
Über Hersch Mendel und die Bundisten
Nach vielen Berichten in Print, Audio, TV und SM (= social media) rund um den 8. Mai unter der nun auch deutschen Überschrift „Befreiung“ besorgte ich mir ein ziemlich altes Buch: Hersch Mendel, Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs. Mit einem Vorwort von Isaac Deutscher, erschienen 1959, auf deutsch 1979, im untergegangenen linken Rotbuch-Verlag, der rebellischen Abspaltung von Wagenbach. Auch das sind sehr alte Geschichten.
Ich hatte mich, wie oft und zuletzt in der Hannah Arendt-Ausstellung, geärgert, dass in den meisten deutschen Buße-Ritualen „Juden“ fast nur in Gestalt gebildeter, wohlhabender, mehr und weniger germanisierter Vertreter vorkommen. Denn ich finde es traurig, dass die mehr und weniger revolutionäre Arbeiterbewegung der Bundisten meist fehlt, in den so zahlreichen Studien über „jüdische Schicksale“ habe ich kaum etwas darüber gefunden. (Ausnahmen bestätigen die Regel, aber wenn von den polnischen Juden die Rede sind, sind sie entweder Teil der Masse oder eingehüllt in Kaftan, mit Tefillin, Schläfenlocken, unterlegt von Klezmer-Musik.)

Hersch Mendel war Bundist, er kämpfte in jener revolutionären Arbeiterbewegung, die in sozialistischer, anarchistischer und kommunistischer Version vor allem in Polen und Russland sehr stark vertreten war. Mendel fand aber auch Kameraden in Paris, London und New York, meist Exilanten aus Polen und Russland.
Vorweg sei gestanden, dass diese Erinnerungen kaum mehr lesbar sind. Die Sprache, das Pathos, der ungebrochene Glaube samt Disziplin haben im 21. Jahrhundert aus vielen guten Gründen keinen Platz. Mendel hat schon an der Revolution von 1905 teilgenommen, lebte in Warschau, erlebte Hunger, Verfolgung, Prozesse, Illegalität, Gefängnis (wo er sich der Lektüre von Marx widmete), kam teils flüchtend, teils in revolutionärer Mission nach Moskau, Petersburg, Paris, Wien und andere Orte, wo er immer auch Genossen fand, die ihm halfen.

Es gibt über den „Bund“ nur wenig Literatur, nicht zuletzt weil die Bundisten, diese revolutionären polnischen und russischen Juden völlig ausgelöscht wurden. In den Konzentrationslagern und Gaskammern wurden vor allem sie – unter Mithilfe ukrainischer, lettischer, kroatischer und vieler anderer Helfer mit deutscher Gründlichkeit vernichtet. Inzwischen weiß man und darf ungestraft erzählen, dass die Nazis auch von französischen, holländischen u.a. Helfern unterstützt wurden. Jedes Land hat sich seine Legenden gewoben, lange Zeit sahen sich die Franzosen vor allem als Widerstandskämpfer, Holländer haben Juden versteckt, Österreich war das erste Opfer und die Deutschen haben gelernt und bewältigt wie kein anderes Volk. Die Durchsetzung und allmähliche Zerstörung dieser Mythen ist ein interessantes, noch unterbelichtetes europäisches Thema, doch zu komplex, um hier behandelt zu werden.

In der Erinnerungskultur verschwinden die Bundisten hinter den Juden, die gebildet waren, Schriftliches hinterlassen konnten, und die als erkennbare Individuen zwischen Buchdeckeln, auf Tapes, in Filmen aufbewahrt werden konnten.
Es gibt noch eine aktuelle Diskussion, die mich zu dieser Ausgrabung bewogen hat: In der schwierigen Debatte um den afrikanischen Intellektuellen Achille Mbembe, die an der unverbrüchlichen Freundschaft zwischen Deutschland und Israel rüttelt, wird weitgehend ausgeblendet, dass es Tausende und Abertausende jüdische Revolutionäre gab, auch tausend Diskussionen darüber, ob die Situation der Juden sich mit einem nationalen (sprich: zionistischen) Konzept lösen ließe. Es gab auch andere nationale Konzepte, zaristische, stalinistische, bolschewistische, eine Vielfalt von Meinungen, die hinter der Oberaufsicht von Leuten, die die Definitionsmacht beanspruchen, weitgehend verschwunden sind.

Wie gesagt, Hersch Mendel ist nach dem Genozid, dem seine Genossen in so großer Zahl zum Opfer gefallen sind, doch Zionist geworden. Was mich nicht darüber hinweg tröstet, dass es in den riesigen Bibliotheken über die Vernichtung von Juden so wenig über die Bundisten gibt (denen mein in Riga ermordeter Großvater angehört hat, auch daher mein Interesse, ich bin nicht objektiv – falls es so etwas in dieser Auseinandersetzung geben kann).
Falls nun, weil es „bald keine Zeitzeugen mehr gibt“ (kommt in jeder Gedenkrede vor), Roboter gebaut werden, gefüttert mit all den Geschichten, die in Yad Vashem, im Leo-Baeck-Institut, in Editionsprojekten per podcast etc. aufbewahrt sind, wird hoffentlich ein BOT auch von ihnen erzählen.
Hazel Rosenstrauch
Hersch Mendel: Erinnerungen eines jüdischen Revolutionärs. Mit einem Vorwort von Isaac Deutscher. Rotbuch Verlag, Berlin 1979. 271 Seiten.
Hazel E. Rosenstrauch, geb. in London, aufgewachsen in Wien, lebt in Berlin. Studium der Germanistik, Soziologie, Philosophie in Berlin, Promotion in Empirischer Kulturwissenschaft in Tübingen. Lehre und Forschung an verschiedenen Universitäten, Arbeit als Journalistin, Lektorin, Redakteurin, freie Autorin. Publikationen zu historischen und aktuellen Themen, über Aufklärer, frühe Romantiker, Juden, Henker, Frauen, Eitelkeit, Wiener Kongress, Liebe und Ausgrenzung um 1800 in Büchern und Blogs. Ihre Internetseite hier: www.hazelrosenstrauch.de
Ihre Texte bei CulturMag hier. Ihr Buch „Karl Huss, der empfindsame Henker“ hier besprochen.Aus jüngerer Zeit: „Simon Veit. Der missachtete Mann einer berühmten Frau“ (persona Verlag, 112 Seiten, 10 Euro). CulturMag-Besprechung hier.