Geschrieben am 6. Oktober 2012 von für Crimemag, Film/Fernsehen

National Theatre Live: Frankenstein

Nieder mit der Schöpfung

– Christiane Nitsche war im Theater, äh, im Kino, äh, im Theater oder doch im Kino und trifft ein liebes, altes Monster: Danny Boyles und Nick Dears Frankenstein in Dosen …

Am Ende ist es die Kreatur, die sagt, wo’s lang geht. „Destroy your creation – come!“ Nach Norden, zum Pol, durch wabernden Nebel hinein in eine eisige Hölle führt das Monster seinen Meister, der nur noch ein Ziel kennt: seine Schöpfung zu zerstören und endgültig aus der Welt zu schaffen, das Prometheus’sche Werk rückgängig zu machen.

Dr. Victor Frankenstein ist noch am Leben, als die beiden das Bühnenrund im Olivier-Theater verlassen. Anders als in Mary Shelleys Romanvorlage „Frankenstein or The Modern Prometheus“ überlässt es Dramatiker Nick Dear in dem für das Londoner National Theatre adaptierten Stoff der Fantasie des Zuschauers, das Schicksal beider zu beschließen: von Schöpfer und Geschöpf, Vater und Sohn, Meister und Monster, vermeintlicher Allmacht und erwiesener Fehlbarkeit. Doch wie bei Shelley kann es nur ein gemeinsames sein, denn der eine ist nichts ohne den anderen. „He lives for my destruction, I live to lead him on.“ Wieder ist es die Kreatur, die das feststellt.

Benedict Cumberbatch (Fotonachweis siehe Textende)

Der doppelte Frankenstein

Das aktuell als Theater aus der Dose durch die Kinos der Welt tingelnde „Frankenstein“ von „NT Live“ ist eine in Bild und Wort symbolträchtige Parabel auf die zerstörerische Kraft der Schöpfung.

Regisseur und Oscarpreisträger Danny Boyle (Slumdog Millionaire, 127 Hours) und sein Autor setzen die Mensch-Monster-Symbiose mit einem so einfachen wie bisher einmaligen und genialen Kunstgriff in Szene: Beide Hauptrollen wurden doppelt besetzt. So gibt es nicht nur zwei Bühnenfassungen desselben Stücks, sondern auch zwei Livemitschnitte, die man möglichst beide gesehen haben sollte, um das in Gänze zu erfassen.

Jonny Lee Miller (Fotonachweis siehe Textende)

Benedict Cumberbatch (Atonement, Wreckers, Sherlock) und Jonny Lee Miller (Trainspotting, Dexter und ebenfalls demnächst als Sherlock Holmes in Elementary) tauschten Abend für Abend die Rollen des Dr. Frankenstein und seines fleischgewordenen Experiments, was allein schon ein schauspielerischer Kraftakt ohnegleichen ist. Lange wurde im Vorfeld der Premiere bei Kritik und Medien darüber debattiert, wer von beiden für welche der Rollen besser geeignet sei – und noch lange danach gibt es keine einhellige Meinung dazu, wobei Cumberbatch der authentischere Intellekt und Lee Miller die größere Emotionalität attestiert wurden. Dass beide – wie auch Regisseur Boyle – am Theater ihre Karriere begannen und vor der Kamera international erfolgreich sind, ist dabei der Garant für ihre starke physische Präsenz durch das Zwei-Stunden-Stück hindurch. Selbst vor der Leinwand in einem halbleeren Kinosaal ist dies spürbar. Im April erhielten sie sicher zu Recht gemeinsam den begehrten Laurence Olivier Award.

Taumelnd vor Unschuld

Minutenlang werden wir Zeuge, wie sich die Kreatur (hier in der kraftvollen Verkörperung durch Benedict Cumberbatch) durch eine aufgespannte Membran ins Leben kämpft, krampft, quält, zuckt und robbt, bis sie die ersten unsicheren Schritte, die ersten Sprünge machen kann. Bis sie taumelnd vor Unschuld und mit kindlicher Freude den neuen Morgen, singende Vögel und den ersten Regen im Gras erlebt. Die ersten Szenen sind geradezu überwältigend in ihrer Wortlosigkeit und Strahlkraft (setzt grandios das Licht ein: Bruno Poet): Totenglocken noch vor dem ersten Herzschlag, das erste von vielen Zitaten in einem solcherart gespickten Bühnenbilderreigen (Mark Tildesley) mit da Vincis goldenem Schnitt als Geburtshilfe und Musik des Elektronik-Duos Underworld, die durchgängig unter die Haut geht. Eindrucksvoll zeigt die Inszenierung den „neuen Menschen“ hin und her gerissen zwischen dem romantischen Ideal des „Wilden“, des Naturmenschen, der in kürzester Zeit eine Art Mini-Evolution vollzieht und der verletzten, verlorenen Seele, die „Satan’s bile“, die gallige Wut des Bösen in sich nährt. Gäbe es nicht immer wieder kurze, aufblitzende Momente britischen Humors in all dem – man müsste schier betäubt auf die Leinwand, respektive die Bühne starren.

Auch Papa Frankenstein ist zunächst ganz besoffen von seiner Schöpfung: „I can create people!“ Doch kaum vollbracht, ist ihm das eigene Werk ob seiner Hässlichkeit zuwider. Er jagt es fort, den nackten Leib notdürftig mit einem Umhang bedeckt. Das Journal, das er in der Tasche des Umhangs vergisst, wird ihm später zum Verhängnis werden, denn das Monster, von Gott und der Welt verlassen und verstoßen, sucht – endlich des Lesens mächtig – den treulosen Vater und zieht ihn zur Rechenschaft. „I should be Adam“, klagt es. „But Satan is the one I sympathize with.“ Es sind Dialogstellen wie diese, an denen sich die darstellerische Kraft des als „Sherlock“ aktuell gehypten Benedict Cumberbatch beweist: Gänsehaut garantiert. Gegen dieses Monster könnte vielleicht allenfalls ein von Cumberbatch selbst dargestellter Frankenstein bestehen. Ein Abgleich täte not (s. u.).

The apple has been eaten

Dear hat der namenlosen Kreatur eine Stimme gegeben. Sein Stück erzählt das Drama nicht neu, aber vielleicht zum ersten Mal in einer Fassung, die der Idee des Originals zur Ehre gereicht (die Urfassung von Frankenstein hatte Shelley ebenfalls mit der Nacht der Monstergeburt beginnen lassen). Im Zentrum stehen das Geschöpf und seine Mensch-/Monster-Werdung. Nicht den romantisch verbrämten Horror einer Gothic Novel, nicht den riesenhaften Dummbolzen mit Stöpseln im Kopf bekommen wir zu Gesicht, sondern eine von Narben überzogene, äußerlich entstellte, innerlich geschundene und zutiefst einsame Kreatur, die dank des blinden, verarmten Humanisten De Lacey (Karl Johnson, der für sein sensibles Spiel Szenenapplaus erntete) Lesen, Schreiben und die Kunst des Debattierens erlernt, die Plutarch und Milton’s „Paradise Lost“ zitiert und am Ende sogar aufgefordert ist, seinem Meister zu erklären was das sei: Liebe.

Doch da ist es bereits zu spät. Frankenstein bricht den faustischen Pakt, den er mit seinem Monster geschlossen hat. Das Experiment des so ambitionierten wie arroganten Wissenschaftlers Frankenstein droht außer Kontrolle zu geraten. „I am free“, quäkt das Monster, und der kühle Intellekt kapituliert schließlich doch vor Selbstzweifeln. Was, wenn das Monster nicht, wie zugesagt, verschwände? Was, wenn er mit der Braut, die er ihm im Gegenzug versprach, Nachkommen zeugte? Vor den Augen des entsetzten, verzweifelten Wesens vernichtet Frankenstein die eben aus frischen Leichenteilen gefertigte Schöne wieder. Ein fataler Fehler. „I’ll be with you on your wedding night“, prophezeit das Monster.

Gedroht – getan: Schon De Lacey hat mit dem eigenen und dem Leben seiner Familie dafür büßen müssen, dass er sein Versprechen auf Familienaufnahme nicht halten konnte. Von De Laceys Sohn und Schwiegertochter unter Prügeln verjagt, nahm das Monster Rache. Frankenstein wird es nicht besser ergehen.

Das Monster schlägt dort zurück, wo es ihm selbst am meisten weh tut. Es missbraucht das Vertrauen von Frankensteins Braut Elisabeth (überzeugende Unschuld: Naomie Harris), um den Missbrauch in der Hochzeitsnacht auf brutale Weise zu vollenden. „Now I’m a man“, triumphiert es, während die einzige, die jemals sehenden Auges dem Monster freundlich begegnet ist, ihr Leben aushaucht. Übersetzer für eine deutsche Bühnenfassung dürften es schwer haben, hier die Doppeldeutigkeit des englischen „man“ (= Mann, Mensch) adäquat zu übertragen.

Der Rollentausch ist perfekt: Frankenstein packt endgültig eine monströse Mordlust. Wütend jagt er dem Monster nach in die Arktis. Erst an der Pforte zur Hölle keimt kurz der Funke Hoffnung auf Versöhnung auf. Entkräftet lässt sich Frankenstein von seiner Brut mit rohem Fisch und Rotwein aufpäppeln. Den vermeintlich Sterbenden hält das Monster wie Maria den Sohn in Michelangelos Pieta. „All I wanted was your love“, bekennt die Kreatur, bevor sie den zum Schlittenhund mutierten Schöpfer ins ewige Eis führt.

Danny Boyle (Fotonachweis siehe Textende)

Bleibt die Frage, ob sich das Experiment zurück auf Null fahren lässt, bevor das Monster und sein Meister ihr Schicksal ereilt. Danny Boyle und Nick Dear lassen sie im eisigen, nunmehr leeren Raum stehen. Das Paradies aber scheint für immer verloren. Wer wüsste das besser, als das Monster selbst: „The apple has been eaten.“

In Deutschland wurde NT Live’s Frankenstein in diesem Sommer nur in drei Kinos gezeigt. Eine ständig aktualisierte Liste mit nationalen wie internationalen Ausstrahlungsorten, Trailern und weiteren Infos gibt es hier.

Christiane Nitsche

National Theatre Live: Frankenstein. GB 2011. Regie: Danny Boyle. Script: Nick Dear (nach dem Roman von Mary W. Shelley). Bühne: Mark Tildesley. Licht: Bruno Poet. Musik: Underworld.
Besetzung: Dr. Victor Frankenstein/das Monster: Benedict Cumberbatch. Dr. Victor Frankenstein/das Monster: Jonny Lee Miller. De Lacey: Karl Johnson
Elizabeth Lavenza: Naomie Harris. Gretel/Hure: Ella Smith. et alii.

Benedict Cumberbatch (Foto: Benedict_Cumberbatch_filming_Sherlock.jpg: Fat Les/Creative Commons-Lizenz 2.0 US-amerikanisch nicht portiert).
Jonny Lee Miller (Foto: Original uploader was Theninth at en.wikipedia. Later version(s) were uploaded by Hohum, Genisock2 at en.wikipedia/Creative Commons-Lizenz Attribution 3.0 Unported.
Danny Boyle (Foto: gdcgraphics at http://flickr.com/photos/gdcgraphics/Creative Commons-Lizenz 2.0 US-amerikanisch nicht portiert).