
1943 – der erste Kontakt
Ein Textauszug aus „Goldeneye“ – von Matthew Parker
An der Nordküste ließ ich ein kleines Haus errichten, das ich Goldeneye nannte. An diesem Ort, ja vielleicht sogar durch diesen Ort, sowie durch das Leben, das ich auf Jamaika führte, hat sich mein ganzes Dasein tiefgreifend verändert. (1)
– Ian Fleming, 1963
Juli 1943. In der jamaikanischen Hauptstadt Kingston findet eine britisch-amerikanische Marinekonferenz mit hochrangigen diplomatischen Vertretern statt. Deutsche U-Boote haben in der Karibik schwere Zerstörungen angerichtet und die Flotte der Alliierten empfindlich getroffen. Der Leiter der britischen Marineaufklärung entsendet seinen Assistenten Ian Fleming auf die Insel. Dieser soll dabei helfen, eine Lösung für das drängende Problem zu finden. Gerüchten zufolge hat der schwedische Millionär Axel Wenner-Gren, dem Verbindungen zu Hermann Göring nachgesagt werden, auf Hog Island, einer Insel der Bahamas, die sich in seinem Privatbesitz befindet, einen geheimen U-Boot-Stützpunkt errichten lassen. Um weitere Bedrohungen für die Schifffahrtsroute vom Golf von Mexiko nach Europa und Afrika abzuwenden, ist rasches Handeln erforderlich.
Fleming reist zusammen mit Ivar Bryce, einem Freund aus Kindertagen, der ebenfalls für den Geheimdienst arbeitet. Bryce will die Gelegenheit nutzen, um Fleming Jamaika zu zeigen, wo seine Frau kürzlich das Anwesen Bellevue gekauft hat, ein ehemaliges Herrenhaus einer Plantage, das rund 450 Meter oberhalb von Kingston liegt und wo die beiden während ihres Aufenthalts auch wohnen werden.
Fleming und Bryce treffen sich in New York und reisen von dort aus mit dem Schnellzug Silver Meteor nach Miami – dieselbe Fahrt, die später Bond und Solitaire in Leben und sterben lassen (Live and Let Die) machen werden (LSL, 171 f.). Von Miami fliegen sie nach Kingston, wo es »in Strömen goss und die Luft vor Hitze flirrte, wie in einem türkischen Hamam« (2). Die fünftägige Konferenz findet im Myrtle Bank statt, einem der größten und besten Hotels der Insel, das in Kingston direkt am Meer liegt. Doch dank Ivars Gastfreundlichkeit kann Fleming sich jeden Abend aus der schwülen Hitze der Stadt in die Abgeschiedenheit des höher gelegenen Bellevue zurückziehen.
Dort, in Bellevue, nimmt die Geschichte von Fleming und Jamaika ihren Anfang. Dort verliebt Fleming sich in die Insel, auf der seine berühmteste Schöpfung das Licht der Welt erblicken wird, eine Ikone der Popkultur: der britische Geheimdienstagent James Bond.
Mit einem geliehenen Auto fuhren Fleming und Bryce im Dauerregen durch die einsetzende Dunkelheit nach Half Way Tree (damals noch ein Vorort von Kingston), bogen von der Hauptstraße ab und schlugen einen steil ansteigenden, kurvigen Weg ein, »der einem Flussbett glich« (3). Nach »unzähligen Haarnadelkurven«, die mit sorgfältiger Fahrkunst gemeistert werden wollten, erreichten sie schließlich Bellevue. Im Inneren des Hauses brannte kein Licht, die Türen waren verschlossen und das Anwesen hatte offen- sichtlich schon bessere Zeiten gesehen. Sie machten sich durch Klopfen und Rufen bemerkbar, bis nach einer Weile die alte jamaikanische Haushälterin Elizabeth erschien, sie hineinließ und ihnen ein »zähes und fades« Hühnchen sowie »gewöhnungsbedürftige« Yamswurzeln vorsetzte. Alkohol gab es nicht, nur eine Flasche Grenadine, mit der sie sich an diesem ersten Abend begnügen mussten. Fleming nahm sein Glas mit der rosa schimmernden Flüssigkeit mit hinaus auf die Veranda und setzte sich so weit nach vorn, wie der Schleier des unaufhörlich niedergehenden Regens es erlaubte. Von dort aus blickte er in die wasserschwere Dunkelheit und hing seinen Gedanken nach.
Zweihundert Jahre lang waren Würdenträger, die die Insel besuchten, und hochrangige Kolonialbeamte vor der Hitze und der Feuchtigkeit der unterhalb liegenden Stadt in das Herrenhaus geflüchtet. Auch Admiral Nelson – den Fleming sehr bewunderte – hatte dort logiert. Seit damals war Bellevue durch die Hände zahlreicher Besitzer gegangen, und auf der dazugehörigen kleinen Plantage waren im Lauf der Zeit Kaffee, Piment, Ingwer, Avocados und Bananen angebaut worden. In Flemings Tagen erstreckten sich unterhalb des Anwesens, am Fuß der westlich gelegenen, rötlich schimmernden Hügel, weitläufige grüne Zuckerrohrfelder. Hinter dem Haus lag ein dicht mit tropischen Pflanzen bewachsener Garten, in dem auch eine Reihe Muskatnussbäume stand. Am östlichen Horizont er- hoben sich die Berge mit ihrem höchsten Gipfel, dem 2.256 Meter hohen Blue Mountain Peak, und von der Vorderseite des Anwesens bot sich eine faszinierende Aussicht auf Kingston, die Bucht und die azurblaue See.
Blanche Blackwell, geborene Lindo, später Flemings Geliebte und engste Freundin in Jamaika, kam Ende der 1920er-Jahre als Teenager zu Besuch nach Bellevue. Sie erlebte das Anwesen als einen außergewöhnlichen, aber auch bedrohlichen Ort. Sie erinnert sich noch gut an die »bezaubernden Anlagen«, die es umgaben, aber auch daran, dass das Haus eine »düstere Geschichte« hatte. Der Sage nach hatte sich einst eine junge Frau von dem Felsvorsprung am Rand des Grundstücks gestürzt. »Dort spukte es, ganz ohne Zweifel.«(4) Während ihres Besuchs versuchten Blanche und ihre Brüder, mithilfe eines Ouijabretts Kontakt zum Geist der Verstorbenen aufzunehmen.
Heute sind von dem ursprünglichen Gebäude nur noch die steinernen Partien zu sehen: die Küche, ein Regenbecken, die Grundmauern und eine Außentoilette. In den Räumen, die noch erhalten sind, hat sich ein Aufpasser eingenistet, der dafür sorgt, dass das Gestrüpp dem verrammelten Gebäude nicht zu nahe kommt. Ein Hund stromert über das zugewachsene Gelände, auf dem alle nur erdenklichen Früchte von den Bäumen fallen: Akipflaumen, Jackfrüchte, Kakaobohnen, Zimtäpfel und Breiäpfel. Nur wenige davon werden aufgelesen, und die herumliegenden Früchte wimmeln nur so von Wespen, Fliegen und krabbelnden Insekten. In der drückend heißen Luft liegt ein süßlicher, fauliger Geruch. Im rückwärtigen Teil des Anwesens steht inmitten von wild wucherndem Gestrüpp eine hässliche Ansammlung von Häusern, manche davon unfertig. Von der Vorderseite des Gebäudes bietet sich jedoch noch immer der Blick über Kingston. Der gegenwärtige Be-sitzer, ein leicht ungepflegter, blauäugiger, aber dunkelhäutiger Jamaikaner, kennt die angeblichen Spukgeschichten, betont jedoch, er glaube nicht an Geister, allerdings nicht ohne mit einem Augenzwinkern hinzuzufügen: »Woher wollen Sie wissen, dass ich kein Geist bin?
An den folgenden fünf Tagen fuhren Fleming und Bryce frühmorgens nach Kingston hinab, nahmen in der schwelen- den Hitze der Stadt an der Konferenz teil und machten sich in der Dunkelheit auf den beschwerlichen Rückweg hinauf nach Bellevue, wo mittlerweile der unentbehrliche Gin bereitstand, dazu »eine größere Auswahl an Speisen sowie Körbe voll schmackhafter, uns völlig unbekannter Früchte«(5). Nur das Wetter kannte kein Erbarmen. »Es schüttete wie aus Kübeln«, notierte Fleming. Bryce berichtete, dass »über Nacht kleine Pilze in unseren Lederschuhen wuchsen«. Er bedauerte, dass er Fleming nicht die ganze Pracht des Anwesens von Bellevue und der anderen »romantischen« Sehenswürdigkeiten der Insel zeigen konnte, von denen er ihm ausführlich erzählt hatte. »Ich hatte gehofft, Ian würde Gefallen an Jamaika finden und vielleicht bei uns wohnen, wenn der Krieg jemals ein Ende nähme«, schrieb er. Doch leider hatte Jamaika sich »von seiner abscheulichsten Seite gezeigt«(6).
Doch als auf der Rückreise ihr Flugzeug in den Himmel über Kingston stieg, schloss Fleming plötzlich seine Aktentasche und wandte sich an Bryce: »Ivar, ich habe eine weitreichende Entscheidung getroffen. Wenn wir diesen vermaledeiten Krieg gewonnen haben, werde ich mich auf Jamaika niederlassen. Ich werde auf Jamaika leben, die Insel in vollen Zügen genießen, im Meer schwimmen und Bücher schreiben.«(7)
Die viel gelobte Eröffnungsfeier der Olympischen Sommerspiele 2012 in London präsentierte den zahlreichen Fernsehzuschauern auf der ganzen Welt Szenen aus der britischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Dieser Bilderbogen stellte Großbritannien in einem ausschließlich positiven Licht dar – keine Spur von Kolonialgeschichte oder Sklaverei – und verfolgte unübersehbar das Ziel, eine bestimmte Vorstellung von Britishness zu bekräftigen, eine Mischung aus Verschrobenheit, Ideenreichtum und Toleranz, die wir alle guten Gewissens bejubeln konnten.
Den unumstrittenen Höhepunkt der Show bildete natürlich der Auftritt der Queen – zusammen mit James Bond. Die beiden großen britischen Anachronismen. In einem vorbereiteten Film war Bond zu sehen, wie er die Queen im Buckingham Palace abholt und mit ihr einen Hubschrauber besteigt. Dieser erschien kurz darauf am Nachthimmel, und zu den Klängen der wohl bekanntesten Erkennungsmelodie der Filmgeschichte sprangen Bond und ihre Majestät mit Fallschirmen in das Rund des Olympiastadions.
Das war eine witzige Idee und es war durchaus erstaunlich, dass die Queen sich bereit erklärt hatte, gemeinsam mit dieser fiktionalen Figur ersten Ranges in einer kurzen Sequenz aufzutreten, die sich über ihr Alter lustig machte und in deren Anschluss ihr Double mit einer Handtasche im Arm in das Stadion segelte. Doch als das Lachen ver- klungen war, vertrieben wohl auch von der ernsten Miene der echten Queen, die nun auf den Rängen erschien, dürfte sich so mancher Zuschauer am Kopf gekratzt und »ein zweites Mal hingeschaut« haben: Wie war es dazu gekommen, dass Ian Flemings James Bond zu solchen Weihen aufgestiegen und zu einer nationalen Ikone geworden war?
Der erste James Bond-Roman erschien 1953, im Jahr der Krönung Elizabeths II. Seitdem haben sich Flemings Bücher über sechzig Millionen Mal verkauft. Nun ließe sich einwenden, dass nicht die Bücher, sondern die Filme der Figur James Bond ihren Platz in der Gegenwartskultur verschafft haben. Aber wie John Pearson, Flemings Freund und erster Biograf, 2003 erläuterte, enthalten die Filme »überraschend viel von Ian. […] Es scheint geradezu, als habe Ians Persönlichkeit als unverrückbares Vorbild für alle James Bond-Filme gedient.«(8)
Mit Ausnahme der Queen hat nicht vieles aus Flemings 1940er- und 1950er-Jahren überlebt, einer Zeit, in der Großbritannien noch über ein Empire herrschte. Die meis- ten Elemente der damaligen Kultur haben wir seitdem über Bord geworfen: die Popmusik, die Künste, das Kino sowie – was von weitaus größerer Bedeutung ist – unsere Ansichten über Frauen, Sexualität und das Verhältnis der Rassen zueinander. Doch an Bond halten wir fest. Was sagt das über Fleming, und was sagt es über uns?
James Bond wurde nicht nur vor langer Zeit erschaffen, sondern auch an einem weit entfernten Ort. Von 1946 bis zu seinem Tod achtzehn Jahre später verbrachte Ian Fleming jedes Jahr zwei Monate in dem Haus, das er sich an der Nordküste Jamaikas gebaut hatte, an einer erhöhten Stelle, zu deren Füßen ein weißer Sandstrand sowie, nicht weit entfernt, ein Korallenriff lagen. Hier in Goldeneye entstanden alle Romane und Kurzgeschichten um James Bond. Dieser Ort ist die Wiege des patriotischen Helden der Kolonialzeit, durch dessen Taten Großbritannien wieder die Oberhand gewinnt und seine Macht in allen Winkeln der Erde festigt.
Das Jamaika der Kolonialzeit sowie der ersten Jahre der Unabhängigkeit liefert den farbenfrohen Schauplatz für drei der Romane und etliche Kurzgeschichten, doch auch fast alle anderen Bücher Flemings nehmen darauf Bezug. Seine eigenen Unterwasserabenteuer am Riff vor Goldeneye – ein beeindruckend schöner, aber auch gefahrenreicher Ort – dienten als Vorlage für einige der gelungensten Szenen in seinem Werk. Darüber hinaus hat der Charakter der Insel – ihre exotische Schönheit, die unvorhersehbaren Gefahren, ihre Schwermut sowie ihre Neigung zu Übertreibung und zu Schauermärchen und Melodrama – die Geschichten wesentlich beeinflusst.
Betrachtet man die »Zutaten«, die Fleming im warmen Schlafzimmer von Goldeneye zusammengemixt hat, um daraus Bond zu erschaffen – die Welt der Upperclass und des Jet-Set-Tourismus, in der sein Held sich bewegt, das ständig schwelende Rassenproblem, der dräuende Zerfall des Empire und der Niedergang der britischen Nation, die prekären neuen Beziehungen zu den Vereinigten Staaten, ja sogar der Kalte Krieg –, so führen all diese Spuren nach Jamaika.
1965, ein Jahr nachdem Fleming im Alter von nur 56 Jahren gestorben war, kam John Pearson zum ersten Mal nach Goldeneye. »Das hier ist ureigenstes Flemingland«, schrieb er in sein Notizbuch. »Dies ist der Ort, an dem er geschrieben hat, und über den er geschrieben hat. Hier ist sein Geist stärker als irgendwo sonst zu spüren.« Pearson mutmaßte, dass Fleming sich nur auf Jamaika »entspannen und ganz er selbst sein konnte«. Der Schriftsteller Peter Quennell, in den 1950er-Jahren häufig zu Gast in Goldeneye, hatte sich zehn Jahre zuvor ähnlich geäußert: »Auf Jamaika wirkte Ian, als fühle er sich dort ganz zu Hause – falls er sich jemals irgendwo wirklich zu Hause gefühlt hat.«(9)
Was Fleming mit diesem Ort verband, der für sein literarisches Schaffen von so immenser Bedeutung war, lässt sich nur verstehen, wenn man sich die einschneidenden Veränderungen vor Augen führt, denen die Insel zu der Zeit unterworfen war, in der sie, exemplarisch für viele andere Teile des Empire, einen grundlegenden Wandel durch- lebte und auch ihre Beziehungen zu Flemings Heimatland Großbritannien neu definierte. Denn Jamaika ist der Schlüssel für einen neuen, unvoreingenommenen Blick auf Fleming, Bond und das Verhältnis der Briten zu dieser nationalen Ikone.
Anm.:
1 Cargill (Hg.), Ian Fleming Introduces Jamaica, 11.
2 Bryce, You Only Live Twice, 69.
3 Bryce, 70.
4 Blanche Blackwell in einem Interview mit dem Autor, 13.3.2012.
5 Bryce, 71.
6 ebd.
7 Bryce, 72.
8 Pearson, The Life of Ian Fleming. London: Aurum Press 2003, 6.1 Amory (Hg.), The Letters of Ann Fleming, 53.
9 Quennell, The Wanton Chase, 152.
Veröffentlichung mit freundlicher Genehmigung des Verlages aus:
- Matthew Parker: Goldeneye. Ian Fleming und Jamaika – Wo James Bond zur Welt kam (Goldeneye. Where Bond Was Born: Ian Fleming’s Jamaica, 2014) Aus dem Englischen von Felix Mayer. Septime Verlag, Wien 2019. 504 Seiten, 26 Euro.