Geschrieben am 1. Mai 2019 von für Crimemag, CrimeMag Mai 2019, News

Daniel Kampa über Simenons Kommissar Maigret

Die Legende von der einfachen Geburt 

Wie Maigret wirklich zur Welt kam – Von Daniel Kampa

Delfzijl, mit seinen knapp 25 000 Einwohnern und der zweitgrößten Raffinerie Hollands, liegt an der Mündung der Ems in die Nordsee. Die Touristen, die nach Amsterdam strömen, verirren sich nur in Ausnahmefällen in die Stadt, und wenn, dann hat das meistens nur einen Grund. In Delfzijl, das glaubt jeder Maigret-Fan zu wissen, schrieb Simenon im Herbst 1929 den ersten Roman über den Pfeife rauchenden Pariser Kommissar. Der Bahnhof von Delfzijl ist die erste Anlaufstelle für die Touristen, hier befindet sich das Fremdenverkehrsamt, und hier wird ihre dringendste Frage beantwortet: Wie komme ich zur Maigret-Statue? Eine Tafel gegenüber dem Bahnhof erklärt den Weg, oder man kauft sich für zwei Euro den Maigret-Prospekt. Darin finden sich, leider nur auf Niederländisch, auch Hinweise auf weitere Maigret-Erinnerungsorte, denn der achte Fall, Maigret und das Verbrechen in Holland, spielt in Delfzijl. 

Maigret-Skulptur von Pieter d’Hont in Delfzijl – Wiki Commons

Die Maigret-Statue, von Pieter d’Hont gestaltet, wurde 1966 von Simenon höchstpersönlich eingeweiht. Das internationale Event wurde von Simenons niederländischem Verlag A.W. Bruna & Zoon ausgerichtet, der damit den tausendsten Titel seiner Taschenbuchreihe, in der auch die Maigret-Romane erschienen, feiern wollte. Mehrere ausländische Verleger und eine Reihe von Maigret-Darstellern reisten an: der Engländer Rupert Davies, der Italiener Gino Cervi, der Niederländer Jan Teulings und Heinz Rühmann. Simenon hatte Mühe, die Statue zu enthüllen, etwas hakte. In seinen Intimen Memoiren schrieb er 1981 über diesen Moment: 

»Ich zog vergeblich. Alles lachte. Ich auch. Ich versuchte es ein zweites Mal. Jemand kam hinzu, brachte eine schlecht angebrachte Schlaufe in Ordnung, und als ich dann noch einmal an der Kordel zog, fiel endlich das Tuch und gab den Blick auf Maigret frei […].«

Ein Foto kurz nach der Enthüllung zeigt den Autor mit einem großen Taschentuch in der Hand. War Simenon erkältet oder wurde er von seinen Gefühlen übermannt, als ihm angesichts der Statue aufging, welch unglaubliche Karriere er und sein Maigret gemacht hatten? Fünfzehn Jahre später gestand er: »Meine Rührung war nicht gespielt.«

*


»Warum kam Jules Maigret ausgerechnet im Hafen von Delfzijl, in den nördlichsten Niederlanden, am Ufer der Ems zur Welt? Warum Holland?« Mit diesen Sätzen beginnt ein Aufsatz, den Simenon ein Jahr nach der Einweihung der Statue schrieb und der den Titel Wie Maigret zur Welt kam trägt. Darin erzählt der Autor: 

»Als Vierundzwanzigjähriger verspürte ich den Wunsch, Frankreich zu erkunden, und zwar bis in die abgelegensten Orte hinein, und dabei stellte ich fest, dass die Städte oder Dörfer vom Bahnhof oder von der Landstraße aus besehen nur ihr sehr banales oder abweisendes Gesicht zeigen, wohingegen man an den Flüssen oder Kanälen ihre menschlicheren Seiten und ihr geheimes Leben findet.
Also kaufte ich mir ein fünf Meter langes Boot, die Ginette, die zuvor einer imposanten Jacht als Rettungsboot gedient hatte. Ich ließ eine recht komplizierte Persenning anbringen, die es mir erlaubte, das Boot nachts wie eine Kabine zu beziehen. Ein Außenbordmotor mit 3 ps, im Schlepptau ein kleineres Boot für Schreibmaschine, Kleidung und Kochgeschirr – so ausgerüstet reiste ich 1927 durch ganz Frankreich, von Norden nach Süden und von Osten nach Westen, und passierte dabei gut tausend Schleusen jeglicher Bauart. In einem Zelt, das ich am Ufer aufstellte, schrieb ich jeden Tag zwei oder drei Kapitel meiner Trivialromane. Damals war Camping noch kaum verbreitet, und so fand ich mich oft von Bauern oder Seeleuten umringt, die gekommen waren, um sich diesen komischen Kauz mit kurzen Hosen und nacktem Oberkörper anzuschauen, der mitten auf dem Treidelpfad oder am Waldrand seine Schreibmaschine traktierte. 

Tatsache ist, dass ich mich ab Oktober in Fécamp aufhielt und mir dort nach dem Vorbild der Fischerboote im Ärmelkanal einen Einmaster bauen ließ. Es war ein zehn Meter langes und vier Meter breites Boot mit zwei Meter Tiefgang, einer kräftigen Spantenkonstruktion und einem robusten Eichenrumpf. Mein neues Schiff trug den Namen Ostrogoth. Etwa drei Monate später lief es in den Hafen von Delfzijl ein. Ich hatte im Außenhafen festgemacht, den Lotsenbooten gegenüber. Mein Aufenthalt in Delfzijl sollte sich länger hinziehen als gedacht, denn ein paar Tage später entdeckte ich im Boot ein Leck. Ein braver Schiffszimmermann begutachtete den Schaden mit dem Ernst und der Autorität eines Arztes und gelangte zu dem Schluss, dass die Ostrogoth neu abgedichtet werden müsse. Wie schon auf meiner Reise durch Frankreich hatte ich mir angewöhnt, täglich zwei oder drei Kapitel zu schreiben, aber jetzt musste ich feststellen, dass ich diese Routine in einem Schiffsrumpf, der von morgens bis abends von den lauten Hammerschlägen der Arbeiter wie eine Glocke dröhnte, unmöglich beibehalten konnte.

Ein Hotelzimmer zu mieten, wäre unter meiner Würde gewesen. Der Zufall wollte es, dass ich am Kanal einen halb abgesoffenen alten Kahn entdeckte, der niemandem zu gehören schien. Man watete an Bord durch dreißig bis vierzig Zentimeter rötlich braunen Wassers, das von den Baumstämmen so gefärbt war, die überall auf dem Kanal schwammen. Dieser alte Kahn, in dessen Innern ich eine große Kiste für meine Schreibmaschine postierte, eine etwas kleinere für meinen Hintern und eine wiederum kleinere für meine Füße, sollte zur eigentlichen Wiege von Maigret werden. 

Doch noch war es nicht so weit. Während Mijnheer Roels und seine Männer mein Schiff verarzteten, den ursprünglich schwarzen Wänden einen weißen Anstrich verpassten, in ihrer gründlichen Art noch das Dollbord, den Mast und die Rahen lackierten, während sie schließlich einen prächtigen kupfernen Kompass installierten, den ich bei einem schiplander bei der Schleuse gekauft hatte, erkundete ich nach und nach einen Landstrich, der mich bezauberte. Damals habe ich versucht, diese Gegend in einem meiner letzten Unterhaltungsromane, Le Château des Sables rouges, festzuhalten. Aber was sollte ich anschließend schreiben? Schon seit einiger Zeit hatte ich das Gefühl, dass sich meine Lehrzeit dem Ende näherte, in der ich unter allerlei verschiedenen Pseudonymen zahlreiche leichtere Erzählungen und Romane verfasst hatte. Ich war mir nur noch nicht sicher, ob ich mich an ein schwierigeres, ja seriöseres Genre wagen sollte. 
Ich sehe noch vor mir, wie ich an einem sonnigen Vormittag in einem Café saß, das, wie ich glaube, Le Pavillon hieß und dessen Wirt jeden Tag Stunden damit zubrachte, die Holztische mit Leinöl einzureiben. Nie wieder habe ich so glänzend polierte Tische gesehen. Um diese Zeit saßen noch keine Holländer um den Stammtisch in der Raummitte, auf dem wohlgeordnet die Zeitungen lagen und auf ihre Leser warteten. Trank ich damals ein, zwei oder sogar drei Gläschen Genever, mit einem Schuss Bitter versehen? Jedenfalls sah ich nach einer Stunde in etwas schläfrigem Zustand die Konturen eines massigen, reglosen Herrn vor mir entstehen, der, wie mir schien, einen annehmbaren Kommissar abgeben würde. Den Rest des Tages fügte ich der Figur noch ein paar Attribute hinzu: eine Pfeife, eine Melone, einen dicken Mantel mit Samtkragen. Und weil es in meinem verlassenen Kahn so klamm war, verpasste ich ihm für sein Büro noch einen alten Gusseisenofen. 

Am Ende des nächsten Vormittags hatte ich das erste Kapitel von Maigret und Pietr der Lette geschrieben, und vier oder fünf Tage später war der ganze Roman fertig. 

Und noch etwas anderes in dem Zusammenhang war reiner Zufall: Nicht nur war ein Bootsleck daran schuld, dass Maigret in Delfzijl zur Welt kam, anlässlich seiner Geburt signierte ich auch zum ersten Mal unter meinem richtigen Namen, den ich für meine Groschenromane nie verwendet hatte. Der Verleger Fayard und ich waren auf der Suche nach einem endgültigen Pseudonym und hatten schon gut vierzig Ideen angedacht und wieder verworfen, als Fayard mich plötzlich fragte: ›Wie heißen Sie denn eigentlich wirklich?‹ Ich antwortete fast kleinlaut: ›Georges Simenon.‹ Denn ich hielt diesen Namen für banal und schwer auszusprechen wegen des stummen ›e‹ in der Mitte. Das allerdings passte auch wieder zu Jules Maigret.« 

Soweit Georges Simenon in seinem Text aus dem Jahr 1967, den er für den ersten Band seiner Gesammelten Werke schrieb, die bis 1973 im Verlag Éditions Rencontre, Lausanne, erschienen. Der Aufsatz zementierte den Schöpfungsmythos von Maigret derart, dass die Errichtung einer Statue die einzig logische Konsequenz war. Passend dazu gab der damalige Bürgermeister von Delfzijl, ein gewisser P. Scholten, seinen amtlichen Segen, indem er Maigret am 3. September 1966 eine offizielle Geburtsurkunde ausstellte: »Vater: Georges Simenon«, »Mutter: unbekannt«. Simenon hat diese Geschichte von der Geburt Maigrets unzählige Male – in leichten Variationen – wiederholt. Aber so schön sie auch ist, sie hat einen Haken: Sie ist nicht wahr, Geburtsurkunde hin oder her. 

Die Waterstraat in Delfzijl, etwa 1900 – Wiki Commons

Maigret war alles andere als eine Spontangeburt. Simenon tastete sich langsam an seinen Pfeife rauchenden Kommissar vom Quai des Orfèvres heran, und so trat Maigret bereits vor seinem offiziell ersten Fall mit Pietr dem Letten mehrfach in anderen Romanen in Erscheinung. Und er hatte auch Konkurrenten, gegen die es sich durchzusetzen galt: Parallel zu Maigret versuchte sich Simenon an über fünfzehn verschiedenen Detektiven und Ermittlern – unter anderem an einem Kommissar namens G7, dessen ersten Fälle seit dem Herbst 2018 auch auf Deutsch zu lesen sind und der durchaus das Zeug dazu gehabt hätte, Maigret in den Schatten zu stellen. 

Simenon erschuf diese Armada an Detektiven und Kommissaren, weil er sich zwischen 1928 und 1931 intensiv dem Krimigenre zuwandte. Der Autor, der wie am Fließband schrieb, um seinen immer kostspieligeren Lebensstil zu finanzieren, sah sich als »Lieferant«, der Lesebedürfnisse befriedigte. Und sein Publikum verlangte in dieser Zeit weniger nach den galant-frivolen Erzählungen und romantischen Groschenromanen, die er seit seiner Ankunft in Paris im Dezember 1922 hauptsächlich verfasst hatte, sondern nach Krimistoffen. Die Erzählungen von Sherlock Holmes, diejenigen der französischen Krimi-Urväter Maurice Leblanc und Gaston Leroux waren zu echten Rennern geworden, und auch eine junge britische Autorin begann, sich in Frankreich einen Namen zu machen: Agatha Christie. 

Das Krimigenre sollte für den Autor nicht nur finanziell interessant werden, sondern fügte sich auch in seinen Lebensplan. Simenon, der von Anfang an das Ziel verfolgte, irgendwann zu einem »richtigen Schriftsteller« heranzureifen, begriff die Kriminalliteratur als nächste Etappe auf seinem Weg hin zu den »großen Romanen«. Solche »Halb-Literatur« zu produzieren, bedeutete für ihn, sich schriftstellerisch weiterzuentwickeln, ohne seine finanzielle Existenz zu gefährden. 

Die Entstehungsgeschichte von Maigret ist in der Realität viel komplexer, als Simenon sie in seiner zur Legende gewordenen Anekdote beschrieben hat. Um im Krimigenre erfolgreich zu sein, brauchte er einen Spielführer, einen Helden, den sogar der begabte Vielschreiber nicht einfach aus dem Hut zaubern konnte. Aus den verschiedenen Ermittlerfiguren, die er in unzähligen Groschenromanen hat auftreten lassen und die so abenteuerliche Namen wie Serge Polovzef oder Anselme Torrès tragen, entwickelte Simenon nach und nach zwei Urtypen. Auf der einen Seite ein sympathischer junger Ermittler, dessen Leichtigkeit und Charme sich auch das andere Geschlecht nicht erwehren kann. Aus ihm wird schließlich der Typus eines Kommissars, der unter zwei verschiedenen Namen auftritt: Sancette, abgeleitet vom Französischen 107, cent sept, der Telefonnummer des Kommissars, und G7, benannt nach den Pariser Taxis der Marke G7, weil seine roten Haare an ihre roten Dächer erinnern. Auf der anderen Seite ein bedächtiger, schwergewichtiger Mann aus dem Volk, sozusagen ein Mann ohne Eigenschaften, der leicht unterschätzt wird, ein Mann, dessen Mitgefühl den einfachen Leuten gilt: der Prototyp für Maigret. 

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Schon lange vor seinem berühmten Essay aus dem Jahr 1967 hatte sich Simenon über die Geburt von Maigret geäußert – und zwar ganz anders: In einem Aufsatz, der 1942 in der Wochenzeitung La Semaine erschien, erzählt Simenon, dass ihm die Figur nicht etwa in Delfzijl eingefallen sei, sondern in Lyon, als er am Ufer der Rhône auf seinem ersten Boot Ginette einen Roman tippte. Die Simenon- Forscher Pierre Deligny und Claude Menguy haben diesen Roman als L’amant sans nom identifziert, in dem zwar keine Figur namens Maigret vorkommt, aber ein gewisser Inspektor Nr.49, der als »homme énorme et pesant« beschrieben wird und Pfeife raucht. Er gilt heute als frühester Maigret-Prototyp. 

Namentlich tritt Maigret zum ersten Mal in vier Groschenromanen in Erscheinung, die Simenon im Jahr 1929 schrieb. La maison de l’inquiétudeMaigret im Haus der Unruhe, ist der vierte dieser Romane und der mit Abstand wichtigste. Simenon wurde 1985, vier Jahre vor seinem Tod, von dem italienischen Journalisten Giulio Nascimbeni nach einem Auftritt Maigrets vor dem ersten Fall Maigret und Pietr der Lette gefragt: »Im Januar 1931 veröffentlichte die italienische Zeitschrift Il romanzo mensile den Roman La maison de l’inquiétude eines gewissen Georges Sim. Die Hauptfigur dieses Romans war Maigret. Ist es möglich, dass La maison de l’inquiétude vor Maigret und Pietr der Lette geschrieben wurde, den Sie im September 1929 geschrieben hatten und der 1931 bei Fayard erschien?« Und Simenon hatte geantwortet: »Vor Pietr der Lette, welcher wirklich der erste der Maigret-Reihe war, hatte ich, um meinen Lebensunterhalt zu verdienen, Groschenromane geschrieben. Es kam vor, dass in ein, zwei dieser Romane ein gewisser Maigret eine Rolle spielte. Ich dachte damals nicht daran, diese Figur oder diesen Namen später wieder aufzugreifen. Und doch ist das passiert.« 

Aufmerksame Leser des Romans Maigrets Memoiren, den Simenon 1950 schrieb, wissen das schon lange. In diesem wunderbaren, fast postmodern anmutenden Roman lässt Simenon Maigret seine Version der Dinge erzählen. Am Anfang bittet der Direktor der Police Judiciare Maigret, einen gewissen Georges Sim durch das Haus zu führen und in die Arbeit der Kriminalpolizei einzuweihen. Maigret ist nicht sonderlich angetan von dem jungen, etwas vorlauten und ungeduldigen Mann, der darauf beharrt, kein »Journalist« zu sein, sondern »Schriftsteller«, und sich mehr für die Atmosphäre und unscheinbare Details interessiert, etwa den Kanonenofen, als für die eigentliche Ermittlerarbeit und die verschiedenen Abteilungen des Hause. Das Einzige, was Maigret und Georges Sim verbindet: Beide sind Pfeifenraucher. Am Ende der Führung verabschieden sich die Männer voneinander: »›Ich danke Ihnen, Kommissar. Ich hoffe, ich werde das Vergnügen haben, Sie einmal wiederzusehen.‹« Und Maigret: »Und ich antwortete im Stillen: Ich hoffe nicht.« Weiter heißt es: 

»Wochen vergingen, Monate. Ein einziges Mal, mitten im Winter, glaubte ich, besagten Monsieur Sim auf dem Flur der Kriminalpolizei auf und ab gehen zu sehen. 
Eines Morgens fand ich auf dem Schreibtisch neben meiner Post ein kleines Buch mit einem abscheulich illustrierten Umschlag, wie man sie an Zeitungskiosken und in den Händen junger Mädchen sieht. Es hieß: Die junge Frau mit den Perlen, und der Name des Autors lautete Georges Sim.« 

Die Hauptfigur dieses Romans war ein gewisser Kommissar Maigret. Die junge Frau mit den Perlen? Mancher Kenner mag bei der Lektüre von Maigrets Memoiren genau hier gestolpert sein. Es müsste doch Maigret und Pietr der Lette sein! Eben nicht, denn es gibt diese vier Maigret- Protoromane, in denen der Kommissar vor Pietr der Lette auftritt. La jeune fille aux perles ist der zweite von ihnen. 

Erstausgabe 1931

Der erste der vier »Proto-Maigrets«, Train de nuit, der 1930 erschien, bietet eine handfeste Überraschung, denn Maigret ermittelt nicht in Paris, sondern in Marseille, als Kommissar einer brigade mobile. Der Roman erschien unter dem Pseudonym Christian Brulls in der Reihe »Les Maîtres du Roman Populaire«, die Meister des populären Romans. Wie die Reihenbezeichnung suggeriert, ist er ein Groschenroman, eine sentimentale Schmonzette, in der der Kommissar nur als Randfigur auftaucht. Im Mittelpunkt steht der junger Matrose Jean, der nach einem Heimatur- laub auf dem Weg zurück zu seiner Garnison in Toulon ist und während der Zugfahrt von einer Femme fatale, der schönen Rita, vom rechten Weg abgebracht wird. Er will ihr einen Gefallen tun (und sie wiedersehen, obwohl er mit einem Mädchen aus seiner Heimatstadt Yport verlobt ist) und wird unversehens in ein Verbrechen verwickelt. Er wird des Mordes verdächtigt und schließlich von der Polizei gejagt, aber auch vom wahren Täter. Erst im siebzehnten von zwanzig Kapiteln tritt endlich der Marseiller Kommissar Maigret auf, bleibt aber noch recht vage: Weder sein Äußeres noch sein Alter oder sein Familienstand werden beschrieben. Und auch seine später unerlässliche Pfeife hat er noch nicht im Mund. Das einzige, was der Leser erfährt, ist, dass er »un homme calme, au parler rude, aux maniè- res volontiers brutales« ist, ein ziemlicher Rüpel also. Und doch geht es schon diesem Kommissar nicht allein darum, den Täter zu fassen, sondern auch darum, Jean zu retten. Er ist bereits eine Art »Schicksalsflicker«, wie Simenon ihn später bezeichnen wird. Und so nimmt Maigret schließlich dem Matrosen, der zwischen der verruchten Rita und seiner schüchternen Verlobten Martha hin- und hergerissen ist, die Entscheidung ab. Rita, die eigentlich als Komplizin eines Mörders ins Gefängnis gehört, lässt er laufen, unter der Bedingung, dass sie sofort die Stadt verlässt. Dem jungen Matrosen liest er gehörig die Leviten und droht ihm mit schweren Konsequenzen, wenn er nicht in seine Kaserne und zu seiner Verlobten zurückkehrt. In der wundersamen Welt dieses Groschenromans gibt es keinen Staatsanwalt oder Richter, Maigret kann agieren, wie er will, damit dem Happy End, das das Genre verlangt, nichts im Weg steht. Und doch urteilt etwa Francis Lacassin: »Schon in Train de nuit ist Simenon im Vollbesitz seiner literarischen Mittel. Statt zu beschreiben, statt Details anzuhäufen, suggeriert er. Mit wenigen Strichen vermag er eine Atmosphäre zu schaffen, seine Figuren zum Leben zu erwecken.« 

In den drei weiteren, unter Pseudonym erschienenen »Proto-Maigrets« nimmt der Kommissar eine immer wichtigere Rolle ein. Der zweite ist der in Maigrets Memoiren erwähnte Roman La jeune fille aux perles, wiederum eine Schmonzette. Sie spielt in einem mondänen Milieu, es geht um Geld, Mord, aber vor allem um Liebe. Maigrets Aufgabe ist es weniger, einen Mörder zu finden, als vielmehr das Eheglück zwischen der Tochter der Ermordeten und einem jungen Anwärter zu ermöglichen. Und die Hauptfigur ist nicht der Kommissar, sondern die titelgebende junge Frau mit den Perlen. 

Auch im dritten Roman La femme rousse steht Maigret noch nicht im Mittelpunkt des Geschehens, sondern sein Assistent Torrence, aber hier überdeckt der Kriminalfall bereits die Liebesgeschichte. Mit dem vierten Proto-Maigret Maigret im Haus der Unruhe macht Simenon den entscheidenden Schritt, es ist sein erster »echter« Kriminalroman. 

Im Mittelpunkt steht eindeutig Kommissar Maigret, und zwar schon ab der ersten Zeile. Mit ihm fängt der Roman an, und um ihn herum baut sich das Geschehen auf: Ein Kriminalfall muss gelöst werden. 

Für den Maigret-Kenner ist es von der ersten Seite an ein Wiedersehen mit bekannten und lieb gewonnenen Requisiten, die Simenon hier allerdings zum allerersten Mal in Szene setzt: das Büro am Quai des Orfèvres samt Kanonenofen, die berühmte Pfeife und der Mantel mit Samtkragen. 

Erstausgabe von 1932

Auf dem Tisch stehen leere Biergläser, das typische Dekor und ein Teil des Personals sind bereits da: Die schummrigen Flure der Police judiciaire, der Bürodiener (auch wenn er hier noch nicht Jean heißt). Der treue Inspektor Torrence steht Maigret zur Seite, aber auch den Richter Coméliau gibt es schon, der Maigret seine ganze Karriere hinweg auf die Nerven gehen wird. 

Auch die typische Atmosphäre zeichnet Simenon schon mit gekonnt wenigen Strichen: In Maigrets Büro vermischt sich der Pfeifenrauch mit dem Nebel einer kalten Pariser Novembernacht, die Büros am Quai des Orfèvres sind verwaist. In dieser nächtlichen Ruhe kann Maigret endlich einen längst überfälligen Bericht schreiben, was ihm einige Mühe kostet – wir kennen Maigrets Abneigung gegenüber administrativen Tätigkeiten. Da bekommt er überraschend Besuch: Eine junge Frau, deren Blässe durch ihre schwarze Kleidung noch betont wird, spricht vor und bekennt sich eines Mordes schuldig. Ein dringendes Telefonat holt den Kommissar kurz ins Nebenzimmer, und als er zurückkehrt, ist die Frau verschwunden. Maigret wird sie am nächsten Tag wiederfinden – in einem Wohnhaus in Montreuil, einem Vorort von Paris. Es hat tatsächlich einen Mord gegeben, und der Kommissar beginnt zu ermitteln. 

Maigrets ureigene Methode, sich in die Atmosphäre des Tatorts, in die Welt des Opfers und der Verdächtigen einzufühlen, ist bereits zentral. »Die Hände in den Taschen, ging er auf und ab, blieb dann zehn Minuten lang in einer Ecke stehen, lief wieder herum, öffnete eine Schublade oder nahm einen beliebigen Gegenstand in die Hand und stellte ihn dann anderswohin.« Schnell wird Maigret das Versteckspiel einiger Bewohner des Hauses in Montreuil durchschauen. Henri Demassis, der Neffe des Ermordeten, ist in Mademoiselle Gastambile verliebt. Was hat er zu ver- stecken? Ist er der Täter? Maigret heftet sich an die Fersen des Verdächtigen und setzt ihn derart unter Druck, dass es sogar zu einer Schlägerei zwischen den beiden kommt. Der schmächtige Henri ist natürlich chancenlos gegen den dreißig Kilo schwereren Maigret, kommt aber mit einem blauen Auge davon. Irreparabel beschädigt wird nur Maigrets Pfeife, die auf dem Straßenpflaster zerspringt. Der junge Mann wird sich später bei Maigret mit einer neuen, teuren englischen Pfeife revanchieren, die Maigret annimmt, obwohl sie ihm zu elegant für sich erscheint. 

Die Requisiten, die Atmosphäre, Maigrets Methode, seine Nachsicht mit den Schwächen der Menschen und sein Hang, ein »Schicksalsflicker« zu sein – alles ist bereits da. Der Maigret, der im Haus der Unruhe ermittelt, ist schon sehr nah dran am Maigret aus dem ersten kanonischen Fall Maigret und Pietr der Lette. Etwas im Hintergrund bleibt hingegen Madame Maigret. Zwar wird darauf hingewiesen, dass Maigret verheiratet ist, und auch die mythische Adresse, der Boulevard Richard-Lenoir, wird erwähnt, aber Madame Maigret hat noch keinen eigenen Auftritt, und Maigret bezeichnet sie als eifersüchtig, was später undenkbar ist. 

Maigret im Haus der Unruhe erschien ab dem 1.März 1930 als Vorabdruck in der Zeitung L’Œuvre. Simenons Stammverlag Fayard hatte das Manuskript zuvor abgelehnt, was nachvollziehbar war, denn Fayard hatte zu diesem Zeitpunkt noch keine Krimireihe. Da die drei ersten Maigret-Protoromane erst ab Oktober 1930 in Buchform erschienen, waren die Leser der Zeitung die ersten, die diesen neuen Kommissar Maigret kennenlernen durften. 

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Woher kam eigentlich der Name Maigret? Jahrzehntelang wurde, wie in einem Krimi nach dem Täter, nach seinem Ursprung gefahndet. Simenon selbst konnte sich nicht erinnern. 1985 fragte ihn der italienische Journalist Giulio Nascimbeni in einem Brief: »Woher kommt der Name Maigret? Er ist komisch, denn er erinnert an das Adjektiv ›maigre‹, was auf Französisch ›mager‹ heißt, und das ist Ihre Figur ja keineswegs.« Simenon wusste nicht darauf zu antworten: »Ich habe keine Ahnung, woher der Name Maigret kommt. Wie bereits erwähnt wurde er in mindestens zwei meiner Groschenromane verwendet. Damals habe ich den ersten Namen genommen, der mir einfiel. Keine Sekunde lang habe ich an den Gegensatz zu seiner Korpulenz gedacht.« Man kennt die Sammlung von Telefonbüchern aus den verschiedensten Städten und Ländern, die Simenon in späteren Jahren besaß und in denen er blätternd nach Inspiration suchte. In den dreißiger Jahren gab es diese Sammlung noch nicht, zu dieser Zeit fand der Autor die Namen seiner Figuren eher in seiner Umgebung. 

Eine Theorie führt zurück in Simenons Jugend und seine Heimatstadt: In Lüttich gab es einen Polizisten namens Arnold Maigret, den der junge Simenon während seiner Tätigkeit als Lokalreporter kennengelernt haben könnte. Einleuchtender scheint die Erklärung von Pierre Assouline zu sein, der einen Namensvetter in der Zeit lokalisiert hat, in der Simenon seinen Kommissar erfand. Assouline, der die letzte große und am besten recherchierte Biographie Si- menons geschrieben hat, die erstmals 1992 und überarbeitet 1996 erschien, hat herausgefunden, dass Simenon, als er an der Place des Vosges 21 wohnte, einen Nachbarn hatte, der Maigret hieß und Arzt war. Die beiden Männer kannten sich von allmorgendlichen und -abendlichen Spaziergängen. Gemeinsam gingen sie auf der kleinen Grünanlage der Places des Vosges mit ihren Hunden Gassi (Simenon damals mit seiner riesigen Dogge Olaf). Vielleicht kam Simenon sogar durch seinen gleichnamigen Nachbarn auf die Idee, seinem Kommissar ein abgebrochenes Medizinstudium anzudichten. Gut möglich, dass ein anderer Nachbar wiederum, ein früherer Direktor des Amts für Brücken- und Straßenbau, ihn dazu inspiriert hat, Madame Maigrets Verwandte ebendort arbeiten zu lassen. 

Doktor Maigret von der Place des Vosges hatte geerbt und sich einen Traum erfüllt: Er kaufte sich ein kleines Boot, das in der Nähe der Île Saint-Louis vertäut war, zu dem sich bald ein holländischer Einmaster gesellen sollte, als nämlich auch Simenon sich ein Schiff kaufte. Später tauschte er dieses Boot gegen ein größeres ein, den berühmten Einmaster Ostrogoth, der so eng mit der Entstehungsgeschichte des Maigret-Zyklus verbunden ist. 

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Was ist nun also wahr an der Delfzijl-Legende? Darauf eine eindeutige Antwort zu geben, ist schwierig. Sicher ist, dass Simenon die komplizierte Genese Maigrets im Nachhinein extrem vereinfacht hat zu einer offiziellen Darstellung, die sich nicht unbedingt mit der Wahrheit deckte. Wie sollte man es ihm auch verübeln? Ihm, der doch selbst am besten wusste: Die besten Geschichten sind simpel und müssen gradlinig erzählt werden. Und eine solche lieferte Sime- non seinen Fans mit seiner Delfzijl-Legende aus dem Jahr 1967, auch wenn alles viel komplizierter war, und obwohl er es in früheren Darstellungen ganz anders erzählt hatte. Denn neben dem bereits erwähnten Artikel aus dem Jahr 1942, in dem Lyon als Geburtsort von Maigret genannt wird, erzählte Simenon 1932 in der Zeitung La République eine weitere, völlig andere Version der Geschichte: »Maigret wurde geboren … wann denn nun? … vor drei Jahren. Mein Plan war es, einen französischen Ermittler zu erschaffen. Ich war mit meinem Boot nach Norwegen gefahren, um ein wenig Ruhe zu finden.« Und dort soll Maigret zur Welt gekommen sein, »mit Freude und mit Liebe«, wie Simenon wie ein stolzer Vater ergänzte. 

Fünf Jahre später ist es weder Lyon noch Norwegen, sondern eben Delfzijl. In der Zeitschrift Confessionsbeichtet Simenon 1937: 

»Kommissar Maigret wurde aus dem größten Zufall geboren […]. Er wurde nicht einmal in Frankreich geboren, sondern in Holland, im Jahr 1929 oder 1930, als mein Boot, müde von einem Sommer in der Nordsee, sein natürliches Element verlassen hatte und den Händen der Schiffbauer ausgeliefert war.« 

Hier erzählt Simenon zum ersten Mal die Anekdote des alten Kahns, in dessen Schiffsbauch er geflüchtet war, um zu schreiben, ohne von den Hammerschlägen der Schiffbauer gestört zu werden: 

»An jenem Ort wurde Maigret geboren: Ich, auf einer Kiste sitzend, meine Maschine auf einer anderen, meine Füße Gleichgewicht suchend auf Ziegelsteinen, die unstabile kleine Inseln formten, mit einigen verschreckten Ratten, die die Rolle des Ochsen und des Esels an der Krippe übernahmen […]. Als ich den Roman beendet hatte, verschickte ich ihn eilig nach Paris und, wie die Schiffbauer mit meinem Boot fertig waren, fuhr ich wieder aufs Meer, erreichte Wilhelmshaven und band das Boot an einem Brückenpfeiler an, um ein neues Buch anzufangen.

Am folgenden Tag baten mich die Behörden, mich an einem anderen Ort niederzulassen, und ich wählte eine kleine Insel aus, die aus etwa vierzig rostigen Torpedobooten bestand. 

Es muss gesagt sein, dass die Geburt Maigrets schwer war. Ich war kaum am zweiten Kapitel, als mich jemand von der Spionageabwehr löcherte, weshalb ich einen deutschen Hafen suche für meine Schreibexperimente. Nicht überzeugt von meiner Unschuld, setzte er sich in meine Kabine und nahm meine Abschrift während der folgenden Stunden unter die Lupe. […] Er wurde mein erster Leser. Ein wenig enthusiastischer Leser, denn er gab mir 48 Stunden, um die deutschen Gewässer in Begleitung meines unvollendeten Maigrets zu verlassen.« 

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Lyon, Norwegen oder Delfzijl? Wenn der Autor selbst die Antwort nicht geben kann, sind die Literaturwissenschaftler gefragt. Nach der Öffnung des Simenon-Archivs, nach Sichtung von Vertragsunterlagen und unter Berücksichtigung der Chronologie von Simenons Reisen und seiner Publikationen untersuchten Claude Menguy und Pierre Deligny 1989 zum ersten Mal die »wahren« Anfänge von Maigret und fanden diese nicht nur in Delfzijl. Francis Lacassin hat dann im Jahr 2003 in seinem Buch La vraie nais- sance de Maigret die Erkenntnisse zusammengefasst und zum Teil anders interpretiert. Sowohl Menguy/Deligny als auch Lacassin bezweifeln, dass Maigret und Pietr der Lette in Delfzijl geschrieben worden ist. Menguy/Deligny gehen davon aus, dass der Roman eher im Frühjahr 1930 in Morsang-sur-Seine entstanden ist; Francis Lacassin, der viele Gespräche mit Simenon geführt hat und dessen Frühwerk wie kein zweiter kennt, kann schlüssig belegen, dass der Roman, den Simenon in Delfzijl geschrieben haben will, nicht Maigret und Pietr der Lette sein kann, sondern der »erste echte« Maigret ist, also Maigret im Haus der Unruhe. Und da Simenon mit seinem Boot nach seinem erzwungenen Zwischenstopp in Delfzijl nach Wilhelmshaven weiterschipperte, wo er nach eigenen Angaben seinen zweiten Maigret schrieb, ist für Francis Lacassin klar, dass es sich bei diesem zweiten Maigret, dessen Niederschrift von der deutschen Spionageabwehr gestört wurde, um Maigret und Pietr der Lette handeln muss. 

Maigret, der in Marseille seinen ersten Auftritt hat, Maigret, den Simenon womöglich in Lyon, wenn nicht in Norwegen erfunden hat, Maigret im Haus der Unruhe, der in Delfzijl geschrieben wurde – und nicht etwa Maigret und Pietr der Lette, der ganz woanders entstanden ist, dessen erste Kapitel höchstwahrscheinlich sogar auf deutschem Boden verfasst wurden … Die Simenon-Forscher haben immer tiefer gegraben, um die vielen Fundamente, auf denen das gewaltige Maigret-Epos steht, freizulegen. 

Ob die Legende wahr ist oder nicht, wichtiger ist, dass sie lebt. Die Neuausgaben der Werke Simenons in Italien, in England und in den USA sind große Erfolge, in Italien schaffen es Simenon-Neuübersetzungen regelmäßig auf die obersten Ränge der Bestsellerlisten, der englische Verlag Penguin hat von seiner Simenon-Neuausgabe in den letzten Jahren fast eine Million Exemplare verkauft und bringt, neben den Maigrets, auch eine Auswahl der großen Ro- mane in Neuübersetzungen in der prestigeträchtigen Reihe Penguin Modern Classics heraus. Simenon gehört weiterhin zu den meistübersetzten Autoren der Welt und wird weltweit gelesen, von Russland bis nach Südamerika. Und es gibt neue exotische Verlagsadressen: So wird Simenon gerade in Sri Lanka und Vietnam entdeckt. 

»Die Suche nach guten Krimis kann eingestellt werden: Maigret ist ohnehin der Beste«, verkündete einmal Der Spiegel. Die Suche nach der wahren Entstehungsgeschichte Maigrets hat immerhin einen unbekannten Maigret-Roman zutage gefördert. Mit fast neunzig Jahren Verspätung lässt sich nun der erste »echte« Auftritt Maigrets in der literarischen Welt entdecken. Und dabei soll nicht etwa Maigret und Pietr der Lette vom Sockel gestürzt werden, Maigret im Haus der Unruhe bietet aber ein wichtiges neues Stück im 103 Teile zählenden Maigret-Mosaik. Dieser vierte Maigret-Protoroman ist eindeutig die Blaupause für den offiziell ersten Fall. Und da es sich um eine Testversion handelt, scheute Simenon nicht davor zurück, in Pietr der Lette die zentrale Plotidee aus dem Haus der Unruhe zu wiederholen: das Zwillingsmotiv – nur dass aus Schwestern Brüder werden. Ein wenig rauer im Ton, stilistisch weniger geschliffen als Pietr der Lette ist Maigret im Haus der Unruhe aber einfach zu gut und zu spannend, um ihn nicht übersetzen zu lassen. Für viele Maigret-Fans, davon darf man ausgehen, wird dieser alt-neue Maigret ein großartiges Lesegeschenk sein. Die beiden Simenon-Biographen Patrick Marnham und Pierre Assouline waren sich in ihrer Einschätzung einig. Marnham bezeichnete den Roman als den »ersten wirklichen Maigret«, und Assouline urteilte: »Maigret im Haus der Unruhe ist der vollkommenste der frühen Maigret-Versuche. Mit diesem Roman sitzt die Figur des Kommissar Maigret. Simenon hat seinen Helden endlich im Griff.« Und seine Leser bis heute auch – kann man hinzufügen. Die Maigret-Statue soll aber bitte in Delfzijl bleiben und weder nach Lyon noch nach Wilhelmshaven verlegt werden. 

Nachwort zu „Maigret im Haus der Unruhe“, mit freundlicher Genehmigung von Daniel Kampa, in dessen Verlag die Gesamtausgabe von Simenon neu erscheint, einige Non-Maigrets, E-Books sowie die Taschenbücher erscheinen bei Hoffmann und Campe. – Ein Börsenblatt-Interview mit Daniel Kampa hier.

Hier im Text erwähnt und jüngst erschienen:

Georges Simenon: Das Rätsel der Maria Galanda. Vier Fälle für Kommissar G7. Aus dem Französischen von Kristian Wachinger. Mit einem Nachwort von Daniel Kampa. Deutsche Erstausgabe. Kampa Verlag, Zürich 2019. 286 Seiten, Pappband, 19,90 Euro.

Maigret im Haus der Unruhe (La maison de l’inquiétude). Aus dem Französischen von Thomas Bodmer. Mit einem Nachwort von Daniel Kampa. Kampa Verlag, Zürich 2019. 224 Seiten, Pappband mit farbigem Vorsatz, 16,90 Euro.

Maigret und Pietr der Lette (Pietr le Letton). Neuübersetzung von Susanne Röckel. Mit einem Nachwort von Tobias Gohlis. Kampa Verlag, Zürich 2019. 240 Seiten, Pappband mit farbigem Vorsatz, 16,90 Euro.

Simenon bei CrimeMag:

Mit und ohne. Essay von Thomas Wörtche.
Dinge, die wir alle kennen. Zum Start der Gesamtausgabe bei Kampa – drei Stichproben von Alf Mayer.
Klassiker-Check von Alf Mayer: Drei Zimmer in Manhattan.Hier zum Beispiel. Und hier.

Simenon bei Kampa:

Im April 2019 sind erschienen:
Die Ferien des Monsieur Mahé (Nachwort von Graeme Macrae Burnet)
Der Bürgermeister von Furnes (Nachwort von Martin Mosebach)
Die Marie vom Hafen (bei HoCa)
Der Mörder (bei HoCa)
Schlusslichter (bei HoCa)
Maigret und der Mann auf der Straße (Vorwort von Gabriel García Márquez)
Maigret und die Keller des Majestic 
Maigret und Inspektor Griesgram 
Maigret und der Messerstecher
Maigret amüsiert sich (Nachwort von Jean-Luc Bannalec)
Maigret und die Aussage des Ministranten (Nachwort von Manfred Papst)
Maigret und die Tänzerin 
Maigret und der Weinhändler 
Madame Maigrets Liebhaber
Maigret und Stan der Killer 

Am 6. Mai erscheinen:
Der Mann, der den Zügen nachsah (Nachwort von Axel Hacke)
Die Stammgäste (Nachwort von Jürgen Ritte)

Am 24. Juni erscheinen:
Maigret und der Treidler der Providence (Nachwort von Rüdiger Safranski)
Maigret in der Liberty Bar 

Am 4. September 2019:
Das Testament Donadieu (bei HoCa)
Wellenschlag (bei HoCa)

Am 4. November 2019:
Die Zeit mit Anaïs (bei HoCa)
Die Verbrechen meiner Freunde (bei HoCa)
Der Passagier der Polarlys (bei HCa)

Bereits 2018 erschienen:
Intime Memoiren (bei HoCa)
Brief an meine Mutter (Nachwort von Arnon Grünberg)
Maigrets Pfeife (Mit einer Reminiszenz an Simenon von Peter Ustinov)
Maigret und der Mann auf der Straße (Vorwort von Gabriel García Márquez)
Weihnachten bei den Maigrets (Nachwort von Dror Mishani)
Maigrets Memoiren 
Maigret und sein Toter (Nachwort von Gert Heidenreich)
Maigret und die junge Tote
Mein Freund Maigret 
Maigret im Haus des Richters
Maigret bei den Flamen
Maigret stellt eine Falle
Maigrets Jugendfreund
Maigrets Nacht an der Kreuzung
Maigret zögert
Der Schnee war schmutzig (Nachwort von Daniel Kehlmann)
Chez Krull (Nachwort von Julian Barnes)
Das blaue Zimmer (Nachwort von John Banville)
Die Witwe Couderc  (Nachwort von Paul Theroux)

Bei Hoffmann und Campe bereits erschienen:
Der Uhrmacher von Everton
Striptease
Die Schwarze von Panama
Die Pitards
Das Haus am Kanal

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