Geschrieben am 1. Dezember 2019 von für Crimemag, CrimeMag Dezember 2019

Ein Buch – Zwei Stimmen: „Geblendet“ von Andreas Pflüger

Meisterwerk der Thriller-Kunst

Constanze Matthes und Alf Mayer über ein bei der „großen“ Kritik zu Unrecht weithin unbeachtet gebliebenes Buch. Kein Pro und Contra also, sondern der Versuch, die Facetten eines perfekt geschliffenen Diamantens zu erfassen.

Jenny Aaron steht an einem Scheideweg. Fünf Jahre sind seit ihrer schweren lebensbedrohlichen Verletzung während eines verheerenden Einsatzes in Barcelona vergangen, fünf Jahre lebte sie seitdem in völliger Dunkelheit, fünf Jahre hat sie ihre Fähigkeiten so trainiert, dass sie weiterhin der Sonderabteilung angehören kann und zu gefährlichen Einsätzen gerufen wird. Nun könnte ihr Leben indes eine entscheidende Wendung erfahren – dank einer neuartigen Therapie in der Klinik von Professor Thomas Reimer in Binz auf der Insel Rügen. Doch ein neuer Fall ruft, steht für Aaron eine wichtige Entscheidung an. Denn die Einheit um ihre Chefin Inan Demirci und ihren charismatischen Kopf Ulf Pavlik ist dem korrupten Senator Svoboda auf den Fersen. Im neuen Roman von Andreas Pflüger muss sich die taffe Heldin trotz der gefährlichen Ermittlungen vor allem mit sich selbst auseinandersetzen.

Was allerdings keineswegs bedeutet, dass der Thriller zu kopflastig wird. Ganz im Gegenteil. Auch der nunmehr dritte Band bietet ein überaus rasantes und dramatisches Geschehen mit einer Vielzahl überraschender Wendungen – und leider auch zahlreichen Opfern. Schon auf den ersten Seiten gibt es die ersten Toten. Irgendwann hört man auf zu zählen. Der Leser sollte für dieses Ausmaß der Gewalt abgehärtet und gewappnet sein. Die Zahl wächst mit einem Schlag an, als auf den Berliner Sitz der Sonderabteilung ein Bombenattentat verübt wird. Zeitgleich wird Svoboda tot in seinem Haus aufgefunden, kann kurz zuvor Aaron einem Anschlag auf Leib und Leben nur mit Mühe entkommen. Ihr Gegner ist eine Gegnerin: eine Frau, die ähnliche Fähigkeiten wie die Ermittlerin besitzt und eine große Herausforderung für Aaron und das Team darstellt. Im Lauf des Geschehens werden mehrere Parallelen und Verbindungen zwischen Aaron und jener weiblichen Kampfmaschine sichtbar, die Malin genannt wird. Drahtzieher dieser Gewaltspirale ist Mason, ein Amerikaner mit Macht und Einfluss, auf den Aaron bereits während ihres Aufenthaltes im „Kloster“ des Budō-Meisters Kisho in den Blue Ridge Mountains in Virginia getroffen war. 

Die Therapie und die überraschende Begegnung mit einer gleichstarken Kontrahentin bringen Aaron dazu, sich mit ihren Wesen, vor allem mit ihrer Vergangenheit und ihrer komplexen Beziehung zu ihrem Vater, intensiv auseinanderzusetzen. Ein überaus schmerzlicher Prozess, der sie teils an die Grenze ihrer körperlichen und mentalen Fähigkeiten bringt und ihre inneren Verletzungen offen legt. Dabei ist kein Mitglied der Abteilung frei von äußeren wie seelischen Wunden und Narben. Jeder hat im Laufe der Zeit und durch die gefährlichen Einsätze der Vergangenheit mehrmals leiden müssen, manch einer hat darüber hinaus ein privates Schicksal erlebt. Doch jeder ist Teil dieser eingeschworenen und fast familiären Truppe, die zwar nicht frei von Konflikten und Diskussionen ist, die Demirci jedoch unbedingt vor den Machtspielchen auf höchster politischer Ebene wie eine Löwenmutter beschützen will. Vor allem dann, als nach dem Bombenanschlag die Mannschaft auf nur sieben Mitglieder, die sogenannten „sieben Samurai“, reduziert wird. Neben der dunklen Gewalt zeigt da der Roman als hellen Kontrast eine überaus menschliche sowie berührende Seite, die meist sichtbar wird, wenn eines der Mitglieder sein Leben lässt oder an ein bereits verstorbenes erinnert wird. Durch die rasante Handlung weht immer ein Hauch der Melancholie. Viele Abschiede hat es gegeben und wird es noch geben. 

Mit „Geblendet“ legt Andreas Pflüger nach den beiden vorherigen Teilen „Endgültig“ und „Niemals“ erneut ein Meisterwerk der Thriller-Kunst vor, das einen Zeit und Raum vergessen lässt. Atemlose Spannung trifft auf in zweifachem Sinne schlagfertige Figuren, die in den Dialogen derben, kessen wie wortgewandten Humor beweisen, sowie eine poetische Sprache, die sich in den sinnlichen Beschreibungen der Szenerien zeigt und die man wohl nur selten in dieser komplexen Form in diesem Genre finden wird. Der Roman enthält literarische Verweise sowie Anspielungen, so beispielsweise auf Victor Hugos Klassiker „Der Glöckner von Notre-Dame“ und Tolkiens Mammutwerk „Der Herr der Ringe“, und vereint auf vielschichtige Art und Weise verschiedene Themen, die von den außergewöhnlichen Fähigkeiten blinder Menschen in ihrer Sinneswahrnehmung bis hin zur japanischen Kampfkunst reichen. 

Das Buch gibt dabei interessante Einblicke in die philosophische Gedankenwelt sowie die verschiedenen Möglichkeiten mit dem Wissen um die Physiologie des Menschen mit gezielten Schlägen oder Berührungen den Gegner auszuschalten oder mit der Kraft des Geistes und des Willens extreme Schmerzen auszuhalten. Zudem erfährt der Leser viel über die hochspezialisierte Arbeit von Sondereinheiten und die brisante Thematik der grenzüberschreitenden Verknüpfung zwischen Politik und Kriminalität, die ein durchaus mulmiges Gefühl hervorrufen kann. Am Ende des Buches verweist Pflüger auf die umfassende Unterstützung, die er von vielen Seiten und Personen bei der Arbeit an seinem Werk erfahren hat.

10 Gründe, warum das neue Buch der Reihe so überaus lesenswert ist:

  • Eine Ermittlerin wie Jenny Aaron gibt es nur einmal. Sie ist ein Unikum und      ragt aus der Riege der Ermittler heraus.
  • Zu ihrer Einheit zählen Männer, die auch weinen können.
  • Der Band bietet sowohl Kopfkino als auch Kopfarbeit, 
  • ist ein Hingucker da sehr schön gestaltet (nur das Lesebändchen fehlt!), 
  • hat ein Ende, das eine Tür öffnet für einen nächsten, hoffentlich vierten Teil,
  • und sensibilisiert für blinde Menschen und ihre besonderen Fähigkeiten. 
  • Die Handlung führt auf eine ungewöhnliche Tour von Rügen und Berlin über   Cottbus, Paris und Virginia bis nach Barcelona 
  • und beweist, dass große Tragödien auch ein kleines, indes gefühlvolles Happy-End haben können. 
  • Das Buch lässt knallharte Thriller-Leser zum Taschentuch greifen
  • und erzeugt einen unbändigen Appetit auf eine Kaffeerunde mit Helmchens Nussecken.

Constanze Matthes

Der beste Thrillerautor der Welt

Nach 35 Jahren als Rezensent im Reich der Kriminalliteratur mal ein Superlativ: für Andreas Pflüger und „Geblendet“ – von Alf Mayer

Eine blinde Elitepolizistin, die zu einer nur „Die Abteilung“ genannten Sondereinheit gehört, der Bad Bank der deutschen Polizei- und Sicherheitsorgane, die „dorthin geht, wo der Einsatz anderer Kräfte nicht zielführend wäre“. Eine Heldin, die an ihrer Blindheit wächst und uns die Welt ganz anders sehen lässt. Eine Heldin, die stärker als viele ist, weil sie nach dem Bushidō lebt, dem Ehrenkodex der Samurai. Eine Heldin, die eines Tages vielleicht wieder sehen kann, dazu aber jeden Adrenalinschub in ihrem Körper vermeiden müsste – alle Gefahr und Aktion also. Natürlich aber türmt sich Gefahr auf Gefahr und Aktion auf Aktion, und dann begegnet sie einer Frau, die als Kämpferin noch stärker ist als sie. Sozusagen ihrer bösen Schwester. Ihrem dunklen Spiegel. Denn als Motto hat dieses Buch mit dem rabenschwarzen Farbschnitt: 

Wie willst du je erfahren
was hinter dem Spiegel ist
wenn du ihn nicht
zerbrichst?

Es gibt Bücher, die schreiben sich von alleine. Thriller gehören gewiss nicht dazu. Gute Thriller gleich gar nicht. Ein Thriller, das ist Feinmechanik vom Schwierigsten, daher ist es ein ziemlich aus der Mode gekommenes Romanhandwerk. Es gibt schlicht nicht genügend Uhrmacher – oder Autoren, die sich eine solche Arbeit machen, wo man über ein- oder zweipersonale Befindlichkeit doch auch ein Buch vollkriegt. Man muss ein sehr guter Autor sein, perfektionistisch, mit Auge für die kleinsten Details, die Schönheit der Nebensachen und die Mechanik der Federkräfte, man muss ständig die haushohen Klippen der Klischees zu umsteuern wissen und – am wichtigsten – eine Geschichte zu erzählen haben, die mehr als nur packt. Thriller, das ist die spannendste Art der Literatur, die es gibt.

Deshalb gibt es sie so selten.

Auch wenn das oft unberechtigt auf einem Umschlag steht und die Patrica Highsmith-Folgerezeption jede Beziehungsspannung gerne zu einem „Thriller“ macht, obwohls nur eine psychologische (An) Spannung ist.

Ohne starke Figuren und ohne starke Konflikte funktioniert ein Thriller nicht. Alles muss kraftvoll sein, Bigger than Life, aber wenn es nicht glaubhaft ist, bleibt es nur Karikatur. Lachhaft. Schund und Schrott. Blamage.

Spannungsliteratur steht in Deutschland immer noch unter dem Vorbehalt des Trivialen – anders als in den angelsächsischen Ländern, die dieses Problem mit E und U, mit Ernst und Unterhaltung nicht so haben. Spannungsliteratur gleichberechtig neben der „hohen“ in einem Renommier-Verlag, das ist bei uns immer noch Ausnahme. Anderswo ist man längst weiter. Der erste Roman von Dashiell Hammett erschien prominent in New York bei Alfred A. Knopf im Jahre 1929, der erste Chandler 1939.  Ich kenne genügend Leute, die sagen: Kriminalromane lese ich nie. Ihnen entgeht so manches,  vor allem aber: Der beste Thriller-Autor der Welt. In den 35 Jahren, die ich meine Kolumne „Blutige Ernte“ im „strandgut“ schreibe, habe ich dieses Etikett noch nie verwendet. Jetzt, beim dritten Thriller mit der blinden Elitepolizistin Jenny Aaron, ist es für mich offiziell: Andreas Pflüger ist der beste Thriller-Autor der Welt.

Pflüger schreibt nicht, er meißelt seine Romane

Plot und Dialoge funkeln, die Sprache ist straff wie Klavierdraht. Plot und moralische Tiefe, die Schattenkunst von Ambivalenz und Ambiguität machen gute Agententhriller aus, so unterbittlich und gekonnt aber in Timing und Tempowechsel und Innensicht/ innerem Monolog kannte ich das bisher nur vom Großmeister Adam Hall (1920 – 1995), von mir bei CrimeMag hier porträtiert. Adam Halls heute noch atemberaubend moderne Romane sind konsequent aus der Perspektive des sich ständig an die Kandarre nehmenden Feldagenten Quiller erzählt, Hall ist ein Meister des Situativen, kann Sekundenbruchteile auf sieben nagelkauende Seiten dehnen – Pflüger übertrifft ihn, dauernd, einmal erzählt er in einem ganzen eigenen Kapitel eine Bombenexplosion, sie dauert 32 Tausendstelsekunden. Pflügers erzählerische Brennweite ist zum vollen 70-Millimeter-Kinoformat aufgezogen, es ist schlicht traumhaft, wie er seine Cinemascope-Kamera handhabt, die Bedeutungsebenen wechselt und zum Schwingen bringt, sozusagen ständig mehrstimmig schreibt, einen romantischen Schriftsteller wie Victor Hugo ins 21. Jahrhundert holt, japanische Bushidō-Kultur variiert und aktualisiert, all die Mediengegenwart in den Hosentaschen seiner Figuren hat und seine Hauptfigur zwischen Selbsthader, Reflexion, Konzentration und purer Aktion oszillieren lässt. All das in einer begeisternd dichten Sprache, die Dialoge gefeilt wie in den screwball comedies, kulturelle Bezüge wie zwölf Jonglierbälle auf einmal in der Luft, high and low im ständigen Ballett, nicht umsonst schätzen sie ihn bei Suhrkamp. Ganz im Sinne Elmore Leonards sind bei ihm alle überflüssigen Worte gestrichen. Pflüger schreibt nicht, er meißelt seine Romane.

Ligaturen …

Diesen jetzt hat er sogar selbst gesetzt, nachdem er „Niemals“ zusammen dem Typografie-Guru Erik Spiekermann gestaltet und von ihm gelernt hatte. Wir standen während seiner Arbeit an „Geblendet“ in Kontakt, eines Tages überraschte er mich mit der Frage, wie ich diese oder jene Stelle im Buch mit oder ohne Ligatur fände. Eine Ligatur ist die Verbindung zweier engstehender Buchstaben, wenn zum Beispiel f, i, l, t aufeinander folgen. Pflüger hatte sich alle 1200 solcher Stellen in seinem neuen Roman angeschaut und entschied nun händisch, wie jedes dieser Worte im Ligatur-Detail im Satz am besten aussah. Ich denke, über seine sonstigen Skrupel bei der Wortwahl muss man nichts weiter sagen.

Schon die beiden Vorläufer-Romane fand ich perfekt geschliffen wie den Koh-i-Noor und einen Ritterschlag fürs Genre. Mit „Geblendet“ übertrifft Andreas Pflüger sich selbst. All die Probleme, die ein drittes Buch haben könnte, gibt es hier nicht. Im Gegenteil. Das größte Kompliment, das man den Hauptfiguren dieses prallvollen Buches machen kann, ist, dass jede von ihnen einen eigenen Roman wert wäre. Inan Demirici etwa, die türkischstämmige Leiterin der Abteilung, der alte Lisseck mit seinen Leichen im Keller, der einbeinige Scharfschütze Pavlik, die Sekretärinnenseele Helmchen oder der alte Zen-Meister Kisho. Das Universum der blinden Polizistin Jenny Aaron ist noch nicht zu Ende erzählt – das ist die wunderbare Nachricht nach 459 Seiten „Endgültig“, 474 Seiten „Niemals“ und nun 508 Seiten „Geblendet“. Die Türen stehen offen. Gleichzeitig, sollte Pflüger mit Jenny Aaron aufhören – und danach sieht es momentan aus – hat die Trilogie eine perfekt runde Form. Auch das jetztige Ende ist schlicht feuerwerkswürdig und entlässt eine der bemerkenswertesten Romanfiguren der letzten Dekade in den literarischen Olymp. Jenny Aaron wird bleiben, als Figur. So wie Philip Marlowe.

Andreas Pflüger ist übrigens der erste Autor im Suhrkamp-Hauptprogramm, bei dem „Thriller“ auf dem Cover steht und nicht wie üblich „Roman“. 50 Probeseiten in einer gut besetzten Auktion hatten ihn zu dem Verlag gebracht, ursprünglich war es war ein Zwei-Buch-Deal. Längst kann man ihn einen echten Suhrkamp-Autor nennen. Und das nicht nur, weil Max Frischs „Mein Name sei Gantenbein“ das Lieblingsbuch von Jenny Aaron ist. Kein anderer Autor und kein anderer Verlag tragen derzeit mehr dazu bei, die Mauern zwischen U und E weiter einzuebnen. 
Pflüger zeigt, dass geschliffenste Sprache und literarischer Mehrwert, Poesie und Humor, Existentialismus und alle Fragen der Philosophie auch in einen Thriller passen. Er hat auch die Kunst gemeistert, action-Szenen wie in den geilsten Actionfilmen zu schreiben. „Alles mit den Waffen muss stimmen und mit den Abläufen“, sagt er, „aber es funktioniert erst mit Poesie.“ Pflüger liebt expressionistische Lyriker wie August Stramm oder Jakob van Hoddis ebenso wie Mangas oder Actionfilme, obskure indonesische inklusive. Zu seinen kulturellen Ikonen zählen Primo Levi, Flann O’Brien, Patrick O’Brien, Ben Hecht, Hitchcock, Jacques Prevert und Max Frisch. 

In „Niemals“ saß eine wunderbare Rilke-Stelle zentral, es wurden Gemälde von Hieronymus Bosch oder Lucas Cranach erfunden oder vom „Masse-Mensch-Kraftwerk“ gesprochen. Der Dichter Browning, „der so heißt wie Aarons Lieblingspistole“, wurde zitiert mit „Klammerst du die Liebe aus, ist die Erde ein Grab.“ In „Geblendet“ zieht sich Victor Hugos großer Roman „Der Glöckner von Notre Dame“ als Kammerton A (den Ausdruck habe ich von Alexander Kluge) durch den Roman. „Du glaubst, dass man in den Wäldern nie ein stolzeres Tier gesehen hat als dich“, faucht die böse Malin ihrer Gegnerin Jenny Aaron beim Kampf in Prora auf Rügen an. Und schon ein kleines Mädchen lernt, dass die Liebe uns zum Menschen macht und zum Ungeheuer.

Pflügers Ikonografie ist bemerkenswert: zum einen urdeutsch und blaublumig romantisch, zum anderen vom Actionkino geprägt. Als wäre das nicht genug, gibt es zudem als durchgängigen Faden den Bushidō, dem seine Hauptfigur folgt – den Ehrenkodex und das Ethos der Samurai. Das „Niemals“ des zweiten Aaron-Buches war das Damoklesschwert der dauerhaften Erblindung, das über der Ausnahmepolizistin hängt, seitdem sie in Barcelona bei einer Verfolgungsjagd eine Kugel in den Kopf bekam. In „Geblendet“ – mit Schauplätzen in Paris, Irland, Virginia, Berlin, Barcelona und auf Rügen – muss Aaron sich entscheiden, ob sie das Sehen wieder lernen will, oder ob Blindheit vielleicht doch das größere Glück ist. Motto: „Als ich blind war, habe ich mehr gesehen.“ All das eingebunden in eine Rachegeschichte, die dauernd gegen all die Klischees vorwärtsprescht. Es gibt eine Bombenexplosion, wie man sie so noch nicht in der Literatur gelesen hat – seit seinem Erstlingsroman „Rubikon“ hat Pflüger beste Recherchedrähte ins BKA, was er daraus macht ist Literatur. Und es gibt auch die sieben Samurai. Tatsächlich. Pflüger bekommt das hin.

Kurzum: Wer wieder Lust am Lesen bekommen will, lese Pflüger, am besten alle drei Jenny Aarons in Folge – sie sind ein einziger, großer Entwicklungsroman, gehören eigentlich in einen Band. Dass die „große“ Kritik, die ihn bei „Endgültig“ noch feiert, ihn nun beim dritten Band so gut wie völlig unbeachtet ließ, zeigt einen Strukturdefekt. Eine Wahrnehmungsschwäche. Denn bitte, nur weil dies Teil 3 einer Serie sei, dies ungeheuer gute Buch nicht zu besprechen, das ist schlicht beknackt. Weil ein Autor den Goldstandard schon zum dritten Mal hält, wird der Goldstandard nicht mehr benannt? Ich kenne kein besseres Buch aus dem Spannungsgenre, das mir in diesem Jahr begegnet wäre. Deshalb mein Superlativ.

Alf Mayer

Andreas Pflüger: Geblendet. Thriller. Suhrkamp Verlag, Berlin 2019. 508 Seiten, 22 Euro.

Siehe auch Werner Fuld über Andreas Pflügers „Niemals“: Wie man Thriller in große Literatur verwandelt, CrimeMag November 2017, und Begnadigt, aber nicht frei über „Geblendet“.

Werner Fuld hat viele Jahre als Literaturkritiker unter anderem für die FAZ und Die Zeit gearbeitet und ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt von ihm erschienen: „Das Buch der verbotenen Bücher. Universalgeschichte des Verfolgten und Verfemten von der Antike bis heute“ (Galiani, Berlin 2012und„Eine Geschichte des sinnlichen Schreibens“ (Galiani, Berlin 2014).

Siehe auch: „Ich bin ja nur das Gefäß meiner Figuren“ – Alf Mayer im Gespräch mit Andreas Pflüger (CrimeMag Oktober 2017)
Alf Mayer im „strandgut“ über Andreas Pflügers „Geblendet“: Der beste Thrillerautor der Welt (S. 31)
Peter Münder über „Operation Rubikon“: Wenn die Mafia mitregieren will (CM April 2017)
Sonja Hartl über „Endgültig“: Die Professionalität von Ermittlerinnen (CM Mai 2016)
Sowie: Wer Andreas Pflüger zu seiner blinden Heldin inspirierte: Wartet, bis der Blinde ihn gesehen hat (CrimeMag, November 2017) 
Und, aktuell: Von Gantenbein zu Frankenstein. Andreas Pflüger und sein Fachberater Professor Dr. Bernhard Sabel über die Liaison von Literatur und Hirnforschung, Jenny Aarons Stressfaktoren, toxische Hoffnung, Reparaturmechanismen des Nervensystems und Blindheit als anderes Sehen. 

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