
In der Hitze der Macht
Wer das Buch in diesen Tagen liest, ist seiner Zeit um eine Nasenlänge knapp voraus. Die Pandemie ist vorbei, steckt als Trauma eines verlorenen Jahres in den Knochen. Der Sommer des Jahres 2021 ist, anders als es die windig-kalt verregneten Tage gerade andeuten, kochend heiß. Der Titel erklärt sich selbst. Hitze erzeugt einen anderen Bewusstseinszustand. Die Poren öffnen sich. Alles fließt ineinander: die Szenen, die Akteure, ihr Handeln, ihre Sorgen, ihre Obsessionen.
Der Ich-Erzähler Tom Lohoff ist ein Ostgewächs, Sohn eines frühpensionierten Kripobeamten, der einst der Stasi behilflich gewesen war und sich eisern für neue Einsätze bereit hält. Der alte Lohoff erinnert mich an einen jungen Romanhelden von Michael Sollorz, ein Schläfer der realsozialistischen Staatsmacht, der sich nach dem Fall der Mauer für die erneute Übernahme der Arbeitermacht eisern fit hält. (Michael Sollorz, Die Eignung. Männerschwarm 2008)
Aus der Ferne weht in Tom auch der Atem von Alfred Döblins Franz Biberkopf. Toms Mieze heißt Marla und arbeitet im Deli-Café an der Ecke Pohlstraße, wo sie Tom mit Americano versorgt. Später besteigen die beiden nach einem wilden Tischtennisspiel einen Baukran, um in lichter schwankender Höhe eine heiße Nummer zu schieben.
Es handelt sich – nicht nur erzählerisch – um einen Entführungsfall. Denn es ist meine Nachbarschaft in Schöneberg-Nord an der Grenze zu Tiergarten, in der diese Story spielt: auf der Potsdamer Straße, Ecke Pohlstraße, einige Häuser neben der maskenfreien Metzgerei Staroske, die meine Hündin mit Fleischknochen versorgt. Einige Häuser weiter hat ein Spielhöllenkomplex vor einigen Jahren den Fahrraddoktor vertrieben, der jetzt um die Ecke auf der anderen Seite der Pohlstraße residiert. Die Topographie am Rand zum Gleisdreieckpark ist klar umrissen.
Aus der Ferne weht mich eine Erinnerung an die beinamputierte Hure an, die in den späten 70er Jahren hier ihre Freier auf einem Verteilerkasten sitzend erwartete. Es ist eine Nachbarschaft für Spieler, Junkies, Zuhälter und verlorene Seelen. Tom hat ein Problem: er hat bei einem Zuhälter fällige Schulden, die er seiner Spielsucht verdankt. Völlig irre Wetten auf australische Hunderennen oder weißrussische Fußballspiele sollen mit unverhofftem Spielgewinn helfen, die Schulden zu tilgen. Das geht nicht gut.
Tom ist ein aufgenordeter Hausmeister (noch eine Parallele zu Sollorz´ Protagonist). Nach der Wende hat sein Papa dank alter Verbindungen sich ein kleines Imperium aus gut gelegenen Wohnungen zugelegt, die sein Sohn an Touristen aus aller Welt vermietet. Er sei ein Facilitator, sagt Tom beiläufig, ein Möglichmacher. Das teilt er mit seinem Erfinder Johannes Groschupf, der so in lakonischem Ton literarische Spuren legt, ohne sie weiter auszubreiten. In der Hinsicht ist er auch ein Nachfolger des Erzählers Jörg Fauser. Die Ökonomie seines Erzählens packt den Leser im Genick und lässt ihn nicht los. Das kann dann mal vier Stunden dauern.
Die Kettenhunde des Zuhälters machen Tom klar, dass seine Zeit abgelaufen ist, wenn er nicht subito seine Schulden tilgt. Und dann drängen ihn zwei seltsame Vögel dazu, eine im Nordosten gelegene Wohnung noch am gleichen Abend für einen wichtigen Kunden freizumachen, obwohl sie noch ein paar Tage an zwei Amis vermietet ist. Die muss er raus schaffen, auch wenn das Ärger verspricht, aber es winkt schnelles Geld. Nichts braucht Tom dringender.
Erst einmal macht er die Wohnung klar (das Klarmachen ist der Ganoventon unserer Zeit) und rast dann zurück in den Westen, um mit Marla Tischtennis zu spielen und einen Baukran zu besteigen. Nach einer endlos schnellen Nummer in der Höhe bringt er sie nach Hause. Sie wohnt in der Roten Insel Schönebergs und macht nachts vor der Webcam die Beine breit, um Follower aus aller Welt bei Laune zu halten. Mit dem Brauen von Americanos ist das Leben im neuen Berlin nicht zu finanzieren.
Tom muss nun den neuen Mieter in die Wohnung bringen, ihn und die beiden Begleiter noch mit labbriger Pizza versorgen. Am nächsten Morgen sieht er das Bild des Mieters in den Nachrichten: es ist der AfD-Kandidat für den Bundestag, den eine linksradikale Gruppe entführt haben soll. Groschupf re-enactet einen politischen Kriminalfall aus dem Jahr 1975, als die „Bewegung 2. Juni“ den westberliner CDU-Politiker Peter Lorenz entführt hatte, um Geiseln freizupressen. Das Spiel folgt nun einer ähnlichen Logik. Jetzt ist es nicht mehr Terrorismus als Selbstzweck, sondern eine Kultur der politischen Verzweiflung, die Heil im Eskapismus sucht.
Politisch hat das Pandemiemanagement zu einem Ermüdungsbruch geführt. Wahlprogramme sind Schall von vorgestern. Jetzt zählen Bluthochdruck, Hitzewallung und action. Dazu trägt später auch die Polizeikommissarin Romina bei, ein heißer Feger, die Tom durchschaut und ihr scharfes Spielchen mit ihm fortsetzt, als der Fall längst gelöst ist.
Groschupfs Krimi ist weitsichtiger, als uns lieb sein kann. Das ist gerechtfertigt durch eine atemberaubende Lektüre. Das Lesen erlaubt keine Unterbrechung.
Johannes Groschupf: Berlin Heat. Thriller. Herausgeber: Thomas Wörtche. Suhrkamp Verlag, Berlin 2021. 254 Seiten, Klappenbroschur, 14,95 Euro.
Berlin Prepper von Johannes Groschupf hier bei uns besprochen. Texte von ihm exklusiv bei uns hier. Und Sie finden ihn auch unter den Autoren unserer Jahres-Highlights.