On Dangerous Ground: Film, Verbrechen und andere Mittel – Max Annas über Werner Hochbaums „Razzia in St. Pauli“ (1932)
Unter anderen Umständen wäre Werner Hochbaum heute möglicherweise bekannt, gar berühmt, als Chronist Hamburger Verhältnisse, als Filmemacher, der Geschichten erzählt hat über jene, die man mal die kleinen Leute genannt hat, über Leben am und mit dem Hafen. „Razzia in St. Pauli“, ein spätes Übergangswerk, das Stumm- und Tonfilm miteinander verschmilzt, zeigt schon in den ersten Minuten ein ganzes Kaleidoskop von Eindrücken aus einer sich verändernden Welt. Die Arbeiter am Hafen. Chinesische Leute und ihr Restaurant. Das Paar, er, den wir später als Musiker-Leo (Wolfgang Zilzer) kennenlernen, sie (Gina Falckenberg) verkauft Sex, ist gerade aber krank. Eine Jazztrompete wird drinnen geübt, eine deutsche Blaskapelle hält draußen dagegen.
In dieser Welt können sich manche was leisten, und andere nicht. Der Typ in der Proletarierjacke (Friedrich Gnaß) kann sich sicher nicht leisten, was da beim Juwelier im Schaufenster liegt. Er dreht sich einmal, rückt seine Schiebermütze zurecht und schlägt die Fensterscheibe ein. Ein Griff, und er ist auf der Flucht. Wir sehen den Polizisten mit der Pfeife und die rennenden Beine seiner Kollegen. Der Scheibeneinschläger ist derweil im Wohnquartier angekommen und sucht nach einem Versteck. Wir sind jetzt mitten in der Aktion. Er klettert in ein Haus hinein und steht vor dem Bett der kranken jungen Frau.
„Wenn die Grünen kommen, dann rufste,“ sagt der Juwelendieb zu einer anderen Frau, die ihn auch gesehen hat. Robbers and Cops, nicht Cops and Robbers. Erfrischend radikal ist das Intro zu diesem Film, den letzten Langfilm, den Hochbaum vor der Machtübernahme der Nazis in Deutschland zu Ende bringen konnte. 1933 ist der Film dann verboten worden.
„Was machst Du denn so?“ fragt der Juwelendieb die im Bett liegende Frau, während er an seiner Zigarette zieht.
Die sieht sich um im Zimmer, ihr Blick ruht kurz auf einem großen Bild an der Wand. Sich regen bringt Segen, steht darauf, eine nackte Frau liegt auf einem Bett über dem Spruch. „Ich bin die Ballhaus-Else,“ sagt sie. „Und Du?“
„Matrosen-Karl,“ sagt der Mann und schmunzelt.
„Ah, ein ganz harter Junge,“ sagte die Frau.
Schmunzelt der Mann noch einmal. Später, die beiden befinden sich immer noch in dem Zimmer, die Frau hat die sexuellen Wünsche des Mannes robust zurückweisen müssen, nachdem sie ihn vor den suchenden Polizisten an dem einzigen möglichen Ort versteckte, in ihrem Bett, erzählen sie sich ihre Lebensgeschichte, da sagt er noch: „Mir ist ein ehrlicher Einbruch auch lieber als die ganze christliche Seefahrt.“
Hochbaum hat schon seinen ersten Spielfilm „Brüder“ 1929 im einem ähnlichen Milieu gedreht. Ein paar Jahre zuvor ging es nicht um Räuber und Bullen, sondern um Streikende und Bullen. „Brüder“ ist ein historischer Film über den großen Hafenarbeiterstreik im Winter 1896/97. Die wilhelminische Polizei besetzt St. Pauli auf der Suche nach den Anführern des Streiks – und der Film endet ganz im Geiste derer, die ihn bezahlt und unterstützt haben, Hafenarbeitergewerkschaft und SPD. Die wütenden Arbeiter stehen vor der Polizeiwache und sollten sie eigentlich stürmen und ihren Genossen befreien, doch wir sind hier nicht im sowjetischen Revolutionskino. Stattdessen geben sie sich kopfnickend zufrieden mit der Lösung, dass ihr Anführer für eine Zeit wegesperrt wird. So sind die Gesetze eben, und so sind die Machtverhältnisse. Na gut.
Die Weimar-Retrospektive bei der Berlinale zeigte in diesem Jahr zwei Filme Hochbaums. Neben „Brüder“, der in seinem angestammten Habitat spielte, war das der aufregend erzählte, aber politisch eher brave „Morgen beginnt das Leben“ von 1933, das war Hochbaums dritter Spielfilm (er hatte zwischenzeitlich auch eine andere Regiearbeit während des Drehs übernommen und zu Ende geführt sowie die deutschsprachige Version eines ungarischen Films erledigt), der einen Haftentlassenen in den Mittelpunkt stellt, der seinen Augen und Ohren nicht traut und in Eifersucht fast zu verbrennen droht, weil er seiner Liebsten, die ihm nur helfen will, einen neuen Job zu finden, ein Verhältnis unterstellt.
„Morgen beginnt das Leben“ ist in und um Berlin herum gedreht und hätte durchaus des Regisseurs letzter deutscher Film sein können. Er ging dann nach Wien und setzte seine Arbeit dort mit einigen Komödien fort, um dann 1937 doch wieder nach Deutschland zurückzukehren und Filme zu machen. Nach zwei weiteren Komödien erhält er den Auftrag, „Drei Unteroffiziere“ zu drehen, bis heute einer der sogenannten Vorbehaltsfilme, den ich leider nie sehen konnte. Der Plot liest sich einfach: Drei Unteroffiziere mit unterschiedlichen Interessen, aber gut befreundet miteinander, müssen sich bewähren und ihr leidlich gut organisiertes Privatleben aufgeben, um gute Soldaten für Deutschland zu werden. Hochbaum scheint die Soldaten nicht stromlinienförmig genug gezeichnet haben nach einem Drehbuch, für das er nicht selbst verantwortlich war. So verpasste er die Chance, sich in den Augen des Regimes zu bewähren und wurde nach der Beendigung des Films an die Front geschickt, wo er überlebte, aber krank wurde. Noch 1946 verstarb er mit Plänen im Kopf, am Wiederaufbau der deutschen Filmindustrie mitzuarbeiten.
Die Ballhaus-Else und der Matrosen-Karl beschließen, aus Hamburg zu türmen. Eine arme Frau muss sehen, wo sie bleibt, und Karl ist in vielerlei Hinsicht sehr durchsetzungsfähig. Währenddessen spielt sich Leo einen Wolf am Klavier. Er beschallt eine Kellertaverne, die auf bessere Zeiten wartet. Und Leo wartet auf seine Mitmusiker, den Akkordeonisten und den Schlagzeuger, um die harte Arbeit am Takt auf mehrere Schultern zu verteilen. Auftritt Else und Karl, Else erzählt Leo von ihren Plänen – und die drei finden eine erstaunlich zivilisierte Lösung für ihre Probleme. Ein ordentlicher Drink hilft dabei natürlich. Und während sich also Else und Karl miteinander vergnügen, darf Leo nicht einmal ein trauriges Stück spielen, ohne vom ruppigen Publikum zurechtgewiesen zu werden.
So könnte es weitergehen. Es gibt halt glückliche und auch traurige Leute. Aber im Hintergrund arbeitet die Polizei daran, den Bruch aufzuklären. Und wir sehen einen zivilen Polizisten am Telefon, dessen Sätze uns verraten, dass Matrosen-Karl den Platz 198 auf der Steckbrief-Liste hat. „Falls die Suche keinen Erfolg hat,“ sagt der Polizist, „müssen wir eine Razzia vornehmen. Bitte veranlassen sie das nötige.“
„Razzia in St. Pauli“ ist vieles auf einmal. Großstadtfilm oder vielleicht besser: Stadtteilfilm, in dessen Schnittfolgen zerbröselnde Elendsarchitektur moderne Entwicklung kommentiert. Der Takt der Musik blendet über in den Rhythmus der Hämmer, die die Pflastersteine zwischen den neu gelegten Straßenbahnschienen festklopfen. Es hätte die reichen Leute am festlich gedeckten Tisch mit Sekt und Braten nicht gebraucht, um den Hunger zu konterkarieren, den die Armen vorher formulieren. Ernst Busch bringt das in seinem Schlusslied poetischer zum Ausdruck, zu den Bildern sich drehender Räder und marschierender Arbeiterfüße.
Der Plot des Films ist ja schnell erzählt. Else und Leo haben sich nicht mehr viel zu sagen. Else trifft Karl, und die beiden beschließen, ihrem traurigen Leben zu entkommen. Else und Leo und Karl reden und trinken. Else und Karl wären fast über alle Berge gewesen, wenn die Polizei nicht getan hätte, was der Filmtitel mehr als andeutet. Viel Zeit bleibt also, um die Umgebung zu würdigen, die diese Figuren hervorbringt. Und dazu gehört auch die Spelunke, in der Leo spielt und Else Kundschaft sucht. Mehr als die Hälfte des Films spielt hier. Hier wird getanzt, gesoffen, geknutscht und gedroht. Und dass in dieser Umgebung, in der selten viele Worte fallen, an der Wand geschrieben steht, dass sowohl Englisch als auch Dänisch gesprochen wird, ist nur ein feines Detail am Rand.
Wir sind hier in einer versunkenen Welt. Nicht, dass in St. Pauli nicht Musik gemacht und kommerzieller Geschlechtsverkehr angebahnt würde, heute. Aber die Airbnb-Touris haben noch nicht dabei zugesehen. Es waren immer nur die da, die immer da waren. Und wenn einer mal nicht ganz gepasst hat, dann hat man ihn für einen Spitzel gehalten.
Hochbaum war ein großes Talent. Er hatte eine Idee davon, was man mit einer Kamera so anstellen konnte. Er hatte Geschichten im Kopf und eine Vision davon, wie ein Film mit wenigen Figuren ein Publikum erreichen sollte, das nicht kunstaffin war. Und er hatte noch etwas. Anders als in den bekannteren Filmen der Kinolinken endeten seine Werke nicht mit der Masse, die sich in Bewegung setzt, wie „Kuhle Wampe“ zum Beispiel. Er ist viel näher am Individuum, platziert es in und dann außerhalb der Gruppe, was im Fall von „Brüder“ auch ziemlich schiefgeht. In „Razzia in St. Pauli“ gelingt es fabelhaft. Im harten Wind von Armut und Polizeibelagerung gelingt es Else, Leo und Karl, ihre Dinge miteinander zu verhandeln. Niemand wird erschossen oder erschlagen, obwohl Eifersucht durchaus im Spiel ist. Und als sich die Situation durch die Verhaftung von Karl verändert hat, verhandeln Else und Leo eben neu. Beinah ein anarchistisches Paradies.
Razzia in St. Pauli; Regie: Werner Hochbaum; Drehbuch: Werner Hochbaum; Deutschland 1932; 74min; Kamera: Adolf Otto Weitzenberg; Musik: Kurt Levaal; DarstellerInnen: Gina Falckenberg, Friedrich Gnaß, Wolfgang Zilzer.
Max Annas „Illegal“ steht in unserer CrimeMag Top Ten. Zu seinen Filmkolumen „On Dangerous Ground: Film, Verbrechen und andere Mittel“ bei CrimeMag geht es als Überblick hier.
Bisher erschienen:
„The Window“ von Ted Tetzlaff, nach Cornell Woolrich
„Verräter“ von Karl Ritter
„In jenen Tagen“ von Helmut Käutner
„Nachts auf den Straßen“ Rudolf Jugert
„Man Without a Star“ von King Vidor
„Day of the Outlaw“ von André De Toth
„Frozen River“ von Courtney Hunt
„J´ai pas sommeil“ (Ich kann nicht schlafen) von Claire Denis
„Outrage“ von Ida Lupino
„Fury“ von Fritz Lang
„Nada“ von Claude Chabrol und die Bücher von Jean-Patrick Manchette
„Executive Action“ von David Miller
„Devil´s Doorway“ von Anthony Mann
„Acı“ von Yilmaz Güney
Deprisa, deprisa“ von Carlos Saura
„La città si difende“ von Pietro Germi.