Geschrieben am 1. November 2020 von für Crimemag, CrimeMag November 2020

Ein Jahr beim FC Union Berlin

Unter Sinnsuchern 

Sein Traum von einer Langzeit-Studie beim krassen Bundesliga-Außenseiter FC Union Berlin wurde wahr: Sport-Reporter  Christoph Biermann konnte sich ein Jahr lang bei den Unionern  umsehen und hat seine Erfahrungen nun im Buch „Wir werden ewig leben“ festgehalten: Authentisch, spannend und mit überraschenden Einsichten über Fußball als Religionsersatz. –  Von Peter Münder. 

Nicht der mit Ach und Krach geschaffte Aufstieg der Unioner in die erste Bundesliga war das große Wunder für den Langzeitbeobachter Christoph Biermann, sondern dass er tatsächlich mit dabei sein durfte: Beim Training, im Mannschaftsbus und sogar bei Präsidiumssitzungen – „es ist kaum zu glauben“, räsonniert er bei der ersten Mannschaftsbesprechung. Da trägt er schon die Vereinskleidung, damit er gleich als „Mitglied des Rudels“ erkannt wird. Und dann absolviert er auch ganz passabel seine Initiations-Prozedur vor der Mannschaft, als er sie singend mit einer  gekrächzten Staccato-Version von „Eisgekühlter Bommerlunder“ beglückt. Bedenken wegen möglicher Risiken und Nebenwirkungen des beobachtenden Reporters sind schnell verflogen ­– kein Spieler jammert nach einer Niederlage, dass der kritische Reporter sich als Störfaktor negativ auf seine Leistungen ausgewirkt hätte. 

Als Fußballfan und  Leser kann man gierig Honig saugen aus diesen Beobachtungen: Nicht nur Urs Fischers Trainer-Analysen vor einem Spiel mit Fragen an das Team („Was wissen wir über Paderborn?“) sind erhellend, beeindruckend ist auch Fischers  Fähigkeit, die Mannschaft vor einem Pokalspiel gegen Viertligisten mental zu stärken, weil die Versuchung  zum laschen Umgang mit vermeintlichen  Stümpern doch ziemlich ausgeprägt ist. Ja, mentale Stärke: Das war ja in der letzten Saison bei einigen Vereinen (hallo BVB!) das Wort der Stunde, das manchen Trainer aber nicht aus seiner Schockstarre befreien konnte. 

Biermanns Erfahrungen bei Touren zu Auswärtsspielen, seine Begegnungen mit Fans und deren großer Respekt gegenüber dem Trainer sind faszinierend und auch überraschend, weil er keine Klischees bedient. Andererseits ist Union ja auch bekannt dafür, alles anders zu machen und sich dennoch nie zu ändern – es  scheint also die perfekte Union-Quadratur des runden Leders zu sein. In Gesprächen mit den Spielern kommt der Union-Chronist dann auch zu dem eigentlichen Erkenntnisgewinn, den er sich langzeitmäßig ersehnt hatte: Die Spieler seien eigentlich alle auf einer Sinnsuche, erfährt er etwa, weil Fußball  für  viele eine Religionsersatz darstelle. Und die Angst davor, im Stadion ausgebuht zu werden, würde einige Spieler fast paralysieren, weil sie sich dann vor ihren Frauen und Kindern erniedrigt fühlten. Überraschend ist außerdem die Tatsache, dass es auch für Union- Hard Core-Fans und Ultras Verhaltens-Regeln und zu beachtende Einsichten gibt: Diese vier „Union- Gebote des Andersseins“ lauten:

  1. Mache nie einen Spieler zum Sündenbock!
  2.  Pfeife nie die Mannschaft aus!
  3. Verlasse nie das Stadion vor dem Schlußpfiff!   
  4. Heiserkeit ist der Muskelkater der Unioner! 

In diesen auf minimale Zuschauermengen pulverisierten Corona-Zeiten erörtert Biermann auch die ziemlich trostlose Lage angesichts drohender Quarantäne-Verordnungen oder komplett abgesagter Spiele; er liefert ein Kapitel „Schmerz sei mein Meister“ über die Leiden des Spielers und macht sich Gedanken über das Dilemma zwischen hyperaktiven Wettkampfphasen und meditativen Langweiler- oder Ruhe-Momenten. Die Unioner kann man jedenfalls beglückwünschen, dass sie Christoph Biermann diese Langzeit-Begleitung ermöglicht haben: Sein „unglaubliches Jahr mit dem 1.FC Union Berlin“ bringt uns diesen einmaligen, außergewöhnlichen Verein aus einer sehr sympathischen, nah am Ball verorteten Perspektive mit Enthusiasmus und Begeisterung näher. 

Peter Münder

Christoph Biermann: Wir werden ewig leben. Mein unglaubliches Jahr mit dem 1. FC Union Berlin. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2020, 412 Seiten, 18 Euro.