Bob Leuci – ein Tribut
Thomas Adcock nimmt in dieser CrimeMag-Ausgabe Abschied von seinem überraschend verstorbenen Freund Robert „Bob“ Leuci. Fünf Leuci-Romane fanden den Weg in den deutschsprachigen Raum, sie sind lange vergriffen. Jürgen Bürger, der einige von ihnen ins Deutsche übertragen hat, will die ihm zugänglichen Leuci-Romane im nächsten Jahr in seinem spraybooks Verlag Bielfeldt + Bürger als eBooks herausbringen. Er hat uns freundlicherweise den Abdruck eines Kapitels aus „Fence Jumpers“ erlaubt, der 1998 von ihm übersetzt als „Abtrünnige“ im Schweizer Haffmans Verlag (Raben-Krimi Nr. 4) erschienen ist.
Thomas Wörtche schrieb damals über das Buch: „Drei junge Männer aus Queens hängen zusammen wie Pech und Schwefel. In den fröhlichen 60ern sind sie Buddies, in den bösen 80ern stehen sie auf verschiedenen Seiten, weil sie ihren Vätern gefolgt sind. Der eine ist ein mittlerer Mafia-Boss, die anderen beiden bei der Polizei, und einer davon auf verwickelte Weise korrupt. Wie verästelt und kompliziert eine solche Gemengelage aus Freundschaft, Loyalität, professionellen Sachzwängen und der Unfähigkeit, wirklich miteinander zu reden, sein kann, legt Leuci Schicht für Schicht frei. Erschwerend hinzu kommt, daß sich „gut“ und „böse“ nicht in „Mafia“ und „Polizei“ übersetzen läßt, weil sich beider Wertesysteme, inkl. Machismo erheblich überlappen. Deswegen ist „Abtrünnige“ auch ein melancholischer Abgesang auf die „gute, alte“ Mafia, die zunehmend auseinanderfällt. Typen wie der Killergnom Karl Marx Syracuse sind im Monstrositätenkabinett gelandet, das Organisierte Verbrechen sieht heute anders aus. Die alten Cosa-Nostra-Leute und ihre lieben Feinde, die Cops, liefern sich ein letztes Shoot-Out, die global players sind längst im Hintergrund aufmarschiert.
Leucis Roman beschwört diese Zeiten noch einmal herauf, roh, fluchend, spuckend und kunstvoll nostalgisch. Ein Roman to end all mafia novels.“
Bob Leucis Bibliografie:
Doyle’s Disciples, 1984 (Doyles Jünger, Ullstein 1987)
Odessa Beach, 1985
Captain Butterfly, 1989 (Captain Butterly, Haffmans 1994, Jürgen Bürger)
Sweet Baby James, 1991 (Auf der Kippe, Haffmans 1994)
Double Edge, 1993
Fence Jumpers, 1995 (auch als: Renegades; dt. Abtrünnige, Haffmans 1998)
The Snitch, 1997 (Der Spitzel, Haffmans, 1999)
Blaze, 1999
All the Centurions. A New York City Cop Remembers His Years on the Street, 1961-1981. Memoiren, 2004
Hier ein Text von Thomas Wörtche über Bob Leuci aus dem Jahr 1996.
Und hier nun als Auszug aus Bob Leucis „Abtrünnige“:
KAPITEL ZWEI
Zwanzig Jahre später (1989)
Joseph Paradiso war gut einsachtzig groß, kräftig gebaut und gutaussehend, und wenn er einen direkt ansah und mit einem schrägen Seitenblick dieser schwarzen Augen fixierte, dann drehte man sich weg, wenn man war wie die meisten Menschen. Vieles an ihm wirkte einschüchternd. Er war tadellos gepflegt, und in den Geschäften an der Madison Avenue, wo er seine Kleidung kaufte, und entlang der 101st Avenue in Queens, wo er mit Freunden spazieren ging und über seine Geschäfte redete, war er sehr beliebt.
An diesem Junimorgen, als JoJo Queens mit Ziel Florida verließ, betrat ein Zwerg namens Karl Marx Syracusa mit JoJos Anweisungen im Kopf und einer 9mm–Beretta in der Tasche eine Kneipe an der Knickerbocker Avenue in Brooklyn. Der Zwerg jagte dem Mann eine Kugel in den Mund, der es gewagt hatte, vor einer Anklagejury JoJos Namen zu erwähnen.
An diesem Nachmittag stand JoJo mit einer Dose Erdnüsse in der Hand in einem Warteraum auf dem LaGuardia– Flughafen und verfolgte die Lokalnachrichten im Fernsehen. Er lächelte, als der Reporter, ein rothaariger Mann, den JoJo eine Null nannte, sagte: »Mein Informant bei der Polizei behauptet, dieser Mord sei das Werk eines Mafia–Killers.«
»Brillant«, sagte JoJo zu dem Mann rechts neben ihm.
Der Mann drehte sich um und setzte sich in Bewegung, warf noch einen Blick über die Schulter auf den Fernseher. »Kommen Sie, Boss«, sagte er. »Wir müssen den Flieger kriegen.«
Dreißig Stunden später saß JoJo auf dem Beifahrersitz eines gemieteten weißen Chrysler, der auf halbem Weg zwischen dem Orlando Hotel und dem Wet and Wild Water Park am Straßenrand stand.
Draußen wehte ein warmer Wind und starker Regen stand bevor. Die wenigen Palmen, die den Hotelparkplatz säumten, waren vom Wind zerzaust, sahen aus wie gerupft. Bizarre weiße Vögel, die ihn an Möwen erinnerten, aber keine Möwen waren, wanderten in den Lichtkegel einer Straßenlaterne. JoJo musterte sie aufmerksam, warf dann einen Blick zum Wasserpark hinüber, behielt die Hände auf dem übergroßen Diplomatenkoffer auf seinem Schoß. Es war zehn Uhr abends, und auf den Wasser– und Wildwasserbahnen war niemand mehr.
JoJo war leger gekleidet in Jeans und einen blutroten Kaschmirpullover, und zu den beigefarbenen Socken trug er Banfi–Halbschuhe. Seine Haut sah sonnengebräunt aus, doch hatte er von Natur aus einen dunklen Teint; die rabenschwarzen Haare hatte er zurückgegelt. Er hatte New York verlassen und war nach Florida gekommen, um sich mit einem Mann namens Luis Valero zu treffen. Ein Mann, der zu keiner Familie gehörte, ein Mann, der nicht Italiener war. JoJo dachte daran, dass er bald an einem Geschäftsessen teilnehmen würde, das von einem jüdischen Anwalt aus South Miami arrangiert worden war, einem Handelsmagnaten, dem Eigentumswohnungen, Segelyachten und Flugzeuge, zwei Kongressabgeordnete aus dem Rust Belt des Mittleren Westens und ein Sunshine–State–Senator gehörten, der in Country Clubs ging, wo er Golf spielte und Geschäfte mit einigen der wichtigsten Drogenschmuggler der Welt machte.
JoJo fühlte sich, als wäre er nicht Herr der Dinge, befände sich in den Händen von Fremden. Er war ängstlich, hatte mehr als nur ein bisschen Angst. In dem Diplomatenkoffer befanden sich zweihundertfünfzigtausend in Hundertern und Fünfzigern. Kubanische Drogendealer, das wusste er, können verrückt werden vor Habgier und zu Maschinenpistolen und Kettensägen greifen, wenn sie einem Geld abnehmen wollen. Und es war ihnen völlig schnurz, ob man zur New Yorker Mafia gehörte. JoJo war mit Leib und Seele davon überzeugt, sich am absoluten Tiefpunkt seines Lebens zu befinden, wie er hier saß und drauf und dran war, sich mit einem Reis– und Bohnenfresser im Land der Sonne–und–Spaß–Süchtigen zu treffen und Geschäfte zu machen.
Sie waren vom Lauderdale Airport raufgekommen, hatten die vierstündige Strecke auf dem Florida Turnpike in dem gemieteten Chrysler zurückgelegt und dabei schier endloses Riedgras an sich vorbeirauschen sehen. Bruno Greco, der consigliere der Paradiso–Familie, saß am Steuer. JoJo hatte breite Schultern und wirkte kräftig, aber neben Bruno erschien er klein und mickrig. Beide Männer waren über Generationen in der Mafia verwurzelt, und auch wenn Bruno zwanzig Jahre älter war als JoJo, folgte er bereit– und gutwillig allen Anweisungen, die JoJo ihm gab.
JoJo war ein »Unter«, der Unterboss der Mafiafamilie der Paradisos, einer Familie mit Problemen, einer Familie, deren finanzielle Grundlage erodiert war. Eine Familie auf dem besten Weg, Einfluss und Macht zu verlieren. Die Paradisos brauchten dringend einen beträchtlichen und kontinuierlichen Cashflow, und das schnell.
JoJos Vater Salvatore war ein finsterer Mann mit sterbendem Herzen. Der ältere Paradiso machte keinen Unterschied zwischen Leuten, die versuchten, ihn zu erschießen oder zu erstechen, und solchen, die ihn zum Narren hielten. Der Skipper, wie JoJo seinen Vater nannte, verfluchte wie alle Mafiosi alten Stils in einem Atemzug die Schwarzen und Latinos wegen ihrer Drogengeschäfte und lobte im nächsten ihre Fähigkeit, Geld zu verdienen und Feinde aus dem Weg zu räumen.
JoJo vermutete, dass sein Vater sich schon lange nicht mehr für Alkohol oder Tabak oder Frauen interessierte. An der Wand seines Schlafzimmers hingen Bilder von Jesus, der Jungfrau Maria und Frank Sinatra. Nach dem Tod von JoJos Mutter hatte der Skipper zu Jesus gefunden.
In seiner Jugend war Salvatore bekannt gewesen als »Sally Blue Eyes«, und er hatte mehr als ein paar Leute unter die Erde gebracht. Aber damals war die Familie noch jung, und »Sally« war wild und tobte auf den Straßen. Heute war er ein alter Mann in einer Branche, in der man nicht alt wurde. Als letzter der alten New Yorker Dons lehnte er Drogen strikt ab und verbot jedem Familienmitglied, sich auf das einzulassen, was er das »krankhafte Business« nannte.
JoJo gehörte einer anderen Generation an und hatte seine eigene Sicht der Dinge. Er wusste, dass Mafiageld stets nach oben floss. Familienmitglieder, Mafiosi, die offiziell in den engeren Kreis aufgenommen und damit zu uomini d’onore geworden waren, taten, was getan werden musste, um auf der Straße Geld zu verdienen. Anteile ihrer Einkünfte gaben sie ihren capidecina oder Captains weiter. Die capidecina wiederum zollten dem Don ihren Tribut in Form von mit Bargeld gefüllten Umschlägen. In einer gut geführten und starken Mafiafamilie herrschten Ordnung und Effizienz. Die Leute verdienten ein Vermögen.
Aber in letzter Zeit versiegte der Geldstrom von der Straße für die Paradisos, und Salvatore Paradiso wusste es nicht einmal. Und falls er es doch wusste, schien es ihn nicht weiter zu kümmern.
Das FBI und die verdeckten Ermittler des NYPD beschrieben die Paradisos als Familie alten Stils mit traditionellen illegalen Betätigungsfeldern: Geldverleih, Glücksspiel, etwas Geld aus den Gewerkschaften, Kidnapping und Überfälle. Sie waren als Familie bekannt, die nicht im Drogenhandel tätig war, eine Unterscheidung, die ihnen keinen geringen Respekt von Seiten der Gesetzeshüter einbrachte. Die Familie besaß Mehrheitsanteile an zwei Restaurants, einer Spedition und einer Baufirma in Rhode Island, deren Chef JoJos Bruder John war. John Paradiso ließ sich Dauerwellen legen und färbte die Haare, spielte Golf und Tennis und hielt sich von seinem jüngeren Bruder fern. Sein ganzes Leben lang hatte JoJo Dinge getan, vor denen John Angst hatte, wenn er nur an sie dachte.
JoJo wusste, dass es Löcher in das Herz des alten Mannes reißen würde, wenn sein Vater von dem Drogendeal erfahren sollte, den er plante. Allerdings war er fest davon überzeugt, dass ihm gar keine andere Wahl blieb. Ihre Familie war den anderen New Yorker Familien zahlenmäßig unterlegen, die sich spöttisch über das Drogenverbot hinwegsetzten. Seine capidecina – es waren fünf – litten ausnahmslos unter bedenklich verringertem Einkommen. Schwindende Einnahmen und schwierige Zeiten erzeugen Rebellion, sagte JoJo seinem Vater. Himmel, es war, als würde man sich in einem dunklen Zimmer mit einem Tauben unterhalten.
Der Skipper bekam niente mit, ließ nicht mal mit sich reden; sein Gesicht war purpurrot vor Wut, als er zu JoJo sagte: »Richtig oder falsch, ich leite diese Familie. Und ich sage nein, nicht vielleicht. Ich sage nein.« Dann hatte er JoJo noch ein bissiges »Vergiss die Scheiße besser. Benutz deinen Kopf, diese beschissene Branche ist nichts für uns« hingeworfen.
Wenn er in letzter Zeit mit seinen Leuten sprach, fiel JoJo auf, dass sich einige von ihm distanzierten. Er hatte den unverkennbaren Geruch eines Handstreichs gewittert. Falls es dazu kommen sollte, könnte einem Haufen loyaler Leute der Luxus versagt werden, im Bett zu sterben. Seit Wochen hatte er sich immer wieder ein Szenario ausgemalt, bei dem er und Bruno, erschossen und erstochen, in Müllsäcke gestopft und anschließend auf einer Deponie in Canarsie abgeladen wurden. Aber am meisten Sorgen machte er sich um seinen Vater. Der Mann war alt und nachlässig geworden, war ein leichtes, weil leicht zu treffendes Ziel. Für JoJo alles andere als ein angenehmer Gedanke. Er verschrieb sich ganz der Ansicht, dass sowohl für sein eigenes Überleben als auch das der Familie das Verbot bezüglich Drogenhandel unbedingt überdacht werden musste. Und zu diesem Zweck hatte er sich vor zwei Wochen erneut mit seinem Vater zusammengesetzt.
JoJo hatte vorgeschlagen, dass sich ein eingeschränktes Engagement im Kokaingeschäft für die ganze Familie als lohnend erweisen würde. Eine solche Expedition könnte ihre alte Macht wiederherstellen.
Man könnte sagen, dass der Skipper nicht beeindruckt gewesen war.
»Äh, Dummkopf«, hatte er gesagt, »ein für allemal, ich sage, das Thema ist erledigt. Und der Grund ist ganz einfach: Das Drogengeschäft ist ein Geschäft der Informanten, eine Branche, in der Verräter geboren werden. Zurückhaltung«, sagte sein Vater, »ist für viele unserer Freunde schwer vorstellbar, aber bei unserer Sache, unserer borgata, bedeutet Mäßigung Überleben.« Es gab Momente, da lag eine solche Wut in den blauen Augen seines Vaters, dass JoJo kaum mit ihm reden konnte, ohne den Kopf zu senken.
Auf den Tag genau eine Woche nach ihrer zweiten Unterhaltung wandte sich JoJo an Bruno Greco.
Greco war selbst ein mächtiger Mann mit einer Gruppe von zehn regulären Familienmitgliedern und fünfzig nicht initiierten Mitgliedern hinter sich. JoJo vermutete, dass Bruno den Skipper liebte, da er von Anfang an bei ihm war. Sein Argument musste überzeugend sein. »Die Familie wird auseinanderbrechen«, hatte JoJo erklärt. »Es wird zu einem Krieg kommen. Sag du mir, wie wir dastehen werden, wenn alle Captains sich gegen uns stellen. Wir werden untergehen. Ich sag’s dir, Bruno«, sagte er, »das große Ereignis der kommenden Monate wird ein Massenbegräbnis sein. Ich, du, mein Vater und ein Schwung der anderen werden dabei die Hauptattraktionen sein.« Diese Übung in Realität überzeugte den consigliere, und er räumte mürrisch ein, dass es in ihrer aller Interesse lag, wenn JoJo den Schritt ins Drogengeschäft wagte.
Die Connection wurde über einen New Yorker Anwalt hergestellt, einen Harvard–Absolventen, der einen Bruder hatte, der in Miami internationales Recht praktizierte. Es waren Drogenleute höchsten Ranges. Zum ersten Mal in seinem Leben hatte JoJo Paradiso sich einen Schritt von seinem Vater entfernt. Und jetzt stellte er fest, dass er sich zwischen seinem verzweifelten Bedürfnis, die Familie zusammenzuhalten, und der Faszination für das Drogengeschäft an einen düsteren Ort bewegte, von dem es kein Zurück mehr gab. In seinem ganzen Leben hätte er sich nicht vorstellen können, dass er sich einmal dem Urteil seines Vaters widersetzen würde, und doch tat er genau das. Auf eine Art reihte er sich bei denen ein, die sich gegen die Familie stellten. Er war auf sich allein gestellt, hatte eine Grenze überschritten, ein Abtrünniger.
Durch die Windschutzscheibe sah JoJo den Vollmond hoch am Himmel stehen, doch von Osten zogen schnell dunkle, schwere Wolken auf, die bedrückende Schatten warfen. JoJo hatte ein scharfes Auge für heraufziehende Stürme.
»Ich weiß nicht, wie du dich fühlst, Bruno«, sagte er. »Aber ich hab einen Knoten im Bauch so groß wie eine Grapefruit.«
Bruno stieß ein nervöses Schniefen und ein kleines Lachen aus, zeigte vom Nikotin vergilbte Zähne, was JoJo nur noch mehr ängstigte, und er war schon beunruhigt genug. Der Gedanke schob sich in JoJos Kopf, dass die mutigsten Männer, die er kannte, genauso ängstlich waren wie er.
»Hör zu«, sagte Bruno, »die Sache ging den Bach runter. Du musstest eingreifen.«
»Spielt keine Rolle. Wenn der Skipper Wind davon kriegt, hab ich jede Menge Ärger am Hals.«
Bruno packte energisch seine Schulter. »Red noch mal mit ihm. Gib dir diesmal mehr Mühe.«
»Mit ihm reden? Klar, ich red mit ihm, natürlich werd ich noch mal mit ihm reden. Und anschließend muss ich mich bei dir verstecken.«
Bruno lachte wieder, und JoJo lächelte.
»Joseph, wenn der Deal gelaufen ist, bleibt ihm gar nichts anderes übrig, als sein Okay zu geben.«
»Sagst du. Aber es würde mich keinen Furz überraschen, wenn er mich auf die Abschussliste setzt?«
»Ach, komm, du bist sein Sohn. Er lebt für dich. Die Frage lautet doch eher, mein Junge, was ist mit mir?« Bruno biss sich auf den Daumennagel. »Glaubst du, er lässt mir das durchgehen? Ach, Himmel, was soll ich nur machen? Ich muss mich auf dich verlassen.«
»Er weiß, dass du nur tust, was ich dir sage. Du bist überhaupt kein Problem«, sagte JoJo. Er bedauerte es sofort.
»So sicher bist du nicht«, sagte Bruno. »Auch nicht sicherer als ich. Bei allem Respekt, wenn Sally Blue Eyes durchdreht, verlass ich besser diesen Planeten, du verstehst, was ich meine? Ich meine, ich hab den Mann schon loslegen sehen; du hast noch nie erlebt, wie er ist, wenn er Gas gibt, ich schon, und schön ist das nicht. Dein Vater fährt auf Hämmer und Äxte ab.«
»Ich werd schon dafür sorgen, dass der alte Mann das versteht. Er hat mir keine Wahl gelassen. Mir bleibt überhaupt nichts anderes übrig.«
Bruno steckte sich eine Zigarette an, legte den Kopf zurück und blies einen perfekten Rauchring unter die Decke. JoJo beobachtete ihn misstrauisch.
»Was reden wir hier überhaupt«, sagte Bruno dann. »Du bist der Boss. Du bist der nächste in der Reihe. Es ist ein neuer Tag, eine völlig neue Welt. Das hast du selbst gesagt, und du hast recht.«
»Ich weiß«, sagte JoJo. »Trotzdem werd ich das Gefühl einfach nicht los, dass ich den alten Mann aufs Kreuz lege.«
JoJo räusperte sich. »Kannst du mir vielleicht mal sagen, warum ich mich so fühle? Ich mache, was für die Familie richtig ist. Und genau das hat er mir gesagt, genau das hat er mir immer gesagt.«
»Um Himmels willen«, sagte Bruno, »wieso bist du so angespannt? Was kann denn schlimmstenfalls passieren?«
»Wir könnten beide aufwachen und feststellen, dass wir tot sind. Unsere Hände abgeschnitten und Zwanzigdollarscheine in unseren Ärschen. Und als Leiche wach zu werden ist eine Aussicht, über die sich nachzudenken lohnt.« Obwohl die Nachtluft, die durch die offene Seitenscheibe hereinkam, heiß und feucht war, zitterte JoJo. »Der Tod«, sagte er, »ist nicht das Schlimmste, was einem passieren kann, nur das letzte.«
JoJo sah Bruno ins Gesicht und war überzeugt, dort großes Interesse an seinen Worten zu sehen. Es beeindruckte ihn immer wieder, welche Macht er über Leute wie Bruno besaß. Er war zufrieden.
»Ich verlass mich drauf, dass du die Sache schaukelst«, sagte Bruno. »Gibt überhaupt keinen Grund, dass hier einem was passiert.« Er wischte sich mit der Hand übers Gesicht und schaute zu JoJo hinüber. »Alle anderen Familien sind im Geschäft. Sie fangen an, uns unsere Leute abspenstig zu machen. Die Ramminos, die Biscoglias, dieser Irre Tommy Renina. Alle hocken zusammen und zählen ihre Drogenkohle. Ich weiß ja nicht, wie’s mit dir ist, aber mir gefällt diese Vorstellung überhaupt nicht.« Bruno packte wieder JoJos Schulter, und JoJo spürte die Kraft des Mannes; er hielt fest, bis JoJo nickte.
Bruno lächelte und schüttelte den Kopf. »Du machst nichts anderes«, sagte er dann, »als uns zu retten. Joseph, du bist damit zu mir gekommen.«
JoJo sagte nichts. Es stimmte, diese Sache war seine Idee gewesen. Er hatte es eingefädelt, das Treffen vereinbart und das Geld zusammengebracht. Aber in diesem Augenblick flatterten ihm die Nerven. Er fühlte sich beschissen, fühlte sich, als würde er alles falsch machen.
»Der Boss sollte zurücktreten«, sagte Bruno leise. »Er könnte doch in sein Haus nach Boca ziehen, oder? Der Mann muss nichts mehr beweisen. Mein Gott, er ist siebzig Jahre alt.« Er stieß JoJos Schulter an und ließ die Hand fallen. »Es würde mich umbringen, wenn irgend so ein Abtrünniger ihn fertigmacht. Aber weitermachen wie bisher können wir auch nicht. Es geht einfach nicht.«
JoJo sah auf seine Uhr und öffnete die Wagentür. »Sangu di me sangu«, sagte er.
»Ja, genau, du und dein Vater, ihr seid von einem Blut, stimmt. Was aber nicht bedeutet, dass du ihn mehr liebst als ich.«
»Das italienische Wort für Drogen ist babanya«, sagte JoJo. »Babanya bedeutet Müll. Mein Vater hat mir mal erzählt, es gibt einen Unterschied zwischen Abfall und Müll. Abfall, hat er gesagt, schmeißt man weg. Müll beseitigt man.«
»Eiiiii, Joseph, ich bitte dich, ja? Es war verdammt knifflig, dieses Treffen hier zu arrangieren. Also, wir haben einen weiten Weg hinter uns, und bevor wir diesen Schritt unternommen haben, haben wir alles haarklein durchgesprochen. Mein Gott, wir haben den ganzen letzten Monat über nichts anderes geredet. Babanya ist Heroin. Bei dem Deal, den du hier machen willst, geht’s aber um Kokain. Das ist ein Unterschied.«
JoJo seufzte tief. »Ich bitte dich«, sagte er.
»He, wenn du dich verabschieden willst, okay, dann gehen wir eben wieder. Du bist der Boss.«
Einen langen Moment saßen sie dann schweigend da. JoJo hielt die Wagentür mit dem Knie einen Spaltbreit geöffnet. »Wenn ich’s meinem Vater erzähle, wird’s bestimmt spannend, meinst du nicht auch?«
»Wir brauchen keine Spannung«, sagte Bruno mit einem merkwürdigen Grinsen. »Das brauchen wir nicht. Du hast murrende capidecina, die bereits nach Kanonen greifen und die Messer wetzen.« Angewidert schaute er auf den Parkplatz und das Hotel. »Genau das ist doch der Grund, warum wir jetzt hier sind.« Er schaute einen Augenblick zum Wagenhimmel auf, dieses Lächeln immer noch auf den Lippen, und dann leckte er sich einen Tabakkrümel von der Unterlippe.
JoJo räusperte sich. »Meiner Meinung nach sind allein die jammernden und stöhnenden capidecina verantwortlich.« Er hatte gezögert, das auszusprechen, weil er befürchtete, dass solche Gedanken womöglich Schweigen zur Folge haben könnten, und schlimmer noch, Angst bei Bruno, dass er vielleicht auch ihn bedrohte.
»Es ist ihre Schuld, dass ich in diese verschissene Situation geraten bin. Dass ich meinen Vater belügen und ihn zum Narren halten muss.«
»Der Geldstrom versiegt«, sagte Bruno.
»Ist es das, worum’s uns geht? Nur um Geld?«
Bruno lächelte höflich. »Du willst mich verarschen, oder?«
»Wir haben Grenzverletzer in dieser Familie«, sagte JoJo. »Mehr als einen.«
»Die Zeiten sind schwierig. Die wollen sich nicht gegen deinen Vater stellen. Aber geh nicht davon aus, dass sie’s nicht tun würden. Geschäft ist Geschäft. Aber, das alles weißt du selbst, Joseph. Du bist nicht irgendein beschissener Gernegroß.«
»Wenn wir vielleicht ein Exempel statuieren, ein paar von diesen Saftärschen umlegen, zum Beispiel Tommy Yale und Lilo, vielleicht gehen dann den anderen die beschissenen Augen auf.«
»Toll«, sagte Bruno, steckte sich an der Glut der Zigarette, die er gerade rauchte, eine neue an und gestikulierte damit. Von irgendwo aus dem Hotel wehte Discomusik herüber. »Ein kleiner Familienkrieg ist genau, was uns im Moment noch fehlt. Brillante Idee.«
Behalte deine Gedanken für dich, ermahnte JoJo sich.
»Der Deal, den du hier machen willst, wird deinen Vater retten. In Wahrheit wird er uns alle drei retten. Und unser Laden wird nicht auseinanderbrechen. Dein Vater kann nicht gewinnen, er kann nur sterben.«
»Wenn ich das nicht glaubte, wäre ich jetzt nicht hier«, sagte JoJo.
Als JoJo aus dem Wagen stieg, rief Bruno ihm nach: »Lass dich von dem Spic nicht vorführen. Hol einen guten Deal für uns raus.«
JoJo schüttelte den Kopf. Er lächelte Bruno an. »Unser Leben ist ein Mordsspaß, häh?«
»Klar, Joseph«, sagte Bruno. »Zum Schreien. Mach dich auf die Socken.«
Er brauchte zwei Minuten bis zum Hoteleingang, und als er den Torbogen erreichte, brach das Gewitter los. Der Regen verfinsterte noch die Nacht und glitzerte auf dem Asphalt des Hotelparkplatzes. JoJo konnte weder den Chrysler noch Bruno erkennen, der hinter dem Steuer saß und an seiner Zigarette zog.
Bruno Greco wusste, wenn die Wahrheit erst herauskam, würde er sich mit keiner Ausrede vor Sally Blue Eyes’ Wut schützen können. Er dachte über seine verbleibenden zwei Möglichkeiten nach, so wie er während des vergangenen Monats immer wieder seine Alternativen abgewägt hatte: Er könnte sich aus dem Staub machen – Südamerika oder vielleicht Europa wäre eine gute Idee –, oder er könnte als erster zuschlagen. Bruno überlegte, dass er weder jetzt noch früher besonders gut im Weglaufen war.
JoJo betrat das Hotel und schlenderte so beiläufig er konnte an der Rezeption vorbei. Das Gewicht des übergroßen Diplomatenkoffers ließ seine Schulter schmerzen. In dem engen Foyer wimmelte es nur so von erschöpften Touristenfamilien, die von einem Tagesausflug nach Disney World zurückgekehrt waren. Eine dreiköpfige britische Familie ging langsam vor ihm. Der Vater führte mehreren rotgesichtigen Freunden eine einszwanziggroße Mickey Mouse vor.
Vor den Fahrstühlen blieb JoJo stehen und schaute sich um. Ein kalter Schauer lief ihm über den Rücken; die Angst, die an ihm fraß, war unbeschreiblich. Instinktiv wusste er, dass dies sein großer Augenblick war. Sein Leben hatte ihn an diesen Punkt geführt. Und gleichzeitig dachte er, dass dieses Leben, für das er sich entschieden hatte, ein Irrenhaus war. Er erinnerte sich an seinen einundzwanzigsten Geburtstag, an den Abend, an dem er in die Familie aufgenommen worden war. Wie er eine Kanone und ein Messer vom Tisch seines Vaters genommen hatte.
Alle capidecina waren anwesend, und es war Bruno Greco, der ein Bild des heiligen Ignatius in JoJos Hand legte und mit diesem angedeuteten Lächeln, das Hand in Hand mit Wissen geht, eine Flamme an das Papier hielt und ihn aufforderte, die Initiationsformel zu sprechen.
»Ich werde diese Werkzeuge zum Wohle der an diesem Tisch versammelten Menschen und für jeden heute nicht anwesenden Freund einsetzen. Ich soll brennen in der Hölle wie die anderen verlorenen Seelen, wenn ich jemals einen der Anwesenden oder einen heute nicht anwesenden Freund verrate.« Es war, wie bei den beschissenen Elks oder im Rotary aufgenommen zu werden. Lächerlich.
Es waren Brunos Lippen, die er nur eine Sekunde nach denen seines Vaters küsste. Er erinnerte sich an die Panik, die später an diesem Abend in ihm aufstieg, als ihm richtig zu Bewusstsein kam, dass er jetzt und für immer, wie sein Vater und beide Großväter vor ihm, ein vollwertiges Mitglied, ein uomo d’onore war. Im Foyer des Orlando Hotels erinnerte er sich wieder an all die Umarmungen und Küsse. Wie er sich an diesem Abend von der Atmosphäre hatte mitreißen lassen. Er erinnerte sich auch daran, wie ein Mann brüllt und doch kein Laut zu hören ist, wenn man einen sauberen Kopfschuss platziert. Blitzartig kehrte die Erinnerung an sein erstes Mal zurück, und sein Adrenalinspiegel bekam einen weiteren Kick. Hinterher kam Bruno zu ihm und sagte: »Lass dich davon nicht fertigmachen. Der Mann war ein Feind deines Vaters. Ein Dealer, ein Mann ohne Ehre.«
Vor Zimmer 137 im ersten Stock blinzelte er und atmete tief ein, als versuche er, eine Entscheidung zu treffen. Er klopfte zweimal an, dann noch einmal und wartete.
Aus Bob Leuci: Abtrünnige (Fence Jumpers, 1995). Deutsch von Jürgen Bürger. Haffmans 1998, 509 Seiten. Veröffentlichung bei CrimeMag mit seiner freundlichen Genehmigung.