Geschrieben am 15. August 2017 von für Crimemag, Film/Fernsehen, Kolumnen und Themen

Essay: Markus Pohlmeyers Kommentar zu „Arrival“

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Arrival. Ein kurzer hermeneutischer Kommentar

von Markus Pohlmeyer

Prolog 

I

„Die Geschichte deines Lebens“[1] von Ted Chiang verbindet eine tiefe und tief traurige Mutter-Tochter-Geschichte mit der Ankunft von Außerirdischen. Privates scheint Welthistorischem gegenüber zu stehen: und doch wirkt dies alles ineinander! Chiang übernimmt Prinzipien der Quantenwelt (Mikrokosmos) als ontologischen Bauplan seiner Geschichte (Makrokosmos). Die Story transformiert sich zu einer großen Metapher, d.h. Allegorie, des Quantenkosmos. Darum: Anfang und Ende in der gewohnten Reihenfolge? Für die Quantenelektrodynamik scheint das ohne Belang, z.B.: „Das Elektron emittiert ein Photon, eilt in der Zeit zurück, um ein Photon zu absorbieren, und setzt dann seinen Weg in der Zeit vorwärts fort.[2] Die Begründung: „Was die Berechnung (und die Natur) angeht, ist das alles ein und dasselbe (und alles genauso gut möglich); also sagen wir einfach, ein Photon wird »ausgetauscht« […].“[3]

II

 „Der Lichtstrahl muss wissen, wo er am Ende ankommen wird, bevor er sich für eine Richtung entscheiden kann, in die er aufbrechen will.[4] Die Linguistin Dr. Banks bezieht sich in der Kurzgeschichte auf das Fermatsche Prinzip als Deutungsschlüssel für den Besuch der Heptapoden, aber auch um die Differenz gegenüber uns Menschen zu verdeutlichen, die nicht in einem Was (Ontologie), sondern in einem Wie (Hermeneutik) liegt: „Wir erlebten die Welt als Abfolge von Ereignissen und nahmen ihre Beziehung zueinander als ein Verhältnis von Ursache und Wirkung wahr. Die Heptapoden erlebten alle Ereignisse als gleichzeitig und nahmen die minimierende und maximierende Zielsetzung wahr, die ihnen allen zugrunde lag.“[5]

Ontologie und Ethik

Die Quantenwelt existiert, ex-sistiert: steht heraus, mitten hinein in unsere menschliche Wirklichkeit. Sie ist unsere Welt! So die performative Grundierung sowohl in der Kurzgeschichte als auch in der Verfilmung Arrival. Wir durchlaufen nicht nur quantitativ alle Pfaddiagramme[6], erleben alle (un)möglichen Geschichten; diese Geschichten stellen uns immer auch vor die Wahl und erfordern Entscheidungen. Ferner führt das Zerbrechen linearer Zeit- und Sprachkonzepte im Film konsequent zu einem holistischen, translokalen, transtemporalen Denken, so dass für die Linguistin Louise Banks verschiedene Zukunftsszenarien als präsentische oder als schon vergangene erfahrbar werden. Die Schauspielerin Amy Adams betont im Bonusteil der DVD[7], wie schwer es gewesen sei, eine Geschichte in der Zukunft darzustellen, von der das Publikum glaube, sie spiele in der Vergangenheit, zudem eine Geschichte ohne lineare Struktur gegen einen linearen Arbeitsprozess (dem des Filmemachens).

arr1Die Logik der Zukunft bestimmt die Logik der Vergangenheit. Louise weiß, dass ihre Tochter sterben wird/gestorben ist (im Film durch Krankheit, im Buch durch Unfall). Wir sehen das – wie Louise, aber nicht Ian, ihr zukünftiger Partner und Vater ihrer Tochter, den sie am Ende des Films aus seiner Sicht zum ersten Mal umarmen wird; sie habe vergessen, wie gut es sei, ihn zu umarmen. Aus ihrer Sicht: erinnerte Vergangenheit der Zukunft. Aus seiner Sicht: eben gerade jetzt der Beginn einer zukünftigen Beziehung. Louise wird sich entscheiden, ihre Tochter zu bekommen, obwohl sie sich der Tragik dieser Entscheidung bewusst ist; sie wird ihre Tochter lieben und das Zusammensein mit ihr als Geschenk erfahren. Auch wenn darüber die Beziehung zu Ian später zerbricht, zerbrochen sein wird.

Krieg

Die Mathematik der Physik hat eine Bedeutung für uns! Und dies hat in Arrival auch ethische Effekte zur Folge: es geht darum, einen Krieg zwischen den Heptapoden und den Menschen zu verhindern, der aber nur dann vermieden werden kann, wenn Verstehen gelingt, richtiges Verstehen! Die Linguistin Louise Banks ist in der Lage (im Gegensatz zu einem anderen Kollegen), das (vedische) Sanskrit-Wort für „war“ angemessen richtig zu übersetzen (gáviṣṭi = „desire for cows“):

„Die Āryas waren größtenteils Hirten und damit gezwungen, ständig auf der Suche nach neuen Weideplätzen umherzuziehen. […] Daß es bei der Suche nach Weiden und Wasserstellen nicht immer friedlich zuging, zeigt sich schon daran, daß ein Begriff wie saṁgrāma, der vom Wortsinn nur das »Zusammentreffen« zweier Trecks bezeichnet, auch »Kampf« bedeutet. Ein solches weiteres Wort ist gáviṣṭi – die »Suche nach Kühen« –, das jedoch im Grunde die Raubzüge der Viehzüchter untereinander beschrieb.“[8]

Das mag nicht mehr als eine gelehrte Marginalie sein – aber dies zeigt, wie schwer es schon unter Menschen ist, verschiedene Sprachen zu verstehen, und bereitet darauf vor, zu unterlaufen, was so viele, zu viele SF-Filmen hermeneutisch vorgaukeln: mann/frau verstehe sich ja ohnehin überall im Universum, und am besten auf Englisch! Außerdem dient dieser Übersetzungstest im Film als Initiationsritus für Banks (Sie darf jetzt mit ins Team der coolen Jungs und krassen Aliens!) und verweist auf das Grundproblem, wenn sich der Menschen-Clan und der ‚Star Trek‘ begegnen: die Herausforderung einer möglichen kriegerischen Konfrontation? Artikulieren sich nicht darin spiegelverkehrt auch die Ängste vor dem, was vor allem europäische Kolonisten anderen Völkern angetan haben? Und nicht zuletzt entstanden durch die Begegnung mit dem Sanskrit die Vergleichenden Sprachwissenschaften;[9] in der Begegnung mit den Heptapoden entsteht ebenfalls eine neue Linguistik.

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Hermeneutik

Der Verlauf von Arrival könnte auch entlang der „systematische[n] Grundbegriffe der Gadamerschen Hermeneutik“[10], gewissermaßen als Stationen eines bestimmten Erkenntnisfortschritts, gelesen werden:

Vorurteil: Die Aliens haben Sehnsucht nach Kühen und wollen uns wahrscheinlich mit Krieg überziehen; wir wollen unsere Kühe behalten – und drohen mit der Option eines Erstschlags.

Zeitenabstand: Diesen Begriff deute ich hier um! In Arrival wäre damit nicht etwa nur eine z.B. archäologisch zu rekonstruierende Vergangenheit gemeint, sondern überhaupt Konzepte in der Wahrnehmung und Beschreibung von Zeit (linear vs. zyklisch)!

Hermeneutischer Zirkel: Louise erlernt schrittweise und mit Scheitern die Heptapoden-Sprache – bis hin zu einem immer besseren Verstehen.

Horizontverschmelzung: Aufhebung des linearen Weltverstehens. Daraus folgt die Lösung des militärischen Konflikts. Und Louises Tochter, schon tot, wird noch geboren werden.

Wirkungsgeschichte: Die Heptapoden im Film werden brauchen/haben gebraucht in 3000 Jahren die Hilfe der Menschheit! Louise entscheidet sich dafür, ein Baby zu bekommen, eine Tochter, von deren Leben sie uns schon von Anfang des Filmes an erzählt hat.

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arrival cover 91UusfCtQaL._SY445_Epilog

Inwieweit unsere Makrowelt in die Welt der Quantenphysik hineinreichen mag, erweist sich als eine Frage des Experimentes: „In der Quantenmechanik bekommt ein Elektron seine Eigenschaften erst durch eine Messung.“[11] Ein Elektron wäre also nicht ein Etwas – so ein gutes, altes, ontologisches, nicht-sprunghaftes, klassisches Ding, das ich fest umreißen kann (und das am besten noch der liebe Gott gebastelt hat) –, sondern ist all seine Geschichten (vor allem die seiner mathematisch-physikalischen Theoriebildungen![12]). Ontologie transformiert sich zunehmend in einen Prozess, wird Information:

„Die Wissenschaft von der Physik, so Bohrs eigentlich banale Ansicht, beschreibt nicht die Natur, wie vielfach angenommen wird; die Physik beschreibt vielmehr das menschliche Wissen von der Natur. Wer diesen Satz ernst nimmt – und Zeilinger tut es –, kann daraus folgern, dass es eigentlich keinen Unterschied zwischen der Wirklichkeit und unserer Information über sie gibt. […] Diesen Gedanken spricht Zeilinger knallhart aus: »Wirklichkeit und Information sind dasselbe«.“[13]

41Y4uxuqNGL._SX304_BO1,204,203,200_Bei aller Wichtigkeit bleibt diese Feststellung doch nur rein quantifizierend. Wenn nach der aristotelischen Metaphysik (Λ)[14] das Sein zweifach (als Einheit!) ist – in Hinblick auf seine Potentialität und Wirklichkeit/Verwirklichung – scheint diese Beobachtung, was für ein Sprung!, nicht weit von Zeilingers Wittgenstein-Variation entfernt zu sein: „Die Welt ist alles, was der Fall ist, und auch alles, was der Fall sein kann.[15] Wir-Menschen benötigen zusätzlich eine Kategorie, Wirklichkeit=Information zu fassen, indem wir sagen können, was sie für uns bedeutet.[16] Das nennen wir alle Geschichten,[17] die wir uns, die wir anderen, die andere uns, die andere von uns und von der Welt erzählen, in denen wir deuten, mit denen wir handeln, mit denen wir verstehen wollen, um zu entscheiden. In Geschichten koinzidieren Ontologie und Hermeneutik![18]

Markus Pohlmeyer lehrt an der Europa-Universität Flensburg. Während seines Altphilologie-Studiums in London hat er auch Sanskrit gelernt.


Arrival, USA 2016; Regie: Denis Villeneuve; Buch: Eric Heisserer, nach der Kurzgeschichte „Story of Your Life“ von Ted Chiang; Musik: Johann Johannsson; Darsteller: Amy Adams, Jeremy Renner, Forest, Michael Stuhlbarg; Länge: 116 Min.

[1] In: T. Chiang: Die Hölle ist die Abwesenheit Gottes, übers. v. molosovsky, hg. v. H. Riffel u. K. Schlögl, Berlin 2011, 37-94. Zu Chiang s. auch: Markus Pohlmeyer: Science Fiction. Filmisch-literarisches Exil des Göttlichen, Flensburger Studien zu Literatur und Theologie, Bd. 1, 2. Aufl., Hamburg 2014, 112-118.
[2] R. P. Feynman: QED. Die seltsame Theorie des Lichts und der Materie, übers. v. S. Summerer u. G. Kurz, 20. Aufl., München – Berlin 2016, 114.
[3] Feynman: QED (s. Anm. 2),113.
[4] Chiang, Hölle (s. Anm. 1), 73.
[5] Chiang, Hölle (s. Anm. 1), 82.
[6] Vgl. dazu auch R. P. Feynman: Quantenelektrodynamik. Eine Vorlesungsmitschrift, mit e. Vorwort v. H. Fritzsch, 4. Aufl., München – Wien – Oldenburg 1997.
[7] Alle direkten oder indirekten Filmzitate entnommen aus Arrival. DVD: © Sony Pictures 2017.
[8] Rig-Veda. Erster und Zweiter Liederkreis, übers. u. hg. v. M. Witzel u. T. Gotō, Frankfurt am Main – Leipzig 2007, 433. Ebd. aus I, 33, 62 f.: „Kommt, wir wollen zu Indra ziehen, die wir auf Kühe aus sind. […] Die Kühe des (fremden) Sippengenossen treibt er zusammen, für wen er will.“ Und K. Mylius: Sanskrit – Deutsch. Deutsch – Sanskrit. Wörterbuch, Wiesbaden 2005, 139 (in Teil I).
[9] Vgl. dazu M. Foucault: Hauptwerke (hier: Die Ordnung der Dinge). Mit e. Nachwort v. A. Honneth u. M. Saar, 4. Aufl., Frankfurt am Main 2016, 342-367.
[10] K. Müller: Philosophische Grundfragen der Theologie, unter Mitarbeit v. S. Wendel, Münster 2000, 105 f. Die fünf Grundbegriffe wurden auch von da entnommen.
[11] E. P. Fischer: Die Hintertreppe zum Quantensprung. Die Erforschung der kleinsten Teilchen von Max Planck bis Anton Zeilinger, 2. Aufl., Frankfurt am Main 2013, 79.
[12] Vgl. dazu E. P. Fischer: Fischer: Quantensprung (s. Anm. 11), 14.
[13] Fischer: Quantensprung (s. Anm. 11), 329.
[14] Siehe Aristotelis Metaphysica, hg. v. W. Jaeger, Oxford 1957/1963, 244.
[15] Vgl. dazu auch A. Zeilinger: Einsteins Schleier. Die Welt der Quantenphysik, 6. Aufl., München 2005, 231.
[16] Vgl. dazu T. Nagel: Was bedeutet das alles?, übers. v. M. Gebauer, Stuttgart 1997.
[17] Das ist die Variationen eines Satzes aus den Gottesbeweisen (quinque viae) des Thomas von Aquin. Text in Übersetzung siehe: Gottesbeweise von Anselm bis Gödel, hg. v. J. Bromand – G. Kreis, Berlin 2011, 91-98.
[18] „Man könnte z. B. fragen, ob diese Welt, ob Erde, Sonne, Mond und Sterne nicht auch sind, wenn sie nicht gedacht werden. Hier handelt es sich aber wohl um ein Scheinproblem, welches man leichter durchschauen kann. Bei uns trennt sich nicht Welt in Sein und Denken, sondern diese Welt ist zwar nur in Geschichten und über Geschichten, aber in der Weise dessen, was in Geschichten vorkommt, ist sie ständig im Horizont der Ich- und Wirgeschichten. Es hat keinen Sinn, nach einem Dasein außerhalb dieser Geschichten zu fragen.“ W. Schapp: In Geschichten verstrickt. Zum Sein von Mensch und Ding, 3. Aufl., Frankfurt am Main 1985, 166.

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