„I’m the fucking driver.“
Für viel Aufsehen hat der Film „Victoria“ von Anfang an gesorgt: Eine einzige Kameraeinstellung, 140 Minuten. Und trotzdem kinotauglich. Mit Preisen wurde er fast schon beworfen, Jubelkritiken kamen aus dem In- und Ausland. Eine Revolution für den deutschen Kinofilm hieß es gar. Bei so viel Lob wird man skeptisch – oder? Unsere neue Kollegin Katja Bohnet sah ihn sich an – und war tatsächlich beeindruckt. Aber nicht nur wegen der einen Kameraeinstellung.
Schon nach den ersten Minuten des Films weiß ich, wer am Ende in seinem eigenen Blut liegen wird. Es kann der Ruin eines ansonsten guten Filmes sein, wenn er vorhersehbar ist. Nicht so bei „Victoria“. Ich kenne die Exposition, die Figuren, das Thema und das, was unweigerlich passieren muss. Dennoch spielt Regisseur Sebastian Schipper mit diesen Erwartungen, weckt sie, enttäuscht sie und gibt dem Zuschauer in erstaunlichen Wendungen doch immer wieder das, was er sehen will.
Der Film wurde in nur einer Einstellung gedreht, fast unglaublich, ohne einen Schnitt. Eine herausragende Leistung des Kameramannes Sturla Brandt Grovlen, für die er den Silbernen Bären erhielt. Der Effekt: Der Zuschauer rennt in Echtzeit mit. „À bout du souffle“: atemlos. Es gibt auch meditative Szenen, Ruhe, Stille, danach zieht das Tempo wieder an. Das Timing stimmt, genau so wie der Ton, glasklar, manchmal gedimmt und die Musik, die von Nils Frahm und DJ Koze kommt. Bis in die Nebenrollen ist „Victoria“ außergewöhnlich gut besetzt. Ein Hoch auf die Improvisation!
Vier Uhr am Morgen: Berlin bei Nacht. Pulsierende Bässe, technische Beats, Stroboskop im Club.
Ein Mädchen tanzt, sie geht und bestellt sich auf Englisch einen „Schnaps“. Kurz flirtet sie mit dem Barkeeper, doch der will nicht. Mit nur ein paar Strichen wird Victoria, die Hauptfigur, skizziert. So einfach, dass es der Ruin einer Figur sein könnte. Nicht so bei Victoria. Sie benimmt sich ausgelassen, schelmisch, herzlich, gut. Sie könnte Björks Schwester sein. Sie müsste zur Arbeit gehen, doch dazu kommt es nicht.
Am Ausgang trifft sie vier Jungs, die nicht in den Club reindürfen. Kein Geld, weshalb sie wieder abziehen. Sie heißen Sonne, Fuß, Boxer und (Bling-Bling)Blinker. Gutmütige Kerle mit sprechenden Namen, besoffen, bekifft, im Laberflash: „Ey Alter, hör auf mit dem bisexuellen Scheiß!“ Sie könnten „Als wir träumten“ von Clemens Meyer entsprungen sein. Man lernt sich kennen, lacht und torkelt über die Straßen. Sie wollen Victoria, die aus Madrid nach Berlin geflohen ist, ihre Stadt zeigen. Das richtige Berlin. Victoria zieht mit, leicht bedröhnt, entspannt. Aus großer Leichtigkeit muss sich großes Drama ergeben. Genau hundertvierzig Minuten lang. Du kannst die gleichen alten Geschichten erzählen, wenn du es mit deiner eigenen Stimme tust.
Boxer war im Knast und — Los, Schicksal! Nimm deinen Lauf! —, hat Schulden, die er begleichen muss. Und wie das so ist unter Freunden, hängen alle anderen gleich mit drin. Ein letztes Ding, danach ist Schluss. Fuß fällt um, ein Fahrer fehlt. Victoria springt ein. Das Motiv scheint abgenudelt, aber jetzt kommt’s: Es wurden schon viele gute Filme über Fahrer gedreht. „Drive“ heißt einer dieser unvergesslichen Filme nach dem Roman von James Sallis. Doch so eindringlich Ryan Gosling auch spielt, wenn du einen Fahrer brauchst: Nimm Laia Costa, alias Victoria! In den aussichtslosesten Situationen zieht sie den Karren aus dem Dreck. Denn „Victoria“ ist nicht zuletzt ein Film über eine starke Frau. Sonne, Boxer und Blinker reden ohne Unterlass, nur wenn es drauf ankommt, fällt ihnen nichts mehr ein. Erst Victoria stellt das natürliche Gleichgewicht in der Gruppe wieder her. Victoria, die Siegerin. Aber welcher Sieg bedeutet schlussendlich nicht doch ein Pyrrhussieg?
Die Kreise schließen sich: Anfang, Ende, Knarren, Koks und nackte Freaks im Club, denen kurz die Welt gehört. Doch „Victoria“ ist auch ein Liebesfilm, ein Film über das Jungsein, über ein Lebensgefühl, Freundschaft, die Gesellschaft und was sie aus uns macht. Wer zu oft „no problem“ sagt, hat garantiert mehrere. In „Victoria“ steckt das pure Leben. Was es in den besten Momenten sein kann und was es in den schlimmsten Augenblicken ist.
Katja Bohnet
Victoria (2015). Regie: Sebastian Schipper, Drehbuch: Sebastian Schipper, Olivia Neergaard-Holm, Eike Schulz, Produktion: MonkeyBoy, deutschfilm, Radical.Media, Vertrieb/Verleih: Senator / Wild Bunch Germany, Musik: Nils Frahm, DJ Koze, Kamera: Sturla Brandth Grøvlen, Besetzung: Laia Costa, Frederick Lau, Franz Rogowski, Burak Yiğit, u.v.a.