
Heimatsuche
von Katrin Doerksen
Weil die Leute nun einmal gern in vorgegebenen Rahmen denken, hängt auf der 70. Berlinale, der Ersten unter künstlerischer Leitung von Carlo Chatrian, ziemlich viel an einer Frage: Wäre dieser oder jener Film auch unter Dieter Kosslick im Programm gelandet? Am Eröffnungstag des Festivals lautet die Antwort für’s Erste: Wahrscheinlich schon. Den Auftakt des Jahrgangs bildet Philippe Falardeaus My Salinger Year, die Verfilmung der Memoiren von Joanna Rakoff, die im New York der 1990er Jahre bei einer Literaturagentur die Fanpost an J.D. Salinger bearbeitete.
Aufstrebende Autorin aus der Provinz (Margaret Qualley) tritt in der Großstadt ersten Assistenzjob an und reibt sich für ihre je nach Tagesform launische bis tyrannische Chefin (Sigourney Weaver) auf: My Salinger Year ist bis hin zu den Konstellationen der Nebenfiguren eine intellektuelle Variante von Der Teufel trägt Prada. Allerdings weniger bissig. Und auch mit weniger Interesse für das Business in seinem Zentrum. Die Räumlichkeiten der Agentur machen im Film nie den Eindruck eines bedeutsamen Ortes, wenn dort auch Autorinnenlegenden wie Judy Blume oder Rachel Cusk, die 1993 ihren ersten Roman veröffentlichte, ein und aus gehen. Dafür klebt die Kamera enthusiastisch an Margaret Qualley, deren Joanna die obligatorischen Initiationsriten künstlerisch-intellektueller Neu-New-Yorkerinnen durchläuft: Ein radikaler Schnitt von ihrer Vergangenheit, eine heruntergekommene Bruchbude in zwielichtiger Nachbarschaft, ein Freund, der seinen Egozentrismus nur unzureichend hinter einer charmant-knautschigen Künstlerattitüde verbirgt. Diese New-York-Bilder haben mit den aktuell in den Magazinen der Zielgruppe des Films präsenten Neunziger-Jahre-Trends (in etwa: Crop Tops, Bauchtaschen und Sonnenbrillen mit pinkem Glas) ebensowenig zu tun wie Qualleys brav gescheitelte Literaturstudentinnenfrisur.

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Mit der Zielgruppe sind wir aber vielleicht auch schon beim Knackpunkt von My Salinger Year. Der zurückgezogen lebende J.D. Salinger galt, vor allem dank Holden Caulfield, als Autor, der die Jugend verstand. Falardeau inszeniert ihn als Phantom, als freundlichen Geist, als Stimme am Telefon, als Projektionsfläche. Und genau als das, als Projektionsfläche, funktioniert auch sein Film. Da kann er sich noch so passgenau in die Schublade gut gemeinten, doch letztlich harmlosen Arthousekinos fügen. Wer jung ist, und das unabhängig von seinem Geburtsdatum, wer die Literatur und das Schreiben liebt und sich an das Wunder erinnert, sich zum ersten Mal in einer fiktionalen Figur wiederzuerkennen, der wird auch My Salinger Year einiges abgewinnen können. Und ihn nach relativ kurzer Zeit wahrscheinlich wieder vergessen.
Ein Film, der Druckerzeugnissen in Wort und Bild eine ähnlich große Bedeutung einräumt, wenn auch in einem gänzlich anderen Kontext, ist Andrew Levitas’ Minamata. Johnny Depp spielt den renommierten Kriegsfotografen Eugene W. Smith während der letzten und zugleich einer der bedeutendsten Phasen seiner Karriere: Anfang der 1970er Jahre reiste Smith nach Japan und half dort internationale Aufmerksamkeit für den Kampf gegen einen mächtigen Chemiekonzern zu gewinnen, der Quecksilbervergiftungen großer Teile der Bevölkerung verschuldete. Eines seiner berühmtesten Bilder, Tomoko in Her Bath, entstand im Rahmen dieser Arbeit.

Levitas erzählt Minamata zum einen als Läuterungsgeschichte eines abgehalfterten Rockstar-Egos (eine Rolle, wie geschaffen für Johnny Depp), gestrickt nach recht vorhersehbaren Mustern (Künstler tut etwas für schöne Frau, schöne Frau verliebt sich in Künstler. Das Übliche eben, das in diesem Fall allerdings dem historischen Geschehen entspricht). Zum Anderen aber erzählt er Minamata auch als Mediengeschichte: Die Entstehung der Minamata-Reportage fiel in die Zeit, als das Life-Magazin seinen wöchentlichen Erscheinungsrhythmus aussetzen musste. Am Rande des Films offenbaren die Telefonate zwischen W. Eugene Smith und Chefredakteur Robert „Bob“ Hayes (Bill Nighy) den dramatischen Nebenschauplatz: sinkende Werbeeinnahmen, immer stärkere Konkurrenz durch das Fernsehen. Dem entgegen setzt Levitas eine deutlich erkennbare Liebe zum Handwerk, zum Analogen. Mindestens ebenso häufig wie seine Bildsubjekte zeigt er Smiths Minolta in Detailaufnahme, wie lange der Fotograf braucht um zu fokussieren, wie er in aller Ruhe durch den Sucher schaut, um schließlich im richtigen Moment auszulösen.
Wo Philippe Falardeau in My Salinger Year das beginnende Zeitalter der Digitalisierung vor allem als Vorlage für Running Gags benutzt – klobige Aufnahmegeräte und Computer stehen darin als eindeutige Fremdkörper im Raum und Sigourney Weavers Figur wird nicht müde zu betonen, dass sie mit dem baldigen Ende dieses Trends rechnet – geht es Andrew Levitas eher um den demokratisierenden Effekt leicht verfügbarer Medien und Materialien: Tatsächlich weigerte sich W. Eugene Smith zugunsten des Mediumformats auf seine handliche und günstigere 35mm-Kamera zu verzichten und nahm dafür sogar in Kauf, dass Auftraggeber ihn feuerten. Sein nasses Fotopapier im Fixierbad scheint in Minamata ebenso greifbar wie das dünne Papier, aus dem die japanischen Aktivisten, dicht beschrieben mit Protestparolen, ihre Plakate und Hüte basteln.
Auch Jia Zhang-ke würde wohl zustimmen, wenn es um die Kraft des Gedruckten auf einem Blatt Papier geht. Für seinen Dokumentarfilm Swimming Out Till The Sea Turns Blue (Berlinale Special) kehrt er zurück in seine Heimatregion Shanxi, die in seiner Filmografie seit jeher eine zentrale Rolle einnimmt. Hier hat er vor einigen Jahren ein Literaturfestival gegründet, das er nun zum Anlass nimmt, um vor der Kamera mit einigen von Chinas wichtigsten zeitgenössischen Autoren über die Bedeutung des Ländlichen, des Dörflichen in ihrem Leben und Werk zu sprechen. Zahlreiche chinesische Filmemacher setzen sich seit Jahren mit dem rasanten Wandel in ihrem Heimatland auseinander und viele von ihnen wählen dafür die Form epischer Dramen, deren Handlungen sich über Jahrzehnte erstrecken. Jia Zhang-ke selbst präsentierte 2015 mit Mountains May Depart einen solchen Film. Swimming Out Till The Sea Turns Blue nähert sich dem gleichen Thema nun aus einer ganz anderen Richtung.

Vom Kleinen ausgehend, dem Landleben, entfaltet er in Interviews mit den Schriftstellern und vornehmlich älteren Bewohnern seines Heimatdorfes nach und nach das subversive Potential des Lebens außerhalb des direkten Zugriffs der im städtischen Raum konzentrierten Behördenarme. Seine eigene Subversion liegt dabei im Sichtbarmachen des individuellen Leids innerhalb der kollektiven Geschichtsschreibung. Die Dorfbewohner berichten von Zwangsumsiedlungen, von verhinderten Karrieren aufgrund als Konterrevolutionäre geltender Verwandter, von Mangel und Not und Jia Zhang-ke stellt ihre Aussagen gleichwertig neben zackige Revolutionsmärsche und die Verse bekannter Dichter. In seinem Kanon der Geschichte sind alle Stimmen gleich viel wert.
Auch die Filme der Berlinale-Sektion Panorama erzählen in diesem Jahr vermehrt von inneren und äußeren Suchbewegungen. Was ist Heimat, fragen sie, und ist Heimat gleichbedeutend mit Herkunft? Diese Frage beschäftigt auch die deutsch-mongolische Regisseurin Uisenma Borchu. Ihr semibiografischer Film Schwarze Milch erzählt von einer jungen Frau, die ihre als Nomadin in der mongolischen Steppe lebende Schwester besucht. Borchu selbst spielt die Hauptrolle und ihre persönlich involvierte Perspektive prägt den Film: Eine einerseits staunende Perspektive, die voller Faszination auf das Leben in der Steppe blickt. Auf ihre Schwester, wie sie den Gaumen aus einem gekochten Ziegenschädel schneidet und sich in den Mund steckt. Wie sie schwungvoll Holz hackt und in Milch badet. Aber andererseits auch eine Perspektive, die zu informiert ist, um angesichts dieser Faszination in romantisierenden Weltkinokitsch zu verfallen. Die Verwandten ermahnen sie zunächst spielerisch und dann immer unnachgiebiger: Du kennst doch unsere Traditionen, pass dich gefälligst an! Mehr und mehr wird Schwarze Milch für die beiden Schwestern im Zentrum zur Geschichte einer Selbstermächtigung, nur dass sie dabei gegen völlig unterschiedliche Konventionen und Erwartungen an sich selbst ankämpfen.

Auch der Brasilianer Matias Mariani beschreibt in seinem Debüt Cidade Pássaro eine Suchbewegung, die sich von außen immer mehr nach innen richtet. Amadi (O.C. Ukeje) kommt aus Nigeria nach São Paulo, um seinen älteren Bruder zu finden, der dort an einer Universität lehrt. Ikenna, gespielt von dem aus der Netflix-Serie When They See Us bekannten Chukwudi Iwuji, ist verschwunden, seine Universität existiert nicht einmal. Doch an das überlebensgroße Phantom seines Bruders reicht Amadi als Zweitgeborener erst recht nicht heran. Seine Suche ist in erster Linie ein Kampf mit seinen eigenen Minderwertigkeitskomplexen und Mariani setzt dafür filmisch Himmel und Hölle in Bewegung: Er bemüht die reichen literarischen und oralen Traditionen Nigerias ebenso wie die avantgardistisch-brutalistische Architektur São Paulos, Musik ebenso wie Mathematik, einen wunderbar pastellig-körnigen 16mm-Look im 4:3-Format ebenso wie die pixeligen Artefakte schrammeliger Videoclips aus der Anfangszeit der Digitalkameras, die sich auf’s Schönste mit dem Filmkorn überlagern.

Ein weiteres starkes Spielfilmdebüt im Panorama liefert Bassam Tariq. In Mogul Mowgli geht die Auseinandersetzung mit den eigenen Wurzeln buchstäblich an die Substanz: Der pakistanisch-britische Rapper Zed (Riz Ahmed) steht kurz vor einer internationalen Tournee, die ihm mit seinen hochpolitischen Texten endlich den erhofften Durchbruch bescheren soll. Kurz vorher besucht er erstmals seit zwei Jahren seine Eltern in London, wo ihn eine mysteriöse Autoimmunkrankheit befällt. Plötzlich rebellieren seine eigenen Zellen gegen ihn. Die Grundidee von Mogul Mowgli ist also eine groß angelegte Allegorie. Für Bassim Tariq allerdings kein Grund für Verkopftheit, stattdessen inszeniert er seinen Protagonisten im Konflikt der Kulturen, der Klassen, Generationen und Männlichkeitsbilder als energiegeladenen Trip. Zeds Krise äußert sich in Alpträumen und Halluzinationen: Rap-Battles überlagern sich vor seinem geistigen Auge mit der Qawwali-Musik aus seiner Kindheit und Erinnerungen an die Flucht seiner Eltern. Ein Knall vor den Latz, so treffsicher wie eine von Zeds Punchlines.

Um danach wieder runterzukommen zu guter Letzt noch ein Ausflug ins Forum. Kazuhiro Soda habe ich an eben jenem Ort vor zwei Jahren entdeckt, als er Inland Sea im Kino Arsenal präsentierte. Der Japaner beschreibt seine Werke als observational films. Filme also, für die er sich mit seiner Kamera an einen möglichst spezifischen Ort begibt und dort schlicht und einfach beobachtet. Ohne Synopse, ohne konkretes Ziel vor Augen, frei nach dem Motto: Nichts auf der Welt ist uninteressant. Für seinen Film Mental hatte Soda 2008 den Alltag in einer psychiatrischen Anstalt begleitet. In Seishin 0 kehrt er nun zum Protagonisten von damals zurück: Dr. Yamamoto ist mittlerweile 82 Jahre alt und bereitet sich auf die Rente vor. In langen Patientengesprächen (alle sind verzweifelt, weil der Arzt ihres Vertrauens sie verlässt), letzten Vorlesungen und vereinzelten kurzen Abschnitten aus Mental konzentriert sich der Film zunächst auf das berufliche Vermächtnis des Arztes, bevor er nach etwa zwei Dritteln eine unerwartete Wendung nimmt.

Mit einigen Schritten Abstand folgt der Regisseur Dr. Yamamoto und seiner Frau Yoshiko nach Hause, wo umso deutlicher die Opfer sichtbar werden, die die ganze Familie über die Jahre gebracht hat. Yoshiko Yamamoto, einst eine hochgebildete, vielseitig talentierte Frau, leidet seit Jahren unter Demenz. Sie erinnert sich kaum, wie die Patienten ihres Mann zu ihnen nach Hause kamen, oftmals zum Erschrecken der damals noch kleinen Kinder des Paares. Wie oft sie in ihrem Leben allein blieb, ihr Mann rund um die Uhr in der Klinik. Nun kümmert sich Dr. Yamamoto endlich einmal um seine Frau und Kazuhiro gelingt es mit seiner höflich zurückhaltenden Art nicht nur ein Gefühl dafür zu vermitteln, welche körperlich aufgezwungene Langsamkeit von nun an den Alltag der Yamamotos bestimmt. Sondern auch, welche innerlichen Konflikte der Psychiater nach wie vor auszufechten hat. „Bitte gehen Sie nicht,“ flehen ihn seine Patienten nach wie vor an, „bitte sterben Sie nicht.“ Ähnlich wie schon Inland Sea zeigt auch Seishin 0, welche Last auf den Schultern einzelner Individuen liegt, wenn Fürsorgesysteme an ihre Grenzen stoßen.