
Karl Anders und seine geliebte Pfeife
Anarchist, Kommunist, Widerstandskämpfer, Sozialist …
Ein Salut von Alf Mayer
20 Jahre ist er nun tot. Sein Freund Victor Gollancz schon 50.
Zeit, das Gespann Karl Anders und Victor Gollancz hier bei CrimeMag vorzustellen.
„Kriminalromane sind die Literatur der Demokratie. Der Kriminalroman und sein Detektiv sind nur in einer Welt möglich, die nicht der Allgewalt des Staates, der Gestapo oder des NKWD ausgeliefert ist. In einem Polizeistaat ist ein Sherlock Holmes selbst als literarische Figur undenkbar.“
Solche Gedanken versuchte der Widerstandskämpfer und Emigrant Karl Anders in den frühen 1950ern den deutschen Volksbibliothekaren nahe zu bringen. Leider ziemlich vergeblich – Raymond Chandlers Romane etwa waren für sie „moralisch bedenklich“. Die Vorfahren von Frau Radisch und anderen Literatursittenwächtern hatten und haben eine „untere Grenze zu verteidigen“ (siehe auch die Besprechung von Fritz Wölckens „Der literarische Mord“ nebenan in dieser Ausgabe).
Nach dem Vorbild seines englischen Freundes Victor Gollancz (Porträt ebenfalls in dieser Ausgabe) und der angelsächsischen Lesegewohnheiten sollte die sozusagen garantierte Abnahme „frischer“ Kriminalliteratur den linken Nest-Verlag finanzieren helfen. Zwischen 1949 und 1959 brachte Karl Anders – in zum Teil 50 Jahre gültigen Übersetzungen – die Bücher von Raymond Chandler, Dashiell Hammett, Eric Ambler, Geoffrey Household, Dorothy Leigh Sayers, William Irish (Cornell Woolrich), Nicholas Blake, Vera Caspary, The Gordons, Raymond Postgate, Rex Stout, Erle Stanley Gardner, James Mallahan Cain oder Ed Lacy heraus – die berühmten Krähen-Bücher.
Im Nürnberger Irrgarten
Karl Anders gründete den „Nest Verlag“ 1946 zusammen mit dem ehemaligen KZ-Häftling und Lizenzträger Rudolf Zitzmann und dem Ex-Zuchthäusler Willi Geusendam, alle drei politisch links vorbelastet. In der Nazi-Zeit hatte Karl Anders als KPD-Mitglied den Untergrundkampf mit organisiert, hatte quer durch Deutschland illegale Druckereien mit installieren helfen, musste das Land verlassen, landete über die Slowakei, Polen und das Baltikum in England, schloß sich Waldemar von Knöringen und anderen Emigranten in der sozalistischen Widerstandsgruppe „Neu beginnen!“ an – ihre Analyse: Die Nazis würden zwölf Jahre an der macht bleiben -, machte Arbeitersendungen für den von den Briten finanzierten Feindsender „Europäische Revolution“, bis der 1943 eingestellt wurde, dann arbeitete er für das deutsche Programm der BBC, knüpfte viele Kontakte. Etwa zu Eric Ambler, Victor Gallancz, den Brüdern Greene. Mit Grahams Bruder Hugh fuhr er kurz nach der Kapitulation des Nazi-Reiches durch Deutschland, war einer der allerersten Emigranten, die zurückkehrten. Für ihn, der immer schon ein Leser gewesen war, war klar, dass ein neues Deutschland neue Bücher brauchte – und eine demokratische Literatur. Zwingend mit dabei: Kriminalromane!
Der Nest Verlag war erfolgreich, bot ein bemerkenswertes politisches und reeducatives Programm, war ganz der Völkerverständigung gewidmet, der aktiven Vergangenheitsbewältigung und neuer sozialistischer Politik. Kurzum: dem Versuch, zu trauern, und gleichzeitig Neues aufzubauen. Als siebtes Buch erschien 1948 ein in der politischen Analyse bis heute zeitloses Buch: Im Nürnberger Irrgarten. Karl Anders fokussierte und summierte darin seine Berichterstattung von den Nürnberger Prozessen für das Deutschlandprogramm der BBC auf zwölf symbolische Nazigrößen.
Anders differenzierte, versuchte das Innenleben und den Mechanismus des Faschismus zu ergründen. Er ging mit den entsprechenden Kapiteln in die Gefängniszellen zu Speer, Papen, Schacht und dem Goebbels-Stellvertreter Fritzsche, brachte diese Gespräche über Schuld und Gewissen in die Texte ein. Auch das Problem der „Kollektivschuld“ (die er ebenso wie Victor Gollancz verneinte), registrierte der politisch wache Journalist schon im Gerichtssaal: „Wenn man mit der Schuld nicht fertig wird, baut man die Zukunft Deutschlands auf ein Fundament der Lüge, der Selbstzufriedenheit, auf einen moralischen Morast, und das ist schlimmer, als sie auf Sand zu bauen … Wird es zur neuen Schuld des deutschen Volkes werden, aus der eigenen Vergangenheit nichts gelernt zu haben?“
Jenseits des Kapitalismus – von wegen
Absoluter Renner des Verlags war Paul Serings (i.e. Richard Löwenthal) Buch „Jenseits des Kapitalismus. Eine sozialistische Bestandsaufnahme“. Eine halbe Million Vorbestellungen und viel zu geringe Papierzuteilung gab es dafür im Frühsommer des Jahres 1948. Und dann, am Montag, am 21. Juni 1948, war (fast) all das vorbei: Die „Währungsreform“, allgemein erinnert als das positive Datum unserer Republik, trat in Kraft. Und veränderte den Buchmarkt, die politische Kultur und das Leben von Karl Anders entscheidend. In Washington geplant, organisiert und gedruckt, von Februar bis April 1948 in 11 600 Kisten á 40 Kilogramm über Bremen verschifft, mit acht Sonderzügen nach Frankfurt transportiert und in den Kellern des alten Reichsbankgebäudes an der Frankfurter Taunusanlage (keine 50 Meter von den heutigen Türmen der Deutschen Bank entfernt) gelagert, wurde der gebündelte Kisteninhalt zum Instrument einer erneuten „Stunde Null“. Die alte Währung „Reichsmark“ wurde außer Kraft gesetzt. Jeder Deutsche erhielt lediglich 40 Deutsche Mark, einen Monat später nochmals 20 DM. Das Ergebnis dieser Radikalkur, noch heute gefeiert als Geburtsstunde des deutschen Wirtschaftswunders und Wurzel auch der politischen Stabilität, war für Verleger, vor allem solche wie Karl Anders, verheerend. „Politische Bücher gingen nicht mehr. Vorher hatte man zehn Mark ausgegeben für ein Buch. Das war ein Klacks. Ein Paket Tabak kostete 200 Reichsmark, ein Pfund Kaffee 400 und eine Zigarette zehn Reichsmark. Plötzlich waren zehn Mark nun ein Vermögen. Für zehn Mark konnte man nicht mal ein Ei auf dem Schwarzmarkt kaufen“, erklärte mir Karl Anders. Der Schwarzmarkt versiegte. Im Osten brach alles zusammen, Stalin war sauer. Es kam zur Blockade Westberlins und der Luftbrücke der Allierten. Die 40 Mark stehen so auch für den Beginn der deutschen Teilung und des kalten Krieges, wenn man so will. Das „Wirtschaftswunder“ war nun mal kein Wunder.
Dann eben die Krähen-Bücher
Die Vorbestellungen auf das Sering-Buch des Nest-Verlags wurden selbst von Gewerkschaften zu Hunderttausenden storniert. Gleichzeitig fielen die Lizenz-Beschränkungen und die spezifische Unterstützung „unbelasteter“ Verleger durch Papierzuteilungen der Amerikaner und Franzosen, all die alten Verlage drängten mit Belletristik und mit Geschenkbüchern zu Kommunion und Konfirmation auf den Markt. Politische Bücher, beinahe das komplette Nest-Programm, „gingen von einem Tag zum anderen nicht mehr“. Karl Anders wurde von der freien Marktwirtschaft dazu gezwungen, zum „Gemischtwarenhändler, zum Tausendfüßler zu werden“. So wurde er zum Mann, der uns Chandler, Hammett und Ambler brachte.
Den angelsächsischen Kriminalroman hatte er kennengelernt, als er im zweiten Weltkrieg als Emigrant für den „Feindsender“ BBC arbeitete, nahe Oxford, im akademischen Milieu. Dorothy Sayers kochte ihm „vorzügliche“ Suppen, Eric Ambler war ein Nachbar, Graham Greens Bruder Hugh sein Freund und Chef des Auslandsdienstes der BBC, der Verleger Victor Gollancz ein Genosse.
Anders druckte auch weiterhin Politisches: den ersten Hinweis auf eine technische Revolution etwa, Diebolds „Die automatische Fabrik“, Bücher gegen die Atombombe oder 1952 die ökologische Brandschrift „Die Erde rächt sich!“, mit der damals kein einziger Rezensent etwas anzufangen wusste. Hartnäckig druckte er auch die Werke deutscher Autoren, die von den Nazis vertrieben worden waren. Von mir dazu befragt, sagte er darüber: „Das war ein Reinfall. Niemand wollte deutsche Autoren lesen, die Emigranten waren. Selbst Thomas Mann nicht! Ich hatte allen möglichen Leuten den Mund wässrig gemacht: Wenn mein Verlag einigermaßen läuft, bringe ich Euch heraus. Aber es gab keinen Markt dafür.“
„Vorsicht bei der Ausleihe“
Die deutschen Bibliothekare im Nachkriegsdeutschland verwehrten der – von Karl Anders in Aufsätzen und Vorträgen missionarisch propagierten „subversiv-demokratischen“ – Kriminalliteratur die Bibliothekstüren. In ihrer Zeitschrift „Bücherei und Bildung“, der „Fachzeitschrift des Vereins Deutscher Volksbibliothekare“, schwadronierten sie über „Kitsch und die Möglichkeit des Hinauflesens“, über „Schablonenromane und Grobreize“ oder „die Beziehung zum Werthaften“. Die Rubrik „Empfehlungen“ begann stets mit dem Satz: „Die folgenden Romane und Erzählungen wurden geprüft. Die Besprecher sind der Meinung, dass die öffentlichen Büchereien auf diese Bücher verzichten können.“ In Heft 3/1955 gehört zu den derart verbannten Romanen Raymond Chandlers „Der lange Abschied“ in der Übersetzung von Peter Fischer – ein „Krähen-Buch“. 1954 galt das auch für Hammetts „Der Fluch des Hauses Dain“. Bei Chandlers „Die kleine Schwester“ hielten die Sittenwächter 1953 „Vorsicht bei der Ausleihe für nötig“. Gottlob Heckel urteilte 1952 über Raymond Chandlers Krähen-Buch „Das hohe Fenster“:
„Die Geschichte wird – gut übersetzt – in der Alltagssprache erzählt und gibt einen interessanten Einblick in die amerikanische Mentalität. Und doch legt der kritische Leser, nachdem er das Buch gespannt zu Ende gelesen hat, es unbefriedigt aus der Hand. Er fühlt sich peinlich berührt von der Gefühllosigkeit, mit der drei Morde als Nebensächlichkeiten hingenommen werden und von der Anmaßung des Privatdetektivs, der Gerechtigkeit ins Handwerk zu pfuschen und den Mörder laufen zu lassen. So kann ich mich nicht entschließen, das Buch vorbehaltlos zu empfehlen, was bei Kriminalromanen einer Ablehnung gleichkommt.“
Die „untere Grenze“ bewachen
Volkserzieher Wilhelm Müller schilderte 1951 seinen Gegner, die „blutige Flut“ der Kriminalromane, bei einem Referat über „Die untere Grenze“ so:
„Ist er nicht unerhört bewaffnet, dass sich unsere eigene, der ‚Bewirtschaftung‘ unterliegende Ausrüstung wie eine Scheintodpistole gegenüber der Atombombe ausnimmt?“ Die Veranstaltung endete mit folgender Empfehlung der Bibliothekare: „Der literarisch belangvolle Kriminalroman könne sich z.B. durch gute Milieudarstellung, durch seine gesellschaftskritische Position, durch präzise psychologische Analyse oder durch ein starkes Charakterbild auszeichnen. Arbeitsgruppe und Plenum waren davon überzeugt, dass eine zureichende schriftstellerische Form – die ‚gekonnte‘ Schilderung eines Verbrechens also – allein nicht genüge, um ein solches Buch den öffentlichen Bibliotheken zur Einstellung zu empfehlen.“
Die Bibliothekare, so vereinbarten sie, wollten „den Kriminalroman allenfalls, sofern er sprachlich und handwerklich sauber und frei von Sex und Grausamkeit ist“, in ihren Beständen dulden. Schließlich sei es ihre Aufgabe, „den Fehlleistungen der Masse“, sprich der Leser, „durch Auswahl entgegenzutreten“. Die Stimmung dieser Erzieher und Zensoren auf den Punkt brachte Wilhelm Müller 1951 in seinem wegweisenden Aufsatz „Zur Topographie der ‚unteren Grenze‘“, wo er den Bibliothekar als Grenzwächter inthronisierte:
„Das Labyrinth des Büchermarktes ist keine so harmlose Gegend, dass wir uns den Respekt als Ariadnefaden wählen können; und an der Grenze, vor allem an der unteren, werden wir gewiss nichts damit ausrichten. Im Übrigen sind es weder Donan Coyle … noch Agatha Christie und Zane Grey gewöhnt, mit einem Hofknicks empfangen zu werden. Und mit Leuten dieses Schlages haben es die Grenzer zu tun. Da nützen nur scharfe Waffen und eine strenge Kontrolle. Es soll aber doch da und dort vorgekommen sein, dass sie im kleinen Grenzverkehr durchschlüpften. Grenzer, die so etwas zulassen, sind entweder mit falschem Respekt vorgegangen oder sie sind bestochen oder sie zögerten, von der Waffe Gebrauch zu machen; aber dazu muss sogar der Pazifist entschlossen sein; es gibt in diesem Fall kein billiges „Ohne mich“ oder eine respektvolle Neutralität. Denn wir stehen einem bis an die Zähne bewaffneten Gegner gegenüber… Wir sind von einem tiefen Misstrauen erfüllt gegen alles ‚Literarische‘, das sich in der Massengesellschaft großer Beliebtheit erfreut, und wir dürfen zu keinen Konzessionen bereit sein, wenn es gilt, unsere untere Grenze diesseits der Dschungellandschaft des Thrillers zu legen.“
Wir hier bei CrimeMag wissen es zu schätzen, was dieser Mann, der lange in und um Frankfurt wohnte, für die Kriminalliteratur in Deutschland geleistet hat. Deshalb ein Salut für Karl Anders.

Link: Köpenicker Blutwoche
Foto: Willy Brandt (Mitte) und sein Wahlkampfleiter Karl Anders.
Seine Todesanzeige hatte als Motto ein Zitat von Raymond Chandler:
„He was sleeping the big sleep … he was not bothered by things …“
Alf Mayer