Insel-Sommer
Längst gelten skandinavische Serien als Garant für clever gebautes, spannungsreich tiefgründiges Heimkino. Die im Sommer 2015 auf arte ausgestrahlte, von Kritikern hochgelobte, vom Publikum begeistert aufgenommene Dramaserie „Blutsbande”, bestätigt indes für unsere Autorin Anna Veronica Wutschel eher die alte Weisheit, dass es zu der Regel immer auch Ausnahmen gibt.
Sicher, „Blutsbande” fährt mit so ziemlich allem auf, was Erfolg verspricht: der herrlich rauen, wildromantischen Natur der Åland-Inseln, einer kleinen Gästepension voller Retro-Charme sowie Familienbanden, die – ähnlich dem in „Blutsbande” aufgeführten -Stück „Der Kirschgarten” – vielerlei Fragen nach Wertesystemen und Beziehungen aufwerfen. Düster hängt die Vergangenheit über dem Treiben, düster gestaltet sich trotz aller oberflächlich zur Schau gestellten Betriebsamkeit die Gegenwart.
Mit einer kurzen Postkarte beordert Anna-Lisa Waldemar (Stina Ekblad) ihre zwei auf dem Festland lebenden Kinder auf die Insel, auf der sie mit Oskar (Joel Spira), ihrem jüngsten Sohn, und dessen Frau die Pension mit Kaffee und Kuchen ganz altmodisch, angestaubt nostalgisch führt. Die als Schauspielerin erste Erfolge feiernde Jonna (Aliette Opheim) und ihr Bruder Lasse (Björn Bengtsson), der sich nicht nur mit einer Restauranteröffnung verspekuliert hat und arg mit der Schuldentilgung hadert, kommen nur widerwillig nach Hause. Und auch Oskar, der von dem anberaumten Familientreffen gänzlich überrascht wird, ist so gar nicht über das Wiedersehen erfreut. Nicht nur viele unausgesprochene Anschuldigungen liegen über der Zusammenkunft, vor allem Oskar sorgt sich, dass es zwischen seiner Frau Liv (Jessica Grabowsky) und Lasse zu einer Aussprache komme, war Liv doch einst mit Lasse liiert, und dessen unerwartete Flucht von der Insel ließ vor Jahren viele Fragen offen.
Großer Bogen, etwas überdehnt
Noch viel mehr Fragen stellen sich allerdings den Geschwistern, nachdem Anna-Lisa, die ihren Kindern noch kurze rätselhafte Botschaften mit auf den Weg gibt, ohne weiteren Abschied aufs Meer hinausrudert, um sich dort zu erschießen. Ihr Nachlass macht es schlimmer, Anna-Lisa hat ihren Kindern rein gar nichts vermacht, sondern das gesamte Erbe einer Anwältin übertragen, die leiblichen Nachkommen gehen nur dann nicht leer aus, wenn sie gemeinsam einen Sommer lang das Gästehaus leiten. Für Jonna und Lasse, die ein eigenes Leben fernab von Åland führen, steht diese, die einzige Option, zunächst außer Frage, sie können ihr Leben nicht für das Erbe aufgeben. Doch das Blatt wendet sich bekanntlich häufig, und Oskar würde ohne die Kooperation seiner Geschwister seine gesamte Existenzgrundlage entzogen werden.
Es liegt auf der Hand, wie sich Jonna und Lasse letztlich widerwillig entscheiden. Und dass so ein erzwungenes Sich-Zusammen-Raufen-Müssen eine Menge Komplikationen mit sich bringt, versteht sich ebenfalls wie von selbst. Dabei gestalten sich diese indes weitaus verwickelter, als man denken könnte. Realitäten und Illusionen, Perspektiven verschieben sich, Interessensbünde werden geschlossen und gebrochen, Hierarchien fallen in sich zusammen, um neu aufgebaut zu werden. So weit, so schön. Doch all die Verwicklungen wirken extrem schwerhändig zusammengebastelt, als wäre der große Bogen, die viel versprechende Storyline, unbedarft auf Serienlänge ausgedehnt worden; die Dreharbeiten zur zweiten Staffel der schwedisch-finnischen Koproduktion begannen bereits Anfang dieses Jahres.
Durchs Dickicht schlagen
Damit zwischen all den Irrungen und Wirrungen des Inselsommers der gewählte Rahmen, die Leitung einer Gästepension, nicht völlig aus dem Blickfeld verloren gerät, wird in der Pensionsküche ordentlich geschnibbelt und gebrutzelt, unbekannte Menschen, Gäste womöglich, laufen durchs Bild, Busladungen von Schulklassen lärmen vor der Rezeption und verschwinden wieder im Nichts. Rollige, einsame Ehefrauen und hormongesteuerte Halbstarke machen den eigentlich mit gänzlich anderen Dingen beschäftigten Familienmitgliedern eindeutige Avancen und werfen so ein paar moralische Fragen am Rande auf.
Ein verkleckertes Brautkleid macht viel Ärger, ein egozentrischer Liebhaber, der als Theaterregisseur auch schriftstellert, sorgt für Unmut, als er zunächst die Familiengeschichte aufs Papier und dann auf die Bühne bringt. Zu all dem Trubel gesellen sich eine verbittert unversöhnliche Nachbarin, fiese Geldeintreiber, noch fiesere Erpresser, ein verliebter Spekulant, ein unzufriedener Brandstifter und eine Leiche, die nicht verbuddelt bleiben darf. Überraschend wird eine zweite Leiche aus dem wilden Meer geborgen, die Polizei kreuzt immer mal wieder auf, durchschaut allerdings auch nicht, was bei den Waldemars so sonderbar Kriminelles vor sich geht.
Alle Unbill, wenn sie nicht zunächst einen Keil zwischen die Agierenden treibt, schweißt selbstverständlich die Familie immer enger zusammen. Was bleibt dazu zu sagen? Die Schauspieler geben sich redlich Mühe, sich durch so viel spannungsloses, lapidar erzähltes Dickicht zu schlagen. Doch wie formulierte es der Theaterregisseur, der sozusagen im Stück ein Stück über die Familie Waldemar verfasste? „Es soll wehtun, es soll schmerzen. Und verändern“, sagte er zu Jonna – und sprach voller Emotion über sein Stück, über das Theater, über die Kunst. Vielleicht hat er Recht. An diesem Anspruch gemessen, ist „Blutsbande” lediglich eine überflüssige, seichte Banalität.
Anna Veronica Wutschel
Blutsbande (Tjoackare än vatten). Staffel I. 4 DVDs. Darsteller: Björn Bengtsson, Aliette Opheim, Joel Spira, Stina Ekblad, Jessica Grabowsky u. a. Regie: Erik Leijonborg. Drehbuch: Henrik Jansson-Schweizer, Niklas Rockström, Morgan Jensen. Studio: Edel Motion. Produktionsjahr: 2013. Spieldauer: 583 Min. Erscheinungstermin: 2015. Sprache: Deutsch/Schwedisch. Dolby Digital 2.0.