Ist es nicht rührend, ist es nicht schön? CrimeMag führt zur Identitätsfindung. Carlos jedenfalls hat sich gefunden und kann endlich das ausleben, was er schon immer sein wollte: Trinkberater!
Ich habe meine Bestimmung gefunden!
Gewiss, ich bin seit zwanzig Jahren Landesbeamter, habe Hauptschülern Mores und Studenten das Zaubergewirk Fachdidaktik Deutsch gelehrt. Ich koche manierlich, ich spiele Kontrabass, würdig und leidlich. Ich bin ein guter Zeichner, ich kann auf einem Auge sehen, ach ja, ich bin Schriftsteller.
Aber was ist das schon. Hera Lind schreibt auch Bücher.
Nein, ich bin seit Neuestem Trinkberater und damit erst im vollen Leben angekommen. Besser spät als nie!
Das kam so. Bei einem Kaffeepäuschen klagte mir ein Kollege, er wäre so furchtbar gerne mal wieder betrunken, nur habe sich sein Geschmacksempfinden, ja seine ganze Physis in den letzten Jahren fatal entwickelt: Bier ist ihm ab einer gewissen Menge zu klebrig und bitter, Wein wiederum munde zwar, mache ihn aber so furchtbar schnell müde, er schlafe einfach schon, bevor ein zünftiger Rausch gebraut ist. Bei Schnäpsen – wie traurig sah er drein – stellte sich sofort ein Brennen in der Speiseröhre ein, er beginne darüber hinaus zu schwitzen, und zwar an der Nase, Leute hätten ihn darauf schon angesprochen.
Mir fiel es selber auf, im beruhigenden, aber nicht verharmlosenden Ton des geborenen Arztes („Wir schauen uns das jetzt gemeinsam an.“) empfahl ich ihm, es doch einmal mit Gin Tonic zu versuchen. Offensichtlich hatte der Mann nämlich nicht nur Probleme, zum Trinkhöhepunkt zu gelangen, sein schambeladenes Nasenschwitzen deutete auf eine Über-Ich dominierte, auf makellose Außenwirkung bedachte Psyche hin. Gin Tonic, neben der limonadenhaften Konsumierbarkeit, die schon vielen Leidenden Linderung gebracht hat, verursacht oft keine oder eine nur unbedeutenden „Fahne“ – der Anschein der Selbstbeherrschung, den unsere spätkapitalistische Effizienzgesellschaft pathologisch einfordert, kann also gewahrt bleiben.
Ich habe selten so eine dankbare Person gesehen wie meinen Kollegen nach dieser Konsultation. Und diese strahlende Freude war ihm auch noch einen Tag später anzumerken, unendlich erleichtert berichtete er mir von einem herrlichen Vollrausch inklusive Filmriss, nur eine neue Wohnung müsse er wohl finden, da sei was mit den Nachbarn „schiefgelaufen“, aber auch da war er zuversichtlich. (Dass Gin Tonic sogar eine gewisse Malariaprophylaxe darstellt, darf im Zeitalter der globalen Erwärmung und daraus resultierenden Moskitomigration ergänzend ins Feld geführt werden.)
Wenn man einmal als Trinkberater tätig geworden ist, kann man nur staunen, wie groß der Bedarf an dieser medizinischen Dienstleistung in der Bevölkerung ist. Der nächste Fall ließ nicht lange auf sich warten: Dass man, wenn man es bei Wodka belässt, auch mit einer Histaminintoleranz zu befriedigender Trunkenheit ohne allzu große Nachwehen gelangen kann, gab einer Mittvierzigern die Lebensfreude zurück, die sie brauchte, um ihre nicht einfache Ehe zu ertragen.
Problematisch ist die Behandlung von Jugendlichen oder jungen Erwachsenen, das konnte ich rasch feststellen. Oftmals fehlt ihnen (noch) das Vertrauen in die Erwachsenenwelt, um Trinkratschläge anzunehmen. Es werden dann doch die Cocktails, die den bösen Kopf und den pulsierenden Magen verursachen, getrunken, der empfohlene trockene Weißwein (so oft die Lösung!) bleibt im Kühlschrank.
Angesichts dieses Briefes aber konnte ich meine Hilfe nicht versagen:
… In meiner Kindheit hatte ich damit noch keine Probleme. Aber während des Konfirmandenunterrichts ging es schon los. „Trink doch einen mit! Der Pfarrer schläft, der ist selber besoffen!“ „Ich habe Batida de Coco in der Tankstelle geklaut, wer macht mit?“ Geradezu rasant wurde ich zum Außenseiter. Sogar die Konfirmation selbst war ein Desaster, der Schluck Rotwein zum ersten Abendmahl warf mich regelrecht um. Ich kann vom Glück sagen, dass ich nicht im Rollstuhl sitze, aber auch eine Steißprellung ist qualvoll … Meine erste Freundin wollte nur mit mir schlafen, wenn wir vorher etwas trinken würden. Ich schützte eine Krankheit vor – sie schlief dann trotzdem mit mir, aber es blieb dieses schale Gefühl zurück: Mein erstes Mal und dann nüchtern. … Demnächst mache ich Abitur – mir graut vor der Feier. Mein Vater (es ist mir bis heute unter größter Kraftanstrengung gelungen, mein Problem vor meiner Familie weitgehend geheim zu halten!), redet von nichts anderem mehr, als dass er dann „endlich“ mit mir einmal ein Glas Sekt trinken will. Ich habe mir schon überlegt, nach Saudi Arabien auszuwandern, aber ich bin eben auch glühender deutscher Nazionalsozialist und will es bleiben! Was soll ich tun?
In so einem (schweren) Fall empfiehlt sich, das dachte ich gleich, und das sollte sich als richtig erweisen, eine zunächst nicht-orale Alkoholhabituation. Von mir geduldig ermutigt goss sich der Klient mehrmals pro Woche zwei Flaschen Korn in barfuß getragene Gummistiefel, über die Haut aufgenommen, konnte so erstaunlich rasch eine Gewöhnung an sozial und nationalsozial akzeptierte Blutalkoholwerte gelingen. (Dass die schulischen Leistungen angesichts dieses intensiven Trainings leiden mussten, war nicht zu verhindern.) Die Umstellung auf oralen Konsum gelang dann fast mühelos. Gewisse Probleme mit Champagner und Cidre akzeptierte der Klient angesichts der großen sonstigen Fortschritte bewundernswert gelassen. Drei Wochen vor der großen Feier waren wir gemeinsam ans Ziel gelangt.
Der junge Mann hat tatsächlich keine Erinnerung an seine Abiturfeier und ist weiterhin als Nationalsozialist tätig. Erst neulich hat er mir aus Mecklenburg-Vorpommern (wo er in einer dörflichen Gesinnungsgemeinschaft lebt), eine Grußkarte gesandt:
Es klappt alles hervorragend, selbst bei den härtesten Kameradschaftsabenden bin ich im oberen Drittel dabei! 88.
Ein Scherz, er ist höchstens zwanzig! Wie schön, wenn ein junger Mann wieder lachen kann. Ja, wie schön. Und jetzt zum Kühlschrank, wo ich … aaaaa… ist ja praktisch Abend … huihui … – böbs, weg ist der Korken! – gluckgluck… ich weiß jetzt … schlundschlundschlund… wofür ich auf der … – böbs – arglarglargl – wElt bIN_jAW=LL!!
Carlo Schäfer
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