Wahlreichtum
Von Felix Hofmann
Wer, verehrte Freundinnen und Freunde der sich selbst wählenden Demokratie, allen Ernstes davon überzeugt ist, in den USA würden genau solche Abstimmungen abgehalten, oder gar darauf schwört, es hätte dort vor einem Jahr tatsächlich eine Präsidentschaftswahl stattgefunden, dem sei diese, kaum verschlüsselte, Bemerkung von Gore Vidal aus dem Jahre 1995 in Erinnerung gebracht:
»Ob Sie es glauben oder nicht, in der großartigsten Demokratie der Weltgeschichte – der Heimat der Freiheit wie der Tapferkeit – lassen sich Wahlen still und heimlich deichseln, worüber sich Joe Kennedy immer ins Fäustchen lachte.« (*)
In diesem Satz haben wir eine ausgesprochen nette Aufrichtigkeit, fast mehr als das amerikanisch-westliche Aufrichtigkeitssystem verträgt. Man darf aber auch anders darauf kommen, wie die Sterne stehen und was die Streifen verdecken, indem man sich die Kandidatinnen und Kandidaten sehr genau anschaut. Wäre ich wahlberechtigter Amerikaner, hätte ich im November 2016 die Wahl gehabt zwischen Pest und Cholera. Wer an solche Wahlen gewöhnt ist, kennt die Folgen: nach Auszählung der Stimmen verliert die Diagnose ihre Unentschiedenheit und man weiß von da an, auf welche der beiden Krankheiten genau man sich die nächsten Jahre behandeln lassen muß.
Es ist die Pest geworden.
Ganz kühl läßt sich heute, in neutraler Betrachtung der unzähligen halb imbecilen, halb lebensgefährlichen Wahlausgänge der letzten 100 Jahre festellen: besonders stolz kann die Menschheit auf ihre Wahlentscheidungen, seit es Wahlen gibt, nicht sein. Die wüstesten Typen sind durch Wahlen an die Macht gebracht worden. Politik-Personal ist Showbusiness-Personal. Das gilt für alle Beteiligten, Sieger wie Besiegte. Lernen kann man aber nur von den Siegern, die allesamt inzwischen natürlich mit sich selbst zugesprochenen Erlöser-Qualitäten auftrumpfen. Erlösung von allem Übel. Darum geht’s, mit Betonung auf der umfassenden Ganzheit. Ein bißchen Übel abschaffen, das kann jeder schüchterne Kleindemokrat. Es geht aber darum ALLES Übel abzuschaffen, denn mit weniger darf man sich heutzutage auf gar keinen Fall abgeben. Die Massenmedien, vor allem Fernsehen und Internet, wollen es so. Das Erlösungsgedudel macht unangreifbar.
Wenn es um ALLES geht, helfen nur einfache Wahrheiten, die Frommen wissen das seit Jahrtausenden. Unhinterfragbare Evidenzen, unhintergehbare Glaubensbekenntnisse, unauslöschbare Zugehörigkeiten. Einfache Wahrheiten erzeugen Widerspruchsabstinenz. Unfehlbarkeit. Und die ist ein Universalwerkzeug, mit dem ALLES gelingt. Analog wie digital.
Es geht in diesem Endstadium der sich selbst wählenden Demokratie weder um Wahrheit oder Lüge noch um Bullshit und Fälschung, es geht um die Ersetzung von Ambivalenz durch Anmaßung, die Ersetzung von Kultur durch Kult. Die USA haben sich einen Unfehlbaren auf den Thron gesetzt, und jetzt gilt es, das auszuhalten. Die Macht der Unfehlbarkeit besteht nicht darin, was ihr Name verspricht, sondern darin, die Fehler, die sie macht, leugnen zu dürfen und sich niemals korrigieren zu müssen. Die Macht kommt nicht aus ihrem unanzweifelbaren Setzen von Wahrheit sondern aus ihrer Unangreifbarkeit.
Seit dem 2. Weltkrieg arbeiten die jeweiligen Propagandamaschinen / Massenmedien der jeweiligen Herrschaftshemisphären daran, ihre jeweilige Kundschaft dumm und gefügig zu machen. Inzwischen ist es überall vollbracht. Zur dieser Feststellung gibt es tonnenweise stützende Argumente, Hinweise, Beweise und Beglaubigungen. Literatur, die man kennt, aber dann doch wieder nicht kennen will. Anders gesagt: der Prozeß der Verblödung kann als abgeschlossen betrachtet werden. Siebzig Jahre ist ja auch eine lange Zeit, da erreicht man viel. Jetzt kommen die Ergebnisse. Zum Beispiel, daß die heutigen Volksführer nicht mehr zu rabiaten Mitteln wie den elitären Staatsstreich oder die völkische Insurrektion greifen müssen, um an die Macht zu kommen, sondern sich einfach wählen lassen. Und gewählt wird jeder, der ausreichend Maschinerie hinter sich hat; da gibt es keinen Unterschied zwischen den ungemütlichen Krakeelern, die relativ neu sind, und den viel bekannteren und beliebteren gemütlichen Trotteln, die uns nun schon seit Jahrzehnten begleiten und unterhalten. Das Wahlsystem mit seiner Zuneigung zu den einfachen Wahrheiten gibt das alles her. Jeder Kandidat kriegt seine Chance, jede Wahrheit kriegt die ihre, und am Ende steht die glorreiche Großdemokratie.
Wenn überhaupt, helfen gegen einfache Wahrheiten bekanntlich nur die widersprechenden und gegenteiligen, kurz: die alternativen einfachen Wahrheiten. Zum Beispiel die des amerikanischen Singer-Songwriters Utah Phillips, die so lautet: »Die Reichen werden es dir nicht erlauben, ihren Reichtum wegzuwählen.« Es gibt also die rechten Einfachheiten, dann die rechtsliberalen und auch die der Mitte, außerdem alle möglichen Halb-und-Halb-Einfachheiten aus dem Bereich der Übergänge zwischen den Claims, und auch halblinks und links herrscht ein Getümmel von aufgescheuchten Mentalitäten, die auf der Suche nach den eigenen Einfachheiten gerade das Dopingmittel entdecken, das am schnellsten und am sichersten wirkt: Selbstinfantilisierung.
So kann man immer weitermachen. Denn da bin ich mir sicher: was den unbegrenzten Sprachreichtum und wuchernden Glaubensreichtum (im Unterschied zum überschaubaren Wahlreichtum) angeht, werden uns – der Menschheit – die einfachen Wahrheiten niemals ausgehen. Mit anderen Worten, auch Wahlen als dritte Zutat zur Demokratie (nach Freiheit und Tapferkeit) werden überbewertet. Genau das wußte der gute alte Joe Kennedy, wie uns der zu denselben höheren Kreisen gehörende Gore Vidal mitgeteilt hat, denn solches Wissen ist in diesen Kreisen Erbgut. Und das ist nur das Erbgut der amerikanischen Demokraten, zu denen sowohl der (verzichtbare) Kennedy-Clan als auch der (unverzichtbare) Mr. Vidal gehörten. Das republikanische Erbgut weiß noch viel mehr, einfach weil es, nicht nur in amerikanischer Sichtweise, älter ist als das demokratische.
Hinter dem Begriff Demokratie steht ein mehr als zweitausend Jahre alter Kredit. Das hat Gewicht, und mit einem solchen Pfund kann man wuchern. Zum Beispiel kann man so einen Kredit vor den Karren spannen, der Weltgeschichte heißt. Man kann ihn aber auch verspielen. Die Demokratie hat sich, seit ihre amerikanische Version weltweit mehr oder weniger gewaltfrei durchgesetzt wurde, vollkommen dumm an der Idee freier Wahlen aufgehängt. Und da hängt sie jetzt. Und nicht nur in den USA.
Wie man Wahlen deichselt, das haben die Eliten im 20. Jahrhundert bestens gelernt. Man muß gar nicht allzuviel Illegales tun, um das richtige Ergebnis zu erzielen, man muß nur wissen, wie man die Sieger unter Kontrolle hält. Der sich daran anschließende Lernprozeß ist allerdings etwas komplizierter und besteht darin, die Siege erzeugende Maschinerie – die Massenmedien Fernsehen und Internet – ebenso unter Kontrolle zu bringen wie die Personen, die man als Sieger präsentiert.
Zu einer Wahl gehören mindestens drei Teile: die Wählenden und die Auswahl zwischen mindestens zwei Verschiedenheiten. Was fast niemand mehr kapiert: nicht die Gewählten sind das Problem, die Wählenden sind es. Übrigens eine ganz alte Sache, die man schon vor 370 Jahren in der ‚Kunst der Weltklugheit‘ von Gracian (zum ersten Mal 1647 erschienen) lesen konnte: »Den Götzen macht nicht der Vergolder, sondern der Anbeter.« Der Unterschied zu heutigen Zeiten besteht darin, daß man jetzt auch die Selbstvergoldung als Zutat hinzufügen muß. So ist es ja auch gelaufen: Don T. hält sich selber für den Besten aller Zeiten. Das ist nicht erst von jetzt an eine Grundvoraussetzung für das Präsidenten-Amt. Die analoge Vorgeschichte der sich selbst legitimierenden Überheblichkeit ist lang, die digitale technisch-mediale Initialzündung, die solche Selbstüberhebung nun endgültig irreversibel macht, stammt vom direkten Vorgänger, ist also noch jung und entwicklungsfähig.
Auch das kann man anders sagen: Wer erwartet, daß in Zukunft die führenden Politiker professionelle Persönlichkeiten sein sollen, oder wie manche es sogar ausdrücken: absolute Vollprofis, muß damit rechnen, an den kommenden Realitäten irre zu werden und verlegt seinen Wohnsitz besser schon heute in geschlossene Einrichtungen. Jetzt sind die freien Plätze noch billig zu haben. Das wird sich bei steigender Nachfrage ändern, zum Nachteil der Bedürftigen. Die Massenmedien Fernsehen und Internet, und ganz sicher nicht nur die amerikanischen Versionen davon, waren bisher nur dazu da, Dummheit zu erzeugen; heute und in Zukunft geht es darum, diese Dummheit als weltweiten Grundkonsens aller Mitmacher zu konstituieren. Kein leichtes Vorhaben, ist aber am Laufen. Wer meint, die Gewählten bekämpfen zu müssen, hat insgeheim sich von „freien Wahlen“ verabschiedet. Nicht daß ich das nicht verstehen könnte, aber man sollte wissen, wo man steht, sonst verfängt man sich selber im Spiel der Zwangscharaktere und Selbstdarsteller. Auf Gewählte losgehen, heißt: Ignoranten bei Deppen denunzieren oder Deppen bei Ignoranten. Wahrheiten gehen in diesem Spiel unter.
Die langsam aufs Aussterben zustrebenden Zeitgenossen, die aus früheren, analogen Welten vielleicht noch ein paar Rest-Qualifikationen übrig haben, um mit eigenem und unter Umständen sogar klarem Verstand Wahlentscheidungen zu treffen, sind ebenfalls wohnsitzgefährdet. Wer sich, ganz im Hier und Heute verankert, mit solchen Qualifikationen nicht mehr abplagen muß, dem ist es vollkommen gleichgültig, ob Pest oder Cholera ihn/sie regieren, und kann folglich getrost zu Hause bleiben, was inzwischen ja auch immer mehr tun. An dieser angekränkelten Stelle ist die gefeierte Globalisierung nun wirklich unwiderruflich weltweit durchgesetzt, so weltweit wie das worldwideweb, die bisher größte Spitzenleistung amerikanischer medialer und imperialer Gewaltfreiheit.
Wir – die Leute, das Volk, die Menschheitsmassen – ahnen, und manche sind sogar schon im Wissen angekommen, daß wir, aus welchen einzelnen Gründen auch immer, in den uns vorgegebenen Macht- und Herrschaftsverhältnissen nicht mehr zu einem intakten Leben fähig sind. Das erzeugt Gestörtheit, und das wiederum hat direkten Einfluß darauf, was wir wählen. Wir wählen, wie immer, unseresgleichen. Die Spießer wählen den spießigsten Kandidaten, die Kleinbürger wählen den kleinbürgerlichsten Kandidaten, die Geldelite wählt den elitärsten Kandidaten, und alles zusammen ergibt immer öfter das Gröbste und Peinlichste, das im Angebot ist.
Eine Schande für ein Land ist, wenn Gestörte die höchsten Ämter im Staat übernehmen. Die größere Schande für das Land sind die Gestörten, die Ihresgleichen dorthin geschaufelt haben. Die größte Schande aber sind die Jammergestalten, die gegen die Gestörten in den Ämtern demonstrieren, anschreien und anpöbeln, denn sie sind zu faul und zu feige, sich mit denen auseinanderzusetzen, die jene zu ihren Auserwählten gemacht haben, also mit ihren Nachbarn. Solche Ignoranz und Verdrängung baut über Jahre hinweg Verhaltungen und Protrusionen auf, in denen sich Aggressionen und Sprengstoffe ansammeln, und das ist das erste Stadium des irgendwann unvermeidbaren Bürgerkriegs: der Krieg gegen sich selbst.
Der nun seit mehr als einem Jahr das höchste Amt innehabende Mr. Don T. President hat sich nicht selbstherrlich-autoritär an die Spitze der Macht gesetzt. Gegen eine gewählte Instanz zu demonstrieren ist schäbig, man muß schon anders hinschauen und anders denken, um die Gründe für das eigene Elend herauszufinden, und erst dann kann man dieses Elend bekämpfen.
Gestörtheit und Alternativgestörtheit hat heutzutage großes Potential, letztere wahrscheinlich das größte. Von jetzt an – und das war längst überfällig – wird es nie mehr eine auch nur annähernd „normale“ Wahl in den USA geben. Da die USA nach wie vor in allen Lebensbereichen die Avantgarde sind, wird der Rest der Welt sich dem anschließen, die einen langsam, andere schneller und manche blitzschnell.
Es sieht danach aus, daß Mr. Don T. von all den schlechten Amtsinhabern der schlechteste Mr. President der Nachkriegszeit wird, noch niedriger als Mr. Truman, Mr. Kennedy, Mr. Johnson, Mr. Nixon, Mr. Reagan, Mr. Clinton, die beiden Mr. Bush und Mr. Obama. Aber das bedeutet auch, daß er, früher oder später, von seinen eigenen Leuten zur Marionette gemacht wird, denn diese Leute können es sich nicht leisten, einen in die vorderste Position der vordersten Reihe zu stellen, der ihnen schadet. Daß der amerikanische Staat immer strammer auf den Bankrott zugeht, ist nur eine der Folgen, die man jetzt ertragen und mit der man fertig werden muß. Es werden schlimmere kommen.
Der jetzige Mr. Präsident ist zwanghafter Selbstdarsteller seines Symptoms. Oder auch: der gefügige Selbstdarsteller seines Zwangssymptoms. Das ist eher Belustigung als Besorgnis erregend. Leute mit Zwangssymptomen sind heute schwer gefragt, was allerdings bedeutet, daß die Figuren, die diesen Typus ausfüllen, schon vom ersten Tag an von ihren Gönnern und Förderern mit den Insignien des Untergangs behängt werden. Marionetten ist der Untergang eingeschrieben. Auf diesem Gebiet Vorhersagen zu machen, ist leicht. Daß die Demnächst-Marionette Don T. dabei Millionen in den eigenen Untergang mit sich reißen wird, wie die hysterisierten europäischen Massenmedien unterstellen (sich insgeheim wünschen), besonders die deutschen, ist unwahrscheinlich. Es wird sicherlich Tote geben, das gilt aber für alle amerikanischen Präsidenten. Es gab keinen einzigen ohne eigenen Krieg, keinen einzigen, der nicht Leichen produziert hat, und auch eine Mrs. auf dem Thron hätte diese Tradition fortgesetzt.
Deichseln ist ein nettes Wort; es zeigt an, wie man es hinkriegt, die Nutztiere so zu lenken, daß sie den Karren in die gewünschte Richtung ziehen. Die meisten Amerikaner haben Pest gewählt – so what? Die meisten Europäer hätten wahrscheinlich Cholera gewählt – und wieder: so what?
Wenn man mit Pest und Cholera argumentiert, oder auch mit willig oder unwillig angelernter Dummheit, wie ich es hier stellenweise getan habe, verfällt man ziemlich leicht ins Orakeln. Da sowohl die klaren und deutlichen Fakten als auch das autodidaktische, auf Distanz beharrende Denken nicht mehr zählen, kommen die Deuter und Mahner wieder nach oben, wo sie nicht hingehören. Ich kann Ihnen aus Lebenserfahrung versichern: diese Stilformen – das Orakeln, Deuten, Mahnen – werden nicht helfen gegen die Unfehlbarkeit und das Hantieren damit.
Und was denken Sie, verehrte Freundinnen und Freunde des Rechtsstaates und der sich selbst wählenden Demokratie, wem die Vereinigten Staaten von Amerika gehören? Denen, die zur Wahl stehen? Denen, die nicht zur Wahl stehen? Denen, die gewählt werden? Denen, die nicht gewählt werden? Denen, die wählen gehen? Denen, die nicht wählen gehen?
Naja, wenn Ihnen sonst niemand einfällt …
© 2018 / Felix Hofmann
(*) [Gore Vidal: Das ist nicht Amerika! — Essays, ausgewählt und herausgegeben von Willi Winkler — Aus dem Amerikanischen übertragen von Ulrich Blumenbach, Veronica Cordes, Thomas Piltz, Eike Schönfeld, Nikolaus Stingl, Maja Überle-Pfaff und Willi Winkler — München: Albrecht Knaus Verlag, 2000 — Seite 58]
Nachtrag:
Kehrseite. Wahlarmut. Mehr Schande.
Wenn in einer nicht unwichtigen deutschen Metropole das Oberbürgermeisteramt zur Wahl steht, und der Gewählte mit 70% gewinnt, wird das in dieser Stadt, diesem Land als grandioser Wahlsieg gefeiert. Unter Hinzunahme der Information, daß die Wahlbeteiligung bei 30% lag, bekommt die Sache ein ganz anderes Gesicht. Nicht 70 von 100 Wahlberechtigten haben den Amtsinhaber bestimmt sondern 21 von 100, die restlichen 79 haben es vorgezogen, der Veranstaltung fern zu bleiben. Was für ein Sieg soll das sein, dessen Substanz sich aus einem Fünftel Interesse und vier Fünfteln Desinteresse zusammensetzt?
Nun kann man sagen, daß die Leute doch selber schuld sind, wenn sie nicht wählen gehen. Das ist die Simpel-Reaktion auf die Sache, höchst beliebt bei Politikern und den ihnen verbundenen Medien.
Man kann aber auch daraus ablesen, daß vier Fünftel der Bevölkerung dem Politikpersonal, Damen wie Herren, nicht mehr zutrauen, Politik zu können. Das belegt man gelegentlich mit dem schönen deutschen Wort Verdrossenheit. Allerdings immer sofort begleitet vom Dementi. Was nichts anderes heißt als: schnell weg mit diesem unangenehmen Thema.
Ein sehr viel weiter gehendes Argument wäre dies: Eine Wahl mit nur 30% Wahlbeteiligung müßte auf der Stelle für ungültig erklärt werden. Aber das geben die Gesetze nicht her. Und die leutseligen Betriebsangehörigen und Verlautbarer des derzeitigen Politikgeschäfts, Damen wie Herren, werden die ihnen äußerst günstigen Wahlgesetze ganz sicher nicht zu ihren Ungunsten ändern.
Man könnte eine Wahl aber auch als Ehre betrachten, als demokratische Ehre, als ehrwürdigen Beitrag zur allgemeinen Wertschätzung von politischer Kultur. Das würde voraussetzen, daß man aufhört, alle Begriffe von Ehre den aufgeblasenen Eliten, den stumpfen Gehorsamsfanatikern, dem rechtslastigen Mob zu überlassen. Genau diese Abtretung aber praktizieren die europäischen Demokratien seit inzwischen 100 Jahren.
Und mit einem gut überlegten politischen Ehrbegriff im Sinn könnte man nicht nur, sondern muß man von der oben genannten Oberbürgermeisterwahl abstrahieren und die ganze Sache exemplarisch kommentieren: Alle Gewählten, Damen wie Herren, bei welcher Wahl auch immer, die ein Amt unter den Bedingungen einer derart miesen Wahlbeteiligung antreten, sind 1) eine Schande für das Amt, 2) eine Schande für die politische Kultur und 3) eine Schande für die Demokratie.
© 2018 / Felix Hofmann