Geschrieben am 15. August 2018 von für Crimemag, CrimeMag August 2018

Essay: Robert Brack: Noir, Polar & Neo-Polar (Teil 1)

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Jean-Patrick Manchette

Zur Praxis und Theorie des Kriminalromans bei Jean-Patrick Manchette

von Robert Brack

 

Auch wenn er nicht wirklich der „Begründer“ des französischen Neo-Polars war, sondern zufällig der Erste, der auf dieser Welle surfte, so war Jean-Patrick Manchette (1942 – 1995) doch der Vordenker dieser literarischen Tendenz, die nach 1968 die französische Krimi-Szene entscheidend prägte. Nach zehn erzähltechnisch unterschiedlichen, knappen Thrillern, die zwischen 1971 und 1981 erschienen, trat er vor allem als Krimi-Kritiker und Theoretiker des Genres in Erscheinung.

In seinen, teilweise unter dem Pseudonym Shuto Headline geschriebenen Kolumnen und Artikeln für „Charlie mensuel“, „Polar“ und andere Zeitschriften und Zeitungen entwickelte er nach und nach eine (ungeordnete) sozialgeschichtlich eingebettete Theorie zur Bedeutung und Ästhetik des Kriminalromans, vor allem seiner „harten“ amerikanischen Variante. Darin reflektierte er auch sein eigenes Schaffen und legte seine Position als Autor dar, dessen kritischer Blick durch die Beschäftigung 41ZTMYL6JQL._SX348_BO1,204,203,200_mit den Theorien der Situationisten geschärft worden war. Teilweise gelangte er dabei zu einer ähnlichen Einordnung des Kriminalromans wie der marxistische Ökonom Ernest Mandel sie in seiner „Sozialgeschichte des des Kriminalromans“ formulierte, die aber erst einige Jahre später erschien (1984) und interessanterweise in der zweiten Auflage, offenbar aufgrund der Lektüre von Manchettes Texten, um die Betrachtung des Neo-Polars ergänzt wurde.

Als ehemaliger politischer Aktivist und linksradikaler Intellektueller stand für Manchette außer Frage, dass Schreiben und Publizieren ein politischer Akt ist: „Für mich war der Polar immer – und ist es noch – der Roman der sehr harten gesellschaftlichen Einmischung“, resümierte er in einem Interview mit der französischen Zeitschrift „Polar“ 1980 („Chroniques“, S. 8). Aber die kritische Beschreibung der gesellschaftlichen Verhältnisse war nur ein Aspekt, um den es Manchette ging. Für ihn war die Frage der Haltung auch eine Frage der Ästhetik, denn es geht ja bei einem Kunstwerk (sogar wenn es ein Produkt der Konsumindustrie ist wie der Kriminalroman) nicht nur um den Inhalt, sondern auch um die Form – beides trifft eine Aussage.

Für Manchette stand – im Gegensatz zu den meisten Krimi- bzw. Polar-Autoren damals wie heute – von Anfang an die brennende Frage im Raum: Wie kann es gelingen, im Krimi-Genre eine Verbindung zwischen radikaler Kritik der herrschenden Verhältnisse und radikaler künstlerischer Form zu finden? Für ihn, der sich nicht nur bei politischen und philosophischen Theorien gut auskannte, sondern auch die Geschichte der Literatur, der Musik und des Films im 20. Jahrhunderts eingehend studiert hatte, stellte sich die Frage, an welche Tradition er anknüpfen könnte bzw. welche er verwerfen müsste, um seine Epoche adäquat zu beschreiben.

Viele Schriftsteller, vor allem Genre-Autoren, machen sich keine Gedanken darüber. Eher fragen sie unwirsch, warum sie das überhaupt tun sollten. Darauf gäbe es zunächst einmal zwei recht simple Antworten (zu den komplizierteren kommen wir später):

  1. Weil es in der Verantwortung des Autors steht. Wir konstruieren Realität. Wir beschreiben und kommentieren unsere Welt. Wir liefern dem Publikum eine Interpretation der sozialen Verhältnisse, ob wir es darauf abgesehen haben oder nicht. Indem wir eine Erzählung unserer gegenwärtigen oder vergangene Welt formulieren (und eben auch wie wir sie formulieren!), ergreifen wir freiwillig oder unfreiwillig Partei für oder gegen die herrschenden Verhältnisse und stehen mitten im öffentlichen Diskurs über sie.
  1. Weil es sonst andere tun und über uns urteilen und herrschen! Das hat Manchette ganz klar gesehen und selbstbewusst dagegen gehalten: „Unser Genre wurde vom Markt erfasst und somit von der Interpretation. Sich zu verkriechen ist Vogel-Strauß-Politik. Wir müssen es hinnehmen, dass der Polar gegenwärtig von Akademikern und Journalisten seziert und gelobt wird. Ich habe allerdings den Eindruck, dass wir diesen Leuten klar machen müssen, dass wir genauso viel wissen wie sie, und sogar noch ein bisschen mehr.“ (Chroniques, S. 253) Schön wär’s, könnte man mit Blick auf die deutschen Verhältnisse dazu sagen.

WAS HAT DER INHALT MIT DER FORM ZU TUN?

Wieso sollen Krimi-Autoren ästhetische Fragen in einem sowieso schon von strengen Regeln geprägten Genre aufwerfen? Zunächst einmal weil man sich nicht einfach eine vorhandene Kunstform gedankenlos aneignen sollte. Welches Genre/Sub-Genre ein Autor benutzt, welches Personal er entwickelt (oder aus dem Genre-Fundus schöpft), welche Täter und Opfer, welche Verbrechen und ihre Aufklärung und eventuelle Bestrafung er beschreibt (oder aus dem Genre-Baukasten zusammenmontiert) und wie er das tut – das alles beeinflusst das Lese-Publikum in seiner Wahrnehmung und Interpretation der Wirklichkeit (zumal es womöglich ein am Genre-Fundus und der Krimi-Baukasten-Ästhetik geschultes oder auch manipuliertes Publikum ist).

polWenn ich einen Polizisten als Hauptfigur habe, stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von Gesellschaft und Staatsgewalt, also den Herrschaftsverhältnissen. Nehme ich einen Gangster/Mörder stellt sich die Frage nach der Moral (und vor allem: was Moral überhaupt ist und woher sie kommt). Habe ich einen Detektiv, stellt sich die Frage nach seinem Verhältnis zu Macht und Gesetz. Und auch: Wo habe ich denn diese Personen/Figuren/Charaktere/Avatare hergenommen und was sagen sie schon mit ihrer bloßen Existenz als Genre-Versatzstücke über die Wirklichkeit aus, in der ich lebe und meine Geschichte eingebettet habe? Und was über die von mir im Roman konstruierte Wirklichkeit und den Stellenwert dieses Romans als Kritik oder Affirmation der „Wirklichkeit“ bzw. dem was wir für „Wirklichkeit“ halten? Wer oder was in mir konstruiert hier warum welche Realität?

Um es ganz schlichter zu formulieren: Wenn ich in Form eines Trivialromans einem simplen Groschenheft-Muster folge, mit Schwarzweiß-Zeichnung und einer die soziale Harmonie wiederherstellenden Auflösung, ist das was anderes, als wenn ich den Leser durch eine provozierende Erzählform in Verwirrung stürze, ihm komplexe Charaktere auf komplexe Weise vorführe und deutlich mache, dass Wahrheit und Gerechtigkeit problematische Begriffe sind.

Dass Krimi-Autoren zumeist nicht darüber nachdenken, was sie tun, wenn sie „ihre“ Geschichten erzählen, ist ein Fehler. Denn wer unreflektiert die Ware „Krimi“ abliefert, in einer vom Markt gewünschten bzw. vor-geschriebenen Ästhetik, degradiert sich zum Sklaven der Ökonomie und verzichtet auf ernstzunehmende künstlerische Eigenständigkeit. Schlimmer: Er konstruiert Realität im Sinne der herrschenden Verhältnisse und arbeiten damit zugunsten der Macht, wird zu ihrem willfährigen Vollstrecker. Die meisten schließen die Augen vor der Realität, stellen sich schlafend, mutwillig. Dies nenne ich:

DIE POSITION DES SCHLAFENDEN AUTORS

Diese Position lehnte Manchette entschieden ab. Weil es eine Position absichtlicher Unmündigkeit ist, des ängstlichen Rückzugs angesichts der Übermacht der Ökonomie – eine Flucht ins mutwillige Sich-dumm-stellen. Und der Weigerung über den Tellerrand des Vor-sich-hin-Bosselns zu blicken und einfach mal über die eigene (privilegierte) Rolle als publizierender Autor in einer von der Dominanz ökonomischer Mächte (ja, dem Terror der Ökonomie) der Zerstörung anheim fallenden Welt nachzudenken. Wenn unreflektierter Konsum ein wesentlicher Teil des Problems darstellt, wird auch jener zum Problem, der unreflektiert Konsumartikel produziert. Kriminalromane sind Waren, sie werden zu allererst für den Markt geschrieben. Unser Lohn ist nicht die Beweihräucherung durch Kulturinstanzen wie Feuilletons und offizielle Literaturpreisjurys – unser Erfolg bemisst sich in der Anzahl der gestapelten Exemplaren im Bahnhofskiosk, in Auflagezahlen, Honorarprozenten und den Endsummen der Tantiemenabrechnung. Soll keiner sagen, wir steckten nicht mitten drin im kapitalistischen Schlamassel.

fahneDoch wenden wir uns der Grundlage zu. Manchettes Ausgangspunkt als kritischer linker Intellektueller, der zu Beginn der 1970er Jahre (also vor der Diskussion der sogenannten Postmoderne) literarisch arbeiten will, war folgender: Der bürgerliche Roman des 19. wie auch die literarischen Avantgarden des 20. Jahrhunderts boten seiner Ansicht nach kein taugliches Erzählkonzept mehr, um die sozialen Verwerfungen des fortgeschrittenen 20. Jahrhunderts zu beschreiben. Alles war abgenutzt und von der Kulturindustrie vereinnahmt. Aus linksradikal-libertärer Perspektive war für ihn der sozialistische Realismus eine blamable Erscheinung. So blieb ihm zur Beschreibung gesellschaftlicher Zustände nur der Kriminalroman in seiner harten kritisch-realistischen Ausprägung.

Aber Manchette war ein Zweifler und als solcher nicht nur in Kritik, sondern auch in Selbstkritik geschult. Schon bevor er zu schreiben begann, dachte er über die Form nach – von vielen Skrupeln gequälte Betrachtungen, wie man in seinen Tagebüchern (2008 posthum erschienen) nachlesen kann. Seine Theorie entwickelte er während und neben dem Schreiben und formulierte sie weiter aus, nachdem er 1981 seinen vorläufig letzten Roman beendet hatte. Das eigene Schreiben resultierte aus der Auseinandersetzung mit den (amerikanischen) Großmeistern des Genres und seiner Arbeit als Kritiker aktueller Veröffentlichungen. Die gesammelten Texte sind in dem posthum 1996 (dt. 2005) erschienenen Band „Chroniques“ nachzulesen, aus ihnen kann man eine recht stringente Theorie destillieren.

DIE THESEN DES SHUTO HEADLINE

Der klassische Rätselkrimi des 19. Jahrhunderts war eine reaktionäre Literaturform. Er beschrieb die Ordnung einer (durch die tatsächlich stattfindenden sozialen Verwrfungen) verunsicherten Gesellschaft, die durch ein Verbrechen gestört wird und durch den Detektiv wieder ins Lot gebracht wird. (Durch einen von reichen Leuten engagierten Privat-Ermittler, denn sie legten keinen Wert darauf, dass der Staat sich in ihre „Privat-Angelegenheiten“ einmischt.) Der neue Hardboiled-Krimi zu Beginn des 20. Jahrhunderts entsprach der neuen, brutalen Gesellschaftsordnung des allumfassenden Kapitalismus (und der Vergesellschaftung der Gesellschaft wie des Individuums) und nahm ihr gegenüber eine kritische Haltung ein.

5184h4KLWkL._SX320_BO1,204,203,200_Der harte Kriminalroman, wie er in den 20er Jahren in Amerika entstand, der „Polar“ (wie er in Frankreich genannt wird), wurde aus einer ganz bestimmten historischen Situation geboren: Die Revolution war verloren, der Kapitalismus und das Verbrechen hatten den Sieg davongetragen. Kapitalismus und Gangstertum waren nunmehr zwei Erscheinungsformen der allgemeinen organisierten Kriminalität (tatsächlich war es den Kapitalisten im Verein mit der Privat-Detektei Pinkerton und der organisierten Kriminalität gelungen, die amerikanische Arbeiterbewegung zu zerschlagen – so viel zum Thema „Krimi“ und „Realität“).

Archetypische Protagonisten des klassischen Hardboiled-Romans waren der Gangster und der (gesellschaftlich entwurzelte) Privatdetektiv. Sie sind die Antagonisten, sie repräsentieren Macht und Unrecht auf der einen, Ohnmacht und Tugend auf der anderen Seite. Der Polizist hingegen, ob korrupt oder nicht, taugt nicht zum Helden, da er als Diener der falschen Ordnung zum Vollstrecker des Bösen wird.

DER BEHAVIORISTISCHE STIL

Inhalt und Form im Polar müssen sich entsprechen, das hat Manchette immer wieder betont: Die harten gesellschaftlichen Verhältnisse, die beschrieben werden, erfordern einen harten Schreibstil. Da es nicht gelingen kann, in einer korrupten Welt Partei für das Gute zu ergreifen, zumal auch der Held nicht positiv sein kann, ist ein objektiver Erzählstil erforderlich – die „behavioristische Schreibweise“. Diese Schreibweise ist in ihrer Knappheit und Rohheit ein anti-literarischer Stil, denn das Thema erfordert Kunstlosigkeit. Dashiell Hammett ist der Begründer und Meister dieser Stilform gewesen.

Und niemals darf vergessen werden, dass der Kriminalroman ein Produkt der Massenkultur, besser gesagt der Warenkultur ist:

„Wie andere Text-Genres auch ist der Kriminalroman unmittelbar für den Markt bestimmt. Er fällt außerhalb der einstigen Unterscheidung zwischen gehobener und populärer Schöpfung, zwischen den schönen Künsten und der Folklore“, schreibt Manchette und kommt auf den wesentlichen Punkt: „Wenn wir unsere Epoche als das betrachten, was sie ist, und unsere Kultur ebenfalls, werden wir die moderne Geschichte im Krimi sehen, wie wir sie auch im Hollywood-Kino sehen: through a glass, darkly, spiegelverkehrt, aber lesbar.“ (Chroniques, S. 238)

Manchettes optimistisches Zwischenfazit in seiner Diskussion des Hardboiled-Genres war: „Der große Polar verkörpert seine Epoche.“  (Chroniques, S. 172)  Man kann die Latte kaum höher hängen, wenn man in die Fußstapfen der amerikanischen Großmeister treten will oder sich als Zwerg auf den Schultern von Riesen an die Arbeit macht. Doch vor allem stand Manchette als junger, nach eigenem Stil suchender Schriftsteller vor dem Problem, eine neue Ausdrucksform für seine Epoche zu finden. Wieder war eine Revolution gescheitert, waren hochfliegende Hoffnungen auf einen tiefgreifenden sozialen Wandel zerstoben. Es galt eine erzählerische Form zu finden, um das zu verarbeiten. Und dies war:

DIE GEBURT DES NEO-POLAR

Die Welt war nach 1968 (also nach dem gescheiterten Mai in Paris und dem niedergeschlagenen Prager Frühling) in eine neue post-revolutionäre Epoche eingetreten. Doch das Wiederaufgreifen einer historischen Erzählform konnte für Manchette nicht unkritisch geschehen. Die Verhältnisse hatten sich geändert, also war eine neue literarische Strategie nötig. Eine Imitation der amerikanischen Hard-boiled-novel kam für ihn schon aus künstlerischer Selbstachtung nicht in Frage (sie war Jahre zuvor auch schon durch andere erfolgt, z.B. als Plagiat bei Léo Malet und als Parodie bei Boris Vian). Aber wie schreibt man, nachdem die literarischen Avantgarden im 20. Jahrhundert alle Erzählformen zerstört haben? Und wie kann man mit kritischem, antikapitalistischem Geist ein kritisches Produkt für die Kulturindustrie und die Gesellschaft des Spektakels herstellen?

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Prager Frühling

In dieser Situation griff Manchette auf die Strategie des klassischen Hard-boiled-Krimis zurück. Auf den antisentimentalen, amerikanischen Krimi, nicht auf den das Milieu verklärenden französischen Ganovenroman eines Albert Simonin. Auf den revolutionären Hammett, nicht den konservativen Chandler. Bei der Handlungskonstruktion orientierte er sich an Westlake/Stark, bei der Charakterzeichnung an Jim Thompson. D.h. also an der „behavioristischen Schreibweise“. Diese Entscheidung verstand sich beinahe von selbst, denn wie Manchette schreibt: „Die Epoche der Barbarei, in die wir eingetreten sind, ist weniger als jemals zuvor für romantische Ergüsse geeignet.“ (Chroniques, S. 279) Also geht es nun erst recht darum, die Negativität der Weltordnung entsprechend darzustellen: negative Helden, keine Happy-Endings, Pessimismus. Dennoch: Aufklärung, Entlarvung – auch der Unzulänglichkeiten des Genres bezüglich seiner kritischen Möglichkeiten. Besonders geglückt ist ihm das in seinem Roman „Nada“ (1972), der nicht nur eine gnadenlose Entmystifizierung des linksradikalen Terrorismus, sondern auch des Gangsterromans darstellt.

Dies tat er stets im Bewusstsein, eine Ware zu produzieren, die aber immerhin einen Nutzwert haben soll, wie Manchette ironisch formulierte: „Der vollendete Polar muss sein wie ein Wohnblock mit vorbildlichen Sozialwohnungen. Kein Detail, kein Problem mit den Gas- oder Wasserleitungen darf sich zwischen den Konsumenten und seinen Gegenstand schieben. Selbst die Unterhaltung muss vollkommen sein wie eine Einbauküche. Dann kann der Konsument sich nicht mehr mit Protesten zu Einzelheiten trösten. Er ist gezwungen, das Ganze zu akzeptieren, weil es vollkommen ist, oder es mit einem Schlag zurückweisen, weil es der blanke Horror ist.“ (Chroniques, S. 245)

Wir dürfen uns den Neo-Polar-Autor zunächst als glücklichen Arbeiter im Rohbau eines Genres vorstellen, von dem er weiß, dass es von zweifelhaftem, vorübergehendem Wert ist und vom Abriss bedroht, wenn es die Profitinteressen der Investoren oder (optimistischer) die revolutionären Massen für notwendig erachten. Doch der Felsbrocken, der vom Sisyphos des Neo-Polar den Bücherberg hinaufgewälzt wird, rollt immer wieder hinunter: Zweifel am Sinn und Nutzen seines Schreibens waren für Manchette Alltag. Aus ideologischer Starrheit auf einer Position zu verharren war sowieso nicht seine Sache. Spätestens während der Niederschrift seines zehnten Romans sah er wohl die Gefahr, sich im Gestrüpp seiner komplexen Theorie zu verheddern. Der Sub-Kommandant des Neo-Polar merkte, wie er sich im Labyrinth seines selbstkonstruierten Rohbaus verirrte, und trat die Flucht nach vorn an. Aus dem Anzweifeln der eigenen Position ergab sich:

DSC_5137_3914DIE KRITIK DES NEO-POLAR DURCH SEINEN PROTAGONISTEN

Natürlich hatte Manchette nicht nur seine eigenen Arbeiten im Kopf, als er sich daran machte, den „vorbildlichen Wohnblock“ einzureißen, den er selbst mit aufgebaut hatte. Er störte sich auch an der Sorglosigkeit seiner Kollegen, die auf den Neo-Polar-Express aufgesprungen waren und nun im Salon-Wagen die Glaubwürdigkeit des Genres mit gezinkten Karten verzockten. Machettes Kritik der eigenen Position war geradezu (selbst-) vernichtend:

  1. Der Neo-Polar ist gescheitert. Seine antiliterarische Haltung ist zur Pose geworden (auch sprachlich). Seine Gesellschaftskritik ist zur Formelhaftigkeit erstarrt.
  2. Das Recycling des Hardboiled-Krimis führte zu einer Ästhetisierung des Elends und damit zu literarischem Müll (Trash).
  3. Anti-Krimis und Grotesken führten zur Selbstzerstörung des Neo-Polar.
  4. Ambitionierte Autoren läuteten die Literarisierung des Genres ein. Damit hatte der Neo-Polar sich selbst abgeschafft.
  5. Gescheitert ist er auch daran, dass er nur ein begrenztes, linksradikal-intellektuelles Publikum erreicht hat. Dem opportunistischen Krimi, der den Markt beherrscht, ist er nie gefährlich geworden.

Letzten Endes, so Manchette, sei der Neo-Polar nur ein Recycling des alten Polar gewesen, ein Ersatzprodukt für das, was nicht mehr möglich war: „ Da habe ich das Wort ‚Neo-Polar’ eingeführt, nach dem Muster von Worten wie ‚Neo-Brot’, ‚Neo-Wein’ oder gar ‚Neo-Präsident’, womit radikale Kritiker den Ersatz bezeichnen, der überall unter illustrem Namen Gleiches mit Gleichem ersetzt. Ein Teil der Journalisten und Fans hat die apologetische Bezeichnung ganz arglos übernommen, das ist witzig“, (Chroniques, S. 174) schrieb er ganz im Stil der Situationisten, die sich gerne von einer selbst definierten Position distanzierten, wenn andere sie übernahmen.

grWAS TUN?

Aber was folgt daraus? Der Polar-Autor kann nicht darauf verzichten, seiner künstlerischen Leidenschaft nachzugehen: Ein Schriftsteller muss schreiben, er wird getrieben von dem Drang zu Erzählen und seiner Liebe zur Sprache Ausdruck zu verleihen. Ein Verstummen kommt also nicht in Frage. Genauso wenig soll der Autor von Kriminalromanen darauf verzichten, hingebungsvoll an seinen Produkten zu arbeiten, im Spannungsfeld zwischen Waren-Kultur und Genre-Kunst.

Manchette fand sich nach seinem zehnten Roman 1981 in einer Sackgasse: „La position du tireur couché“ („Position: Anschlag liegend“) war ein stilistisch vollendeter und gleichzeitig völlig gebrochener Action-Roman. So gebrochen wie sein Protagonist, der völlig kaputte Auftragskiller Martin Terrier, der in sinnfreier Absurdität seiner Arbeit nachgeht und am Schluss als debiler Ober in einer Provinz-Brasserie endet. Nach diesem Anti-Thriller war erstmal nichts mehr möglich. Der Autor verstummte für lange Zeit, blieb dem Genre aber treu – als Kritiker, Theoretiker und Übersetzer.

Mit seinem ersten Roman „Die Affäre N’Gustro“ (1971, angeregt durch die Ermordung des marokkanischen Politikers Ben Barka) hatte Manchette auf geradezu revolutionäre Weise die Grenzen des Genres gesprengt und die Tore ganz weit geöffnet, um eine Dekade später die Stahltür des Tresors des Neo-Polars wieder fest zu verschließen – von innen. Das Kunststück, sich daraus als kriminalliterarischer Houdini zu befreien, ist ihm meiner Meinung nach nicht gelungen. Auch wenn er mit dem unvollendeten Roman „Die Blutprinzessin“ („La princesse du sang“, 1996) einen neuen Weg einzuschlagen versuchte. Es sollte das erste Werk eines epochalen Noir-Zyklus über die verlorenen sozialen Kämpfe und die politischen Intrigen des 20. Jahrhunderts werden. Der Rückgriff auf den streng behavioristischen Ansatz und das Beharren auf durchweg negative Charaktere, das Schematische der Konstruktion und die übertriebene Strenge der Sprache machen den Roman zu einem erratischen Block und seine „Heldin“ Ivory Peral zu einer Puppe – zu wenig Blut, zu wenig Ironie. Dennoch in seinem Scheitern ein großartiger Versuch, das Genre voranzubringen.

UND WIR?

Was bedeutet das alles für uns, die wir mittlerweile ein ganzes Stück ins 21. Jahrhundert getaumelt sind und unter veränderten Bedingungen in einem Kapitalismus leben, der immer noch im gleichen Maße ausbeuterisch ist wie vor fünfzig oder hundert Jahren, aber ein viel gigantischeres Zerstörungspotenzial entwickelt hat? Und effektivere Formen der „Gehirnwäsche“ als es sich je ein Geheimdienst erträumen konnte? Ein knappes Jahrhundert nach der Erfindung des amerikanischen Hard-boiled-Krimis gibt es anscheinend kein opportunistischeres Genre auf dem Outlet der kulturellen Eitelkeiten als den Kriminalroman, der sich oft genug mit dem Erzeugen von Schaudern durch fiktive Gräuel begnügt und der realen Brutalität der Verhältnisse damit bestenfalls eine Grand-Guignol-Maske vors bestialische Antlitz hält, oft aber nur ablenkt.

Somit stecken wir Autoren also in einem fiesen Dilemma: Wenn wir nicht nur opportunistisch die alten Formen inklusive des abgenutzen Hard-boiled-Schemas und des inzwischen fadenscheinigen Neo-Polar-Ästhetizismus benutzen und die ewig gleichen Geschichten auf die ewig gleiche Art daherbeten oder gar in Noir-Kitsch abgleiten wollen, müssen wir neue Wege im Genre finden. Aber welche könnten das sein?

9783548290423_coverWie erzähle ich in Form von Spannungsliteratur über Verbrechen und Gesellschaft, über Ökonomie und Ausbeutung, über Herrschaft und Gewalt im 21. Jahrhundert?

WELCHE POSITION NEHMEN WIR EIN, DIE DES SCHLAFENDEN ODER DES WACHEN AUTORS?

(Fortsetzung folgt)

Robert Brack

Der Kommissar von St. Pauli„, sein dritter Alfred-Weber-Krimi, erscheint Anfang September bei Ullstein. Die Serie spielt in Hamburg in den Goldenen Zwanzigern.

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