Geschrieben am 29. August 2009 von für Crimemag, Kolumnen und Themen

Dr. Lehmanns Sach- und Warenkunde N° 15

Kleine Kriminalistik für Krimis

Heute: Kommunikation statt Kriminaltechnik. Ein Toter im Stroh. Erwürgt. Er trägt einen Anzug. Zugleich ist der Sommergast des Bauernhofs verschwunden, eine Frau. In deren Zimmer befinden sich Männerkleider. Die Ermittler rätseln und reden mit vielen Leuten. Am Ende zwingen sie den Bauern zu dem Geständnis, dass er sich in den weiblichen Gast verliebt hat, der aber ein Mann auf dem operativen und sozialen Weg zur Frau war. Darüber beschämt, hat er ihn/sie umgebracht, ausgezogen und der Leiche seinen eigenen Anzug angezogen.

Eine originelle Geschichte (Soko Wismar, Dez. 2008, ZDF). Nur hätte man zur Lösung nicht die volle Sendezeit für Befragungen und Alibiabgleich gebraucht, sondern nur die Aussage der Rechtsmedizinerin: „Der Anzug wurde dem Toten nachträglich angezogen. Er stammt aus dem Schrank des Bauern. Und wir haben Fremd-DNA unter den Fingernägeln des Opfers gefunden.“ Der Staatsanwalt hätte beim Bauern zügig einen Gentest angeordnet und Haftbefehl beantragt. Motivlage und Tathergang hätte man in der Vernehmung geklärt. Fertig. Die Pointe (der Tote wurde vom Täter umgezogen), beweist hier nur das kollektive Versagen von Kriminaltechnik, Gerichtsmedizin und Kommissaren. Aber es ist ja auch keine Soko, die in Wismar ermittelt, sondern eine Polizeidienststelle mit einem Kriminaldauerdienst (KDD). Das ist eh eine Nummer zu groß für die.

Man überlege nur: was für ein Akt, einer Leiche alle Kleider zu wechseln! (Ein Transsexueller trägt auch Frauenunterwäsche!) Und das soll ohne Spuren abgegangen sein? Da hätte sich nicht ein Strohhälmchen in die Unterhose verirrt, das kein Lebender ertragen hätte? Außerdem wurde das Opfer erwürgt. Und dabei soll es sich nicht gewehrt und den Täter verletzt haben? Das und noch viel mehr hätte die Rechtsmedizin festgestellt.

Der Fall hätte ohne eine einzige Zeugenbefragung (und ohne Geständnis) aufgeklärt werden können. Klar, wir Krimiautorinnen ersetzen die Kriminaltechnik lieber durch Kommunikation, denn sonst kommt keine dramatische Handlung zustande. Doch die Psychologie des Täters und all die Nebelkerzen, die Zeugen zünden, sind Elemente, die in der realen Ermittlungsarbeit von viel geringerer Bedeutung sind als in unseren Krimis. Tatsächlich ist die Untersuchung eines Tötungsdelikts institutionalisiert und unter zahlreichen Akteuren und Abteilungen aufgeteilt, findet in Laboren, an Konferenztischen und in Akten statt und wird von zahllosen, dem individuellen Handeln der Ermittler übergeordneten Regeln begleitet.

Der Bauer wäre sowieso entschieden besser beraten gewesen, wenn er die Leiche nackt in einem Gewässer entsorgt hätte. Natürlich hätte die KT irgendwann in seinem Auto und auf dem Hof Genspuren des Opfers gesichert. Und so hätte man ihn auch überführt.

Christine Lehmann

Christine Lehmann & Manfred Büttner: Von Arsen bis Zielfahndung. Das aktuelle Handbuch für Krimiautorinnen und Neugierige.
Ariadne im Argument Verlag 2009. 250 Seiten. 16,90 Euro.

| Zur Homepage von Christine Lehmann