Geschrieben am 15. Juni 2018 von für Crimemag, CrimeMag Juni 2018

David Mitchells „Slade House“

U1_978-3-498-04276-9.inddSeelensauger

Mystery ist ein sehr schön doppeldeutiger Begriff. Natürlich ist David Mitchells Roman „Slade House“ ein mystery – und es gibt sogar einen wackeren Polizisten, der das Geheimnis um Slade House aufklären will, aber dabei auf ein viel tieferes Mysteriosum stößt. Thomas Wörtche hat sich amüsiert.

Mit Welterfolgen wie „Die tausend Herbste des Jacob de Zoet“, „Die Knochenuhren“ und „Der Wolkenatlas“ hat sich der Engländer David Mitchell als Meister der hochkomplexen, schwergewichtigen, labyrinthischen und, naja, ein bisschen megalomanen Phantastik erwiesen. Sein neuer Roman, „Slade House“, kommt mit seinen 237 Seiten dagegen eher  bescheiden daher und erzählt eine schon fast gemütliche, altmodisch anmutende Gruselgeschichte.

In „Slade House“ residieren die beiden „Seelensauger“ Norah und Jonah. Nicht, dass das Slade House in der engen Londoner Slade Alley gelegen, für jedermann sichtbar wäre. Nur alle neun Jahre öffnete sich, für geladene und sorgfältig ausgewählte Besucher, ein kleines, unscheinbares Eisentor – der Eintritt in eine sorgsam inszenierte Parallel- oder Scheinwelt, in der die Opfer in einer perfekten Simulation allen ihren Wünschen und Begierden begegnen, bis sie dem Bedürfnis der beiden Geschwister nach frischen Seelen, die die für ihre Unsterblichkeit brauchen, ausgeliefert sind und fortan als untote Porträts an der Galerie-Wand hängen müssen. Die Landschaft um Slade House, Slade House selbst, der Park, die Interieurs, alles erinnert an die phantasmagorische Ästhetik von Tim Burton-Filmen und darunter, kein Zufall, am deutlichsten an „Alice in Wunderland“. Das Buch von Lewis Carroll wiederum ist einer der wichtigsten Referenz-Texte zu „Slade House“. Unser Roman ist sowieso ein Dauerhommage an ein ganzes Set phantastischer Narrative von „The Truman Show“, „Rocky Horror Picture Show“, zu Stephen Kings „Risse in der Realität“, Conan Doyle´schem Okkultismus, Madame Blavatskys Séancen, Mythen vom „Alten vom Berge“ und virtuelle Realitäten, wie wir sie von Computerspielen kennen. Dazu Londoner Nebel (mit allen einschlägigen Assoziationen), mürrischen Pub-Besitzern und anderen exzentrischen Figuren und viele andere Anspielungen, Querverweise und stille Zitate mehr.

Bloody charming

Der Charme von „Slade House“ rührt aber davon her, dass Mitchell alle diese Bausteinchen nicht in der Absicht eines genre-reflektiven Meta-Romans zusammensetzt, sondern zu einer Art „neo-viktorianischen“ („neo-gothic“ wäre nicht ganz passend) Gruselgeschichte amalgamiert, die dennoch fest im Hier und Heute wurzelt. Dadurch entsteht kein Grauen, kein billig-schriller Schocker, sondern eine Art milder Grusel (wenn überhaupt), der sich auf seine prächtigen, bunten Bilder verlässt, und auf seine sehr engmaschig verzahnten Textpassagen, in denen kein Element, auch das banalste nicht, zufällig erscheint. Das ist kompositorischen großartig gemacht.

Wer unbedingt will kann, natürlich im „Seelenvampirismus“ der Geschwister eine zeitkritisch metaphorische oder parabelhafte Ebene sehen, ebenfalls in der Gier, an der die beiden letztendlich zugrunde gehen. Oder als leicht nostalgische Sehnsucht nach den Zeiten, als das Grauen noch nicht auf allen Ebene als brutal-zweckmäßiges Element menschlichen Handelns allgegenwärtig war.

Jenseits all solcher Interpretationsmöglichkeiten ist „Slade House“ aber ein schon fast kuscheliger kleiner Gruselroman mit hohem Wellness-Faktor und mit erheblichem Unterhaltungs- und Vergnügungswert.

Thomas Wörtche

David Mitchell: Slade House (Slade House, 2015). Roman. Deutsch von Volker Oldenburg. Rowohlt Verlag, Hamburg 2018. 237 Seiten, 20 Euro. Verlagsinformationen.

Der Text basiert auf der Radioversion im Deutschlandfunk Kultur vom 13. Juni 2018

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