Geschrieben am 1. April 2021 von für Crimemag, CrimeMag April 2021

„Hof Nr. 4233“ – Alf Mayer über das Fotobuch von Tomas Wüthrich

Das Cover von „Hof Nr. 4233“

Wie ein Film von Robert Bresson

73 Duplex-Abbildungen, ausgewählt aus 13.000 Fotos auf insgesamt 373 Filmen. Der Fotoband „Hof Nr. 4233“ von Thomas Wüthrich, im renommierten Zürcher Verlag Scheidegger & Spiess erschienen und vom Atlas-Studio Zürich gestaltet, hat erzählerisch seltene Wucht. Nichts ist hier beliebig. Der extreme Minimalismus der Gestaltung ist dem Inhalt angemessen.

Eine solch kleine Titelzeile wie die auf dem Cover dieses Buches habe ich noch nicht gesehen. „Hof Nr. 4233“ steht in 8 Punkt oben links im drei Finger breiten Grau eines Berghimmels. Den Großteil des Titelfotos nimmt eine halbgemähter Hang ein, die langen Halme vom Wind nach links gedrückt, eine Figur mit Kapuze stürmt die Anhöhe hoch, die Heugabel in der Hand. Ein Arbeitsfoto. Es setzt sich auf der hinteren Umschlagseite fortsetzt. Wenn man es im Ganzen anschaut, ist es ein ziemlich großer Berghang, und die Gestalt ist sehr alleine.

Beim Ökoheu-Mähen sucht Ruth Wüthrich den Grenzstein zwischen zwei Feldern, 1999. © Tomas Wüthrich

Bauer sein, das ist eine oft verdammt einsame Arbeit. Und das Wetter meint es nicht immer gut. Die Gestalt mit der Heugabel an der Bergwiese macht klar: Hier geht es nicht um Romantik. Aber auch nicht um Larmoyanz. Eine Kamera ist ein kühles Auge. Thomas Wüthrich als Fotograf schaut hin.

Für diese nun im Abstand von 20 Jahren zum Buch geronnene Arbeit hatte er allen Grund. Denn vom 11.4. 1999 bis zum 30.4. 2000, ein ganzes Jahr lang, begleitete er die Hofaufgabe seiner Eltern. In einer anderen Welt wäre er Hoferbe geworden – wie ich das übrigens auch eigentlich war, für einen Hof im Allgäu, und deshalb mit einem ganz besonders subjektiven Blick auf dieses Buch schaue. Dreißig Jahre bewirtschafteten seine Eltern Hans und Ruth Wüthrich in Kerzers am Rand des Großen Mooses im freiburgischen Seeland ihren Bauernhof: Milchwirtschaft und Ackerbau, bescheidene Betriebsgröße. Mit einer immer schlechteren Rendite. Bis es nicht mehr ging. 

Der Sohn ging lieber „in die Welt“, lernte erst Möbelschreiner, wurde dann Fotograf (siehe auch seinen Band „Doomed Paradise“ und sein Engagement für die letzten Penan im Regenwald von Borneo). Das Buch jetzt ist seinen Eltern gewidmet, kam zum Teil per Crowdfunding zustande. Wer will heute denn schon etwas über sterbende Bauernhöfe wissen?

Hans und Ruth wischen gemeinsam das Tenn, 1999. © Tomas Wüthrich

„Bauernopfer“ überschreibt Balz Theus die Einführung. Von Hofsterben will niemand reden, man nennt es „Agrarreform“. Die macht aus den Bauern Unternehmer. Subventionsempfänger. Wettbewerber. Gewinner und Verlierer. „Vor allem kleinere Betriebe, die die sinkenden Preise nicht mit gesteigerter Produktion wettmachen können, sind gezwungen, Nischen für ihre Erzeugnisse zu finden – oder aufzuhören“, so der Journalist Theus. Bis heute verschwinden in der Schweiz jeden Tag zwei landwirtschaftliche Betriebe. 1905 gab es mehr als 240.000 Bauernhöfe in der Schweiz, heute sind es noch 50.000. Seit dem Jahr 1900 ist der Anteil der Bauern an der Schweizer Bevölkerung von 31 Prozent auf 2,5 Prozent gesunken. Alleine zwischen 1990 und 1999 verringerte sich die Zahl von 92.815 auf 73.591. Das war die Zeit, in der es auch die Eltern von Thomas Wüthrich erwischt hat.

Der Begriff „Bauernsterben“ aber fehlt immer in den offiziellen Verlautbarungen, lieber spricht man von „Strukturwandel“. Für das kantonale Amt waren die Wüthrichs nüchtern der Hof mit der Betriebsnummer 4233 – einer von vielen. Für Hans und Ruth war es ihr „Heimetli“. Ihr Sohn Tomas zeigt jetzt das Schicksal hinter diesen vier Zahlen.

Und wie gesagt, einen Teil dieses Schmerzes kann ich ermessen. Auch die Bilder transportieren ihn.

Der Stall ist leer. Von den Kühen verbleiben nur noch die aufgewickelten Schwanzschnüre, 2000. © Tomas Wüthrich

Das Buch begleitet Hans und Ruth während ihres letzten Bauernjahres, hält die tägliche Arbeit und die entscheidenden Momente der Hofaufgabe fest: die Unterschrift des Vertrages mit dem neuen Pächter, den Abtransport der Kühe, das letzte große Aufräumen im leeren Stall. Das Ende.

Machen wir einen kleinen Schnelldurchgang.
Da ist die Bergwiese vom Cover. Als Doppelseite.
Die Bäuerin, halbnah. Eine kräftige Arbeitshand hält die Sense. 
Lustiges Bild: Hans schaut aus dem Grassilo, die Enkel stehen daneben.
Hans beim Säen auf dem Maisfeld.
Das Paar auf der Tenne beim Fegen.
Ein Blick von oben auf das nächtliche kleine Dorf.

Eine weiße Doppelseite.
Ein dreckverspritztes Stallfenster, fast abstrakte Kunst.
Die nächste Doppelseite hat zwei Fotos. Hans beim Melken. Ruth trägt die volle Milchkanne weg.
Jetzt sieht man Euter und Hände groß. Der Kuhschwanz ist hochgebunden, damit er dem Melker nicht ins Gesicht schlägt.

Die Melkmaschine. Im Foto rechts eine kleine Milchpfütze auf dem Boden. (So etwas passiert. Hat meinen Vater immer zum lauthals Fluchen geärgert.)
Kälbchen und Mutterkuh.
Ruth mit dem Milchkarren unterwegs. Zwei große Milchkannen. (Die hatten wir auch immer, unterschiedlich voll. Denn Karren zur Dorfmolkerei zu schieben war meine Aufgabe, die Kannen selbst heraushieven zu können war eine der Maßeinheiten des Älterwerdens.)

Hans auf dem Misthaufen, eine Schubkarre ausleerend. (Dafür gewöhnt man sich an, nicht zu sehr durch die Nase zu atmen. Stadtleute schaffen das nie, die müssen hinriechen. Muss man aber nicht.)
Bauernhofarbeiten.
Zwei Kälber, am Strick geführt. Passanten.
Das sieht nach Abendbrot aus: Ruth und Hans am Tisch, die Rücken rund. Und die Katze hat auch was.
Doppelseite Weiß.
Die beiden bei der Mahd. Hans an der Sense. Ruth am Rechen.
Der Kreiselheuer.
Sommer. Heuernte. 

Wüthrichs lassen ihre Zuckerrüben seit 1996 von einem anderen Bauern mit einem Vollernter ausfahren, die Ernte nach alter Methode mit viel Handarbeit ist für sie zu anstrengend geworden. Seit der Zuckerrübenverlad auf die Bahn in Kerzers eingestellt worden ist, müssen die Bauern ihre Rüben selbst in die Zuckerfabrik nach Aarberg bringen. Dazu braucht es grosse Wagen und entsprechende Traktoren, wie sie Wüthrichs nicht haben. Ihr Kontingent von 50 Tonnen wird nach der Pensionierung unentgeltlich an einen anderen Bauern übergehen. Zuckerrübenkontingente sind nicht verkäuflich, werden aber halblegal gegen Milchkontingente getauscht, 1999. © Tomas Wüthrich

Bauernhofarbeiten.
Im Bergwiesenheu mit selbstgemachtem Schutzhelm. (Das juckt und staubt sonst zu arg.)
Der Sohn hilft, einen Wagen zu schieben. (Körperkraft braucht es auf so einem Hof immer wieder.)
Doppelseite Weiß.

Hans auf dem Traktor, nah.
Rübenernte.
Bauernhofarbeit.
Ruth am Fahrrad.
Doppelseite Weiß.
Ein großer Heuhaufen im Stall.
Die Hofkatze.
Ruths Hände flechten einen Teig zum Zopf.
Hans auf dem Sofa, Augen zu.
Nachts auf dem Fahrrad.
Wieder ein dreckiges Stallfenster.
Ruth bei einer Kuh, die gerade kalbt.
Das Kalb, noch schleimhautverschmiert. 
Jetzt im Nest aus Stroh. Hans streichelt.
Doppelseite Weiß.
Die Beiden auf ihrem Traktor. Ein McCormick. (Hatte mein Vater auch.)

Die Beiden nah.
Beim Holzmachen im Wald.
Kleinholz machen, mit dem man den Herd anzündet. (Heißen in der Schweiz diese Reisig- und Ästebündel auch „Wellen“ wie bei uns im Allgäu?)
Es liegt Schnee.
Der Werkzeugschuppen.

Die Stiefel gehen nur schwer vom Fuß.
Sohn und Eltern – und der Vertrag.
Doppelseite Weiß.

Kerzers 1999/2000 – Reportage Hof Nr. 4233.

Und dann folgt allmählich das Ende.
Der Abtransport der Kühe.
Die Erschöpfung.
Die Resignation.

Hans zersägt den Kälberstall.
Das Ende einer Kultur.
Das Worte meinte einmal (nur) das Bebauen der Erde.

Peter Pfrunder gibt in seinem Nachwort „Ein Kuhschwanz als Geisel“ einen fundiert-konzentrierten Rückblick auf die Schweizer Fotografie bäuerlicher Welten, sinniert über Nähe und Distanz. So nah wie mit Thomas Wüthrich ist man dem Thema noch nicht gewesen. Als wäre es ein Film von Robert Bresson.

Große Verneigung.

Thomas Wüthrich: Hof Nr. 4233. Fotobuch mit Texten von Peter Pfrunder und Balz Theus. Verlag Scheidegger & Spiess, Zürich 202. Format 22.5 x 30 cm, gebunden. 73 Duplex-Abbildungen, 168 Seiten, 40 Euro.
Internetseite des Autors. Verlagsinformationen hier.

Der Stall ist frisch geweisselt. Kühe werden keine mehr einziehen, der Stall wird in Zukunft als Brennholzlager dienen, 2000. © Tomas Wüthrich

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