer, als habe die Erde ihre Drehzahl runtergeschraubt. Stille Straßen, ein Trecker tuckert vor mir her, über den Feldern kreisen die Habichte. Ich fahre zur Arbeit. Acht Patienten täglich, vier vormittags, vier nachmittags, ganz normal. Im Treppenhaus begegne ich einer Kollegin, sie hustet wie immer. Allergie. Weiß ich ja. Wir lächeln und wünschen uns einen frohen Tag. Zum Mittag treffen wir uns jetzt mit Abstand in der Küche. Ich erzähle ihr, was ich in „Militärmedizin“ und in „Mikrobiologie“ im Medizinstudium in den 1980ern über Pandemien gelernt habe, seinerzeit bezweifelnd, dass es so etwas nachdem die Pest nur noch Madagaskar bewohnte, geben könnte. Die Grenzen waren nahezu virendicht, die Regale allerdings viel, viel leerer. Die Zeit dehnte sich wie jetzt …

Letzte Woche in einer Mittagspause pflanzte ich eine Kletterrose neben die Terrasse des Praxishauses. Wer weiß, was wird. Da kann die schon mal wachsen. Bienen werden sich an ihren Blüten laben, Vögel an ihren Früchten. Bis das soweit ist, werden wir immun gegen das Virus sein, oder tot.
Vielleicht. Ich bin nicht sonderlich ängstlich, aber man weiß ja nie.
Die Ängstlichen sind seltsamerweise nicht ängstlicher in diesen Tagen als sonst, die Depressiven nicht unglücklicher. Bisher jedenfalls und entgegen öffentlicher Prognosen selbsternannter Experten, die miese Laune verbreiten müssen.
„Was mich nicht mehr so quält“, sagt Herr X: „ist das schlechte Gewissen. Dass ich nicht zur Arbeit kann, dass ich nicht so viele Menschen um mich haben kann.“
Ändern sich die sozialen Bedingungen, sind Symptome plötzlich keine mehr, sondern angemessenes Verhalten. Rückzug ins Private ist gerade sowas von schlau. Ein Beitrag zur Begrenzung der Epidemie.
„Ach was“, sagt Frau Y auf meine Frage: „ich hab doch keine Angst vor Corona. Ich hab einfach Angst, dass mein Herz stehen bleibt.“ Frau Y ist 33 Jahre und kardiologisch nachgewiesen kerngesund. Sie arbeitet in einem Pflegeheim, ist alleinerziehend und immer gut drauf. Ich mag die Ängstlichen, sie sind lustig.

Ich mag alle, die es schaffen, sich ihren inneren Konflikten zu stellen. Sie kommen tapfer in die Praxis, weinen die Tränen, die längst hätten geweint werden müssen oder stemmen sich endlich gegen Verbote, es sei denn, sie stehen unter Quarantäne. Wir geben uns nicht die Hände. (Das mache ich im Kampf gegen die Influenza in den letzten 10 Jahren bereits so. Erfolgreich!) Wir halten Abstand.
Aber die Rede, die über das innere Chaos hinweghilft, ist in dem Raum zwischen uns.
Auf dem Heimweg begegne ich einem Storch. Ich mache die Wäsche und das Abendessen, noch einen Film ansehen, dann zu Bett. Für mich ist alles wie immer. Bevor sich schlafe, streift mich ein Gedanke: Ich muss was aufschreiben. Eine Geschichte, die erzählt gehört, keine erfundene, sondern ein Skandal, der sich nicht wiederholen darf. Und ich muss das jetzt machen. Bevor ich tot bin. Man weiß ja nie …