Erwartungsvoll
Kaum startet der Vorverkauf der Berliner Filmfestspiele, sind Tickets für Wettbewerbsbeiträge meist schon vergriffen. Übrig bleiben über 300 Filme in zwölf weiteren Sektionen – deren kategorische Unterscheidung für Außenstehende oft schwer nachzuvollziehen ist – sowie zahlreiche Talks, Walks und Parallelveranstaltungen wie die „Woche der Kritik“. Angesichts dieses Angebots scheint restlose Überforderung vorprogrammiert. Deshalb für jene, die nicht die Zeit aufbringen können, sich durch das 146seitige Berlinale Journal zu kämpfen, ein paar vereinzelte Einblicke in einige dieser Rubriken.
Andauernde Classics
In den Berlinale Classics kehren alte Werke aus den unterschiedlichsten Jahrzehnten und Ecken der Welt in neu digital restaurierten Fassungen zurück. Darunter der nun fast zu gut aussehende Tokyo boshoku (dt. Tokio in der Dämmerung, 1957) von Yasujiro Ozu, ein Regisseur, mit dem man nie im falschen Film sitzt. Wie gewöhnlich bei dem japanischen Altmeister steht ein Generationskonflikt im Zentrum, um den herum sich ein Familiendrama entfaltet. Bei einer Laufzeit von 140 Minuten handelt es sich hier um einen ungewöhnlich langen Eintrag in das Spätwerk Ozus, der die Dauer nutzt, um mit seinem gesetzten Stil mehrere miteinander verwobene Schicksale behutsam zu porträtieren und dabei tiefgreifende Verstrickungen aufgehen lässt. Dabei verzichtet der Regisseur auf die übliche, kindlich spielerische Leichtigkeit und auf selbstreflexives Augenzwinkern, um ein düsteres Drama zwischen einer älteren Generation zu zeichnen, die schweigsam alte Geheimnisse mit sich trägt, und ihren bereits erwachsenen Kindern, die verzweifelt versuchen, nicht die Fehler der Eltern zu wiederholen.
Genre Panorama
Ein weiterer fast zweieinhalbstündiger, bedächtig erzählter, durch lange Kameraeinstellungen und souveräne Bild- und Raumgestaltung hervorstechender japanischer Film lässt sich mit Yocho (eng. Foreboding, 2017) im Panorama finden. In der Programmbeschreibung wird eine Verbindung verschiedener Genres angekündigt, wobei hier nur sehr begrenzt Genrekonventionen erfüllt werden, und wenn dann nur mit einem subtil ironischen Unterton. Stattdessen erkundet der Film von Kiyoshi Kurosawa das titelgebende Gefühl einer (düsteren) Vorahnung und wandert mit ruhiger Entschlossenheit – was sich vorbildlich in der Kameraführung spiegelt – einen zunehmend dunklen Pfad entlang: Zunächst verlieren vereinzelte Personen jegliche Auffassung von gesellschaftsgrundlegenden Konzeptionen wie Familie, Stolz, Vergangenheit, Zukunft oder Todesangst, nach und nach breitet sich das Phänomen wie ein Virus in der entsättigten Welt des Films aus, dann brechen Menschen an ihren Arbeitsplätzen einfach zusammen, während eine lange skurrile Gestalt umherschleicht, die langsam dazu lernt.

Yardie, im Panorama, GBR 2018, von Idris Elba © STUDIOCANAL
Wer sich im (tatsächlichen) Genrekino wohler fühlt, trifft ebenfalls im Panorama mit Yardie (2018) auf einen gelungenen Gangsterfilm. Das Regiedebut von Schauspielstar Idris Elba setzt in den Siebzigerjahren in Jamaika ein, siedelt jedoch schnell in ein London der Achtzigerjahre über, das von Yuppies, Türken, Punks und eben Yardies –Patois für jamaikanische Auswanderer – bevölkert wird, die sich mit Kokain und Musik durchschlagen müssen. Während im sonnigen und bunten Jamaika dem Protagonisten D. zwei mögliche Wege eröffnet werden, muss er im kalten und grauen London lernen, seinen eigenen Weg zu gehen. Verfolgt von seiner Vergangenheit und einem Rachetrieb, bleibt er ein zwiespältiger Charakter, der es dem Publikum zeitweise schwer macht, auf seiner Seite zu stehen.
Bunt durchmischtes Forum
Das Forum (ungeachtet des eigens kuratierten Forum Expanded) stellt mit 56 Filmen in allen denkbaren Formaten und Längen, aus aller Welt sowie verschiedenen Zeiten die wohl unübersichtlichste Sektion der Berlinale. Neben zahlreichen Weltpremieren finden sich hier unter dem Label ‚Special Screenings‘ unter anderem neu restaurierte Werke aus den Siebzigerjahren wieder.
Eines davon ist der schon damals im Forum aufgeführte 11×14 (1977) vom US-amerikanischen Landschaftschronisten James Benning. Wie in zahlreichen seiner späteren Werke besteht der Film größtenteils aus Landschaftsaufnahmen, bei denen sich die Kamera kaum oder überhaupt nicht bewegt. Bewegung geht eher von menschlichen Bauten und Fahrzeugen aller Art aus, welche die Landschaften auf verschiedene Weise durchkreuzen und umgestalten. Wie spätestens bei einer minutenlangen unbewegten Einstellung einer U-Bahnfahrt durch Downtown Chicago klar wird, findet man hier keine Handlung im klassischen Sinne oder gar irgendeine Form zusammenhängender Dialoge. Kann man sich jedoch auf diese zutiefst kontemplative Seherfahrung einlassen, dann bieten die präzise kadrierten Bildkompositionen ein aus heutiger Sicht (zumindest für Americana-Nostalgiker) beachtenswertes Dokument der USA aus den Siebzigern.

Shaihu Umar, Forum, NGA 1976, von Adamu Halilu Umaru Ladan © Nigerian Film Corporation
Aus dem gleichen Jahrzehnt entspringt auch der lange als verschollen gegoltene Shaihu Umar (1976) aus Nigeria, der in Kooperation mit dem Kino Arsenal nun restauriert wurde. Basierend auf einer Novelle von Abubakar Balewa – dem ersten Ministerpräsident des unabhängigen Nigerias – bietet der Film die (sich leider etwas in die Länge ziehende) Nacherzählung des Lebens eines muslimischen Gelehrten namens Umar. Mit märchenhaftem Charakter wird geschildert, wie er als Kind entführt und über die Sahara nach Ägypten gebracht wird, später als belesener Mann den Weg zurück in seinen Heimatort findet. Dabei liegt der Reiz dieses Werks von Regisseur Adamu Halilu weniger in den immer wiederkehrenden Szenen, wo bunt eingekleidete Männer in mit unzähligen Teppichen ausgelegten Innenräumen die Größe Allahs betonen, als in Aufnahmen der Saharawüste sowie in der Kritik an dem Sklavenhandel, der zwischen Subsaharischer und Arabischer Welt stattgefunden haben muss. Ein Einblick in die Hausa-Kultur, der von seiner Entstehungszeit jedoch seltsam abgesondert scheint.
Hommage an Jesus und den Ehemann des Antichristen

To Live and Die in L. A. | Leben und Sterben in L.A. Hommage USA 1985 Willem Dafoe, Debra Feuer © 1985 METRO-GOLDWYN-MAYER STUDIOS INC., All Rights Reserved.
Die Hommage des Festivals ist mit Willem Dafoe einem der markantesten Gesichtern (und Stimmen) Hollywoods gewidmet. Dabei stehen nicht so sehr seine bekanntesten Filme, wie etwa seine Rollen bei Filmautoren aus primär den Achtziger- und Nullerjahren im Fokus, was das Berlinale-Publikum sicherlich begrüßen wird. Neben Martin Scorseses kontroversem Portrait eines geplagten, unsicheren und allzu menschlichen Jesu in dem abgedrehten The Last Temptation of Christ (dt. Die letzte Versuchung Christi, 1988) – in dem die Römer wie Briten und die Jünger wie New Yorker Gangster klingen – verspricht hier To Live and Die in L.A. (dt. Leben und Sterben in L.A., 1985) einen unvergesslichen Kinobesuch. Als Kontrahent des vor nichts (auch nicht dem Gesetz) zurückschreckenden Cops Richard Chance (William L. Petersen) verkörpert Dafoe in der Rolle des Künstlers und vor allem Fälschers Eric Masters den vermeintlich entscheidenden Archetypen des Kinos seit der Nachkriegszeit. Regisseur William Friedkin, bekannt für The Exorcist (dt. Der Exorzist, 1973) und The French Connection (dt. Brennpunkt Brooklyn, 1971), hatte mit letzterem die damals beeindruckendste Verfolgungsjagd der Kinogeschichte auf Film festgehalten. Als Herausforderung an sich selbst beschloss er, diese Leistung mit To Live and Die and L.A. nochmals zu übertreffen. Die daraus resultierende atemberaubende Car-Chase schafft es, in einem von Kamera-Legende Robby Müller herausragend gestalteten Film mitreißend hervorzustechen. Selten hat L.A. im Kino so gut ausgesehen, wurde so hautnah erlebt.
Das beschließt die Empfehlungen eines erwartungsvollen Festivalbesuchers, der sich aus dem Wettbewerb, Berlinale Special, Forum Expanded, der Generation, Perspektive Deutsches Kino, Retrospektive, den Shorts, dem kulinarischem Kino, NATIVe und Berlinale goes Kiez noch nichts anschauen konnte. Nach dem offiziellen Beginn der Berliner Filmfestspiele am Donnerstag den 15.02.18 sollte sich das schnell ändern. Ein weiterer Bericht zur 68. Berlinale wird also nicht lange auf sich warten lassen.
Dominique Ott