Zum Endspiel der Siegeszug der Wiederholung
Von Dominique Ott
Mit Avengers: Endgame nimmt eines der großen Epen des bisherigen 21. Jahrhunderts sein Ende. Nachdem Iron Man 2008 den Startschuss für das sogenannte Marvel Cinematic Universe (kurz MCU) gab,wickelt nun der 22. Eintrag in die Filmreihe alle Handlungsstränge und zahlreiche Charakterbögen aus über einem Jahrzehnt Superheldenspektakel (vorläufig) ab.

Wenn man Marvel Studios gegenüber für etwas dankbar sein sollte, dann für die heute nur noch seltene Begeisterung, die deren Ausgeburten für das Kino hervorrufen. Ich hatte das Glück, das Spektakel von Endgame nicht nur im größten Kinosaal Europas erleben zu können, dem Grand Rex in Paris, sondern zudem noch in 2D. Obwohl ich in weiser Voraussicht erst 10 Tage nach dem Kinostart dorthin ging, zog sich bei meiner Ankunft die Schlange bereits über zwei ganze Blocks die Rue Poissonière entlang. Als die vorfreudigen Besucher endlich in den Dreißigerjahre Filmpalast strömten, konnte ich mir den Gedanken nicht verkneifen, eine vergleichbare Stimmung müsse doch damals geherrscht haben, als die Menschen zum ersten Mal in Gone with the Wind (dt. Vom Winde verweht) gingen. Dieser Eindruck war nicht nur den art déco Fassaden des Gebäudes, der monumentalen Größe des Saals selbst (und der Leinwand, als sie schließlich heruntergefahren wurde) oder gar dem falschen Sternhimmel an dessen Decke geschuldet: Nachdem ich im Kino noch nie hatte jemanden so weinen sehen wie die junge Dame neben mir am Ende von Avengers: Infinity War, habe ich ebenfalls noch nie das Publikum während einer Vorstellung wiederholt so jubeln und klatschen hören, wie bei Avengers: Endgame. Ob man es nun gut- oder schlechtheißt: Endgame bewegt die Massen. Nicht nur emotional, sondern auch in die Kinos (ein Monat nach Kinostart befindet sich Endgame nur knapp hinter dem größten finanziellen Erfolg aller Zeiten Avatar) und—zumindest für die Dauer der spektakulären Special-Effect-Sequenzen—mit sich mit.

Vergangenes Jahr hatte Avengers: Infinity War Zuschauerscharen mit dem unerwartesten Blockbusterende hinterlassen, seitdem 1980 das Imperium in Star Wars zurückschlug, nur mit einem noch größeren cliffhanger. Auf diese Weise wurde der Erfolg von Endgame —ursprünglich viel bezeichnender Infinity War Part 2 betitelt —vorgesichert. Ob der Film gut ist, hat damit letztlich wenig zu tun, schließlich konnte auch Batman v Superman: Dawn of Justice mehrere hundert Millionen einspielen, obwohl er gleichermaßen unter Fans wie unter Kritikern als erzählerisches Riesendurcheinander und insgesamt misslungen gilt. Marvel Studios haben ihrerseits längst die Kunst gemeistert, ein hochwertiges Produkt rauszubringen, das genau weiß was es ist und was es will. So ist auch Avengers: Endgame wie zu erwarten (und wie vielleicht alle anderen MCU Filme auch) weder schlecht noch herausragend: Einerseits sorgen charismatische Schauspieler, witzige Dialoge und state of the art Special-Effects für stetige Unterhaltung, andererseits leidet dieser wie alle Superheldentreff-Filme an der Überbesetzung, die trotz einer Laufzeit von über drei Stunden kaum Platz für bedeutende Charakterentwicklungen zulässt; diese finden im MCU schließlich über mehrere Filme hinweg statt. Ebenfalls zu erwarten war, dass Iron Man (Robert Downey Jr.) und Captain America (Chris Evans), seit dem ersten MCU-Eintrag der Russo Brothers Captain America: Civil War zerstritten, hier endlich wieder zusammenfinden, um die Pläne des mächtigsten aller Superschurken Thanos (Josh Brolin) zu durchkreuzen und alle ihre verschwundenen Superfreunde zurückzuholen.

Denn die Frage war nie, ob die sich am Ende von Infinity War in Luft/Pixel aufgelösten Super-Helden zurückkehren würden, sondern wie. Die in Hinblick auf die gesamte MCU franchise allzu perfekt vorkalkulierte Antwort lautet Zeitreise. Denn das Rezept für den andauernden Erfolg der Marvel Filme und das eigentlich faszinierende an ihnen ist die Geschwindigkeit und Genauigkeit, mit der es ihnen gelingt, sämtliche Tendenzen und Trends der Gegenwart zu erkennen, aufzugreifen und umzusetzen. Die Zeitreisenhandlung stellt deshalb einen weiteren Genistreich des Produktionshauses dar, weil dadurch die Prämisse dafür entsteht, sorgfältig kuratierte Momente aus dem eigenen Filmuniversum nochmal Revue passieren zu lassen. Auf diese Weise werden Höhepunkte der Reihe wieder vor Augen geführt und in der Gesamterzählung längst verstorbenen Figuren ein letzter Auftritt gewährt. Hinter dem Fanservice dieser Geste verbirgt sich ein weitgreifenderer Gegenwartstrend der Nostalgie-basierten Vermarktung von immer kürzer zurückliegenden Popkulturerscheinungen. Kulturkritiker beschreiben im digitalen Zeitalter zunehmend schneller werdende Rezeptionszyklen in denen das eben noch Aktuelle, gerade erst Gewesene schon im nächsten Augenblick als längst vergangen, also zitierfähig, referenzierbar und kanonisiert betrachtet wird, um anschließend als das Objekt einer rückwärtsgewandten Zuneigung wiederentdeckt zu werden. Frei nach dem Motto ‚früher war alles besser‘ operiert auch Avengers: Endgame, an dessen Ausgangspunkt die übrig gebliebenen Helden eben nicht nach vorne Schauen können, deshalb zum früheren Status zurückkehren möchten und sich demgemäß nicht vorwärtsbewegen, sondern zurück. So recycled sich mit Endgame die Filmreihe durch unzählige implizite und explizite Rückverweise selbst, ähnlich wie Star Wars mit Episode VII, hier jedoch bereits nach einem und nicht nach vier Jahrzehnten. Dabei scheint sich kaum jemand daran zu stören, dass bei dieser Haltung lediglich Altbekanntes aufs Neue rezipiert und hochgehalten, anders gesagt hochgewürgt und nochmal durchgekaut wird, anstatt sich gegenwarts- oder gar zukunftsbezogenen Fragestellungen zuzuwenden, die brennendere Themenbereiche berühren würden (was in vorangehenden MCU Filmen durchaus möglich war). Doch schon mit dem Ende von Infinity War war klar, dass es im vierten Avengers-Film nicht um Innovation, sondern um das Ausschlachten des bisherigen franchise-Erfolgs gehen würde.

Ein weiterer Trend unserer Zeit, der endlich (wenn auch nur langsam) bis nach Hollywood durchdringt und selbstverständlich auch von Marvel inkorporiert wird, besteht darin, weibliche Figuren in Rollen zu zeigen, in denen sie bisher nur selten vertreten waren. Deshalb gibt es auch in Endgame ein girl-power-Moment, in dem alle Super-Heldinnen des MCU Seite an Seite auftreten. Dabei wird allerdings peinlich sichtbar, wie nebensächlich die weiblichen Figuren in diesem Universum bis dato geblieben sind. Der erste nach einer Heldin benannte MCU-Film Captain Marvel sollte diesen Trend umkehren. Geschickt kurz vor Endgame herausgebracht, konnte der eigenständige Erfolg wohl noch die eine oder andere Kinogängerin für das bevorstehende Endspektakel gewinnen. Und obwohl Captain Marvel (Brie Larson) am Endpunkt von Infinity War als letzte Hoffnung der geschlagenen Helden angeteasered wurde, bleibt sie in Endgame weitgehend abwesend. Auch Avengers-Gründungsmitglied Black Widow (Scarlett Johansson) wird, nachdem sie in den drei vorherigen Avengers-Filmen bereits eine Randerscheinung geblieben war, hier als entbehrlich behandelt. Die finale und allentscheidende Konfrontation mit Thanos hingegen bleibt der heiligen Dreifaltigkeit der Männlichkeit vorbehalten. Männliche Dreifaltigkeit einerseits, weil hier die einzigen drei Figuren aus dem MCU vortreten, denen eine Trilogie in ihrem eigenen Namen gegeben wurde, andererseits weil es sich hier um drei Archetypen konkurrierender Männlichkeitsideale aus verschiedenen Zeitaltern handelt: Der mythische Krieger, König und Gott Thor (Chris Hemsworth), der zweite Weltkriegsheld und späterer Super-Geheimagent Captain America sowie der smarte Businessman und Tech-Genie Iron Man. Wäre es nicht befriedigender und wichtiger gewesen, die ihr lebenlang misshandelte Cyborg-Tochter von Thanos, Nebula (Karen Gillan), an ihrer lieblosen Vaterfigur Rache nehmen zu lassen?
Schlussendlich kulminiert das Ganze im gesellschaftsübergreifenden, allvereinenden, uramerikanischen Medienereignis schlechthin: Dem Super Bowl. Anstatt eines Balls über ein Spielfeld muss hier lediglich ein magischer Handschuh über ein Schlachtfeld gebracht werden. Ansonsten wohnen die Zuschauer wie auch beim American Football einem unübersichtlichen Zusammenprall zeitgenössischer Gladiatoren bei, während sie ihren persönlichen Favoriten unter den bunt-uniformierten Körpern anfeuern. Demgemäß dürfen die Publikumslieblinge Black Panther (Chadwick Boseman), Spider-Man (Tom Holland) und Captain Marvel jeweils das magische Artefakt für einen Teil der Strecke tragen und werden somit zu kurzen Hervorhebungen innerhalb dieses überwältigenden und titelgebenden Endspiels.
Nach jahrelanger Planung seitens von Marvel und Geduld seitens der Fans schafft Endgame die Zusammenführung von Handlungselementen aus fast allen bisherigen MCU Filmen. Es ist die perfekt ausgeführte Auserzählung über ein Jahrzehnt alter Charakterbögen und als solches die Rundung, die sich manch einer schon von Infinity War erhofft hatte. Das alles in einem sinnigen Film zu vereinen ist eine Kunst, welche die Russo Brothers wie keine Anderen beherrschen. Dass darin eines Tages die Kinokunst bestehen würde, oder zumindest ihr größter populärer Erfolg, hätte sich vor einem Jahrzehnt nie jemand träumen lassen.
Mit Game of Thrones nahm am 19. Mai das andere große Epos der Gegenwart, das parallel im Fernsehen lief, ebenfalls sein Ende (CrimeMag dazu hier). Und obwohl HBO bereits über Game of Thrones spinoffs nachdenkt und Marvel-Studios-Besitzer Disney MCU-Filme herausbringen wird, solange sie sich rentieren, scheint in beiden Fällen ausgeschlossen, dass sich solch ein Erfolg wiederholt. Bleibt die Frage, wofür die Massen sich in Zukunft noch begeistern werden, oder ob wir längst in einem Zyklus zunehmend kürzerer Selbstreferenzschleifen gefangen sind.
Dominique Ott
Seine Texte bei uns hier.